Mit nur einer Schere

August in Niederbayern. Mit dem Rad, das meinem Großvater gehört hat, fahre ich tief in den Wald. Hier ist es nicht so heiß wie draußen, es hat wochenlang nicht geregnet. 2022 ist das Jahr Null der Klimakatastrophe. Ich fahre vor diesem Gedanken weg, an einen Ort, an dem ein Bach im Boden verschwindet. Zu dem Ort gibt es eine Legende: Der Geist einer reichen und geizigen Bäuerin sei dazu verdammt, hier umzugehen, weil sie mit ihren beiden Töchtern immer nachts Getreide von den Feldern der Nachbarn gestohlen haben soll. Die Geschichte steht auf einer Tafel im Wald, neben einem Marienbildstock, der zum Gebet auffordert.

(Dieser Text ist im Februarheft 2023, Merkur # 885, erschienen.)

Der Ort ist unscheinbar; kennt man ihn nicht, würde man auf dem Waldwirtschaftsweg daran vorbeilaufen: eine Waldlichtung wie viele, von oben betrachtet dreieckig, überwuchert von Indischem Springkraut. Jemand hat mit der Sense einen Weg durch das Gestrüpp geschnitten, bis zum Einfall selbst, einem kleinen Krater, ungefähr drei Meter breit und ebenso tief. Im Frühjahr bin ich schon einmal hier gewesen, weil ich an dieser Stelle vor drei Jahren junge Singdrosseln fotografieren konnte und sie erneut anzutreffen hoffte. Vor drei, vier Monaten sprudelte der Bach noch in einem kleinen Wasserfall in das Loch hinunter, lief noch zwei Meter durch Sand und Geröll, um dann in noch tiefere Schichten abzufließen. Nun ist der Krater trocken.

Ich gehe bachaufwärts, verschwinde zwischen den Stielen der Springkrautpflanzen, bis ich zehn Meter vom Krater entfernt die Stelle finde, in der das Wasser im Boden versickert. Der Bach ist nicht ausgetrocknet, er verschwindet nur ein paar Meter weiter vorn im Untergrund. An seinen Ufern jagen Blauflügel-Prachtlibellen, flirren glitzernd wie das Licht auf dem Wasser. Ich folge dem Bach weiter gegen die Laufrichtung und suche nach Süßwassermuscheln, die ich vor einigen Jahren hier gesehen habe, finde aber keine. Dafür schimpft mich ein Paar Sumpfmeisen aus, beide Vögel sind zu schnell für mich und meine Kamera. So bahne ich mir meinen Weg zurück zum Krater. Das ausgetrocknete Loch schockiert mich, weil auch der Fluss unserer Stadt nach wochenlanger Trockenheit sehr wenig Wasser führt. Ich weiß aber auch, dass der Bach schon im 19. Jahrhundert zeitweise völlig verschwunden war, sich unterirdisch neue Wege gesucht hat und dann wieder andernorts an die Oberfläche getreten ist.

(…)


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