Kunst, du Holde. Ein Kulturtrip

Wie war dein Kultursommer? Die Frage verblüffte mich, obwohl niemand sie mir persönlich stellte, sie stand herausfordernd auf einem Plakat am hinteren Bahnsteig, wo es doch meistens um Reiseschokolade geht. Die Frage kam mir sinnlos vor, denn was sollte das Präteritum in einer Werbebotschaft, die nach vorne gerichtet sein sollte.

(Dieser Text ist im Februarheft 2023, Merkur # 885, erschienen.)

Ein Zug fuhr ein und verdeckte eine mögliche Auflösung durch kleiner Gedrucktes – ein Versprechen auf herbstliche Fortsetzung oder Großartiges im Winter.

Aber die Frage war nicht ganz verfehlt, wenn ich sie auf das bezog, was ich gerade hinter mir hatte, ohne es bisher bewerten zu können.

Ich hatte Fjodor Riethmüllers Theater im Süden des Landes besucht. Beim letzten Klassentreffen war, zwischen Leberknödelsuppe und Ochsenbrust, viel über Fjodor gesprochen worden, den großen Unberechenbaren aus der Parallelklasse, der wieder mal ein irres Projekt durchgezogen hatte.

Ich war also dahin gefahren, wo sich Bayern und Baden-Württemberg bis auf Gehwegbreite annähern, hatte mich mit Privatbahnen und halbleeren Autobussen bis zu meinem Ziel durchgeschlagen. Das Dorf lag leer und heiß in der Sonne, an seinem Ende fand ich einen inaktiven Bauernhof mit weißer Gebäudewand zur Straße. An dem gemauerten Durchgang mit der Inschrift »Hoftheater« versprach ein Pappaufsteller »Heute Schiller«.

Hinter dem Durchgang öffnete sich eine Gartenwirtschaft, Brauereistühle standen kippelig auf Kies, riesige Bäume kämpften zaghaft gegen die Hitze an, viele Leute saßen vor großen Tellern und hohen Gläsern. Mehr als die Entscheidung zwischen Weißbier und Weißweinschorle war an diesem Ort nicht verlangt. Die Gartenwirtschaft meiner Kindheit wurde hier aufgeblättert, gleich würde ich die weißen Kiesel vom Boden aufheben, den Sand durch die Finger rinnen lassen, kreischend ein Eis und eine Sinalco verlangen und am Sonnenschirmständer Herumschleudern spielen, bis mir schlecht würde.

Aber da knirschte schon Fjodor durch den Kies, hatte wohl meine Kartenanfrage entdeckt und tatsächlich! ausnahmsweise! noch einen Platz für mich gefunden, begrüßte mich, als sei es selbstverständlich, seines Theaters wegen solche Umwege zu fahren.

Wir sind schon die ganze Saison ausverkauft, sagte er mit Stolz in der Stimme und machte dabei ein betrübtes Gesicht.

Wie konnte das sein? Überall war die Rede davon, dass die Leute nach der Seuche nicht zurückgekommen waren, das Publikum in einem großen schwarzen Loch versackt war.

Wart’s ab, sagte er.

Sie spielten tatsächlich Schiller in der umgebauten Scheune, Kabale und Liebe vor einem adretten Publikum, das nach dem lokalen Essen und Trinken satt und entspannt wirkte, so wie auch ich mich fühlte. Das Stück dauerte vernünftige neunzig Minuten, das Bühnenbild zeigte eine möblierte Residenzstadt im 18. Jahrhundert, und der Text klang wie von Schiller. Er war von Schiller, ich begann mich an die Frühzeit meines Studiums zu erinnern, als es dann doch unumgänglich gewesen war, Texte im Original zu lesen. Jetzt kam es mir vor, als säße ich in einem Kleiderschrank, in dem nur vertraut riechende, schwach parfümierte Kleidungsstücke einer anderen Zeit hingen. Die Besetzung erschien mir äußerst vielfältig: Der Intrigant Wurm war ein so schönes Bild von einem Mann, dass ich die Augen nicht von ihm wenden konnte. Ferdinand war eine Person of Colour mit einem starken hessischen Akzent, Luise nach gängiger Vorstellung etwas zu klein und zu rund, sie rollte über die Bühne wie ein mittlerer Hokkaido-Kürbis, der Vater Miller hatte ein Problem mit den S-Lauten oder gab es (ein Regieeinfall?) nur vor, und Lady Milford schwebte arglos und souverän über allen denkbaren Geschlechtszuschreibungen. Alle anderen Rollen wurden von derselben mittelalten Frau gespielt, laut Programmheft hieß sie Kläre Riethmüller. Die Handlung entwickelte sich wie bekannt und zu erwarten. Die Leute klatschten endlos, gingen dann nickend und lächelnd aus dem Saal mit den roten Kinostühlen, strömten wieder in den Garten oder zu Omnibussen, die jetzt vor dem Tor standen.

 

(…)


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