Zirkulation des Publikums

Verschwundene Dinge hinterlassen Spuren ihrer vergangenen Präsenz. Dafür braucht es nicht viel. Ein heller Fleck an der Wand, ein Kaufbeleg in einer leeren Plastiktüte, Schwermetalle im Schrebergarten, vielleicht ein flüchtiger Geruch oder eine merkwürdige Redewendung zeigen bereits an, dass da etwas gewesen sein muss. Es gehört zu den Schlitzohrigkeiten der Zeichen gegenwärtiger Absenz, dass nicht nur die verschwundenen Dinge selber, sondern auch die Spuren ihres Verschwindens sehr unterschiedliche Halbwertszeiten haben.

(Dieser Text ist im Februarheft 2023, Merkur # 885, erschienen.)

Manchmal tauchen sogar Spuren von Dingen auf, von denen gar niemand gewusst haben konnte, dass sie einmal existiert hatten. So kamen im Winter 1853/54 in der Uferzone des Zürichsees bei Meilen Holzpfähle zum Vorschein. Erwartet hatte sie niemand, vermisst schon gar nicht. Aber jetzt waren sie da, ragten völlig unmotiviert aus dem Boden, nur weil der See einen bemerkenswert tiefen Wasserstand hatte und man gerade damit beschäftigt war, ihm mit baulichen Maßnahmen etwas Land abzutrotzen.

Wahrscheinlich handelte es sich bei den Pfählen und dem, was in ihrer Nähe gefunden wurde, um Überreste einer prähistorischen, vielleicht keltischen Siedlung. Das war jedenfalls die Ansicht historisch geschulter Fachleute. Ferdinand Keller, der Präsident der Antiquarischen Gesellschaft in Zürich, zögerte nicht, sein Wissen in den Dienst der Deutungsarbeit zu stellen. Weitere Funde gaben ihm laufend Recht. Bald fanden sich andernorts ähnliche Spuren von dem, was Keller »Pfahlbausiedlungen« nannte. Am Neuenburgersee zum Beispiel oder in den Sümpfen bei Robenhausen am Pfäffikersee. Die bis vor kurzem gänzlich verschwundene Technik der Pfahlbauer, von der Keller mit einiger Anstrengung bei Herodot und in englischen Reiseberichten der 1830er Jahre über die Philippinen gelesen hatte, wurde zum Tagesgespräch.

Wenige Jahre nach der Gründung des Bundesstaats gab es gute Gründe dafür. Außer der Verfassung, einer funktionierenden Zollverwaltung und dem soeben gegründeten Polytechnikum hatte dieser Staat ja wirklich noch nicht viel zu bieten. Es fehlte ihm an fast allem, was eine richtige Nation des 19. Jahrhunderts brauchte. Ohne nationale Sprache, mit einem ziemlich unübersichtlichen Territorium (man denke nur ans Wallis, das Tessin und den Kanton Graubünden) und Einwohnern, die noch wenige Jahre zuvor mit Kanonen aufeinander losgegangen waren, ließ sich mit der Schweiz nur wenig Staat machen. Nicht einmal ihre Neutralität interessierte.

 

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