Birdwatching: Postskriptum

Der Essay Birdwatching in Israel ist nach einer Reise im April 2022 entstanden. Viele Jahre zuvor hatte ich länger in Tel Aviv gelebt und war regelmäßig dort – nun kehrte ich nach einem längeren Unterbruch zum ersten Mal nach Israel zurück. Ich wollte das Land auf eine andere als die mir bislang bekannte Weise kennenlernen: Die Vögel sollten meinen Blick anleiten, mir eine neue Perspektive ermöglichen.

Lange war mir nicht klar, ob ich – weder Israel-Kennerin noch Ornithologin – den Text publizieren sollte. Schon damals war er mit dem Risiko verbunden, dass er, indem er die Einzelbeobachtung über die zusammenhängende Analyse stellt, der Komplexität der historisch-politischen Situation nicht gerecht werden würde. Als im Dezember 2022 das aktuelle nationalistische, religiös-fundamentalistische Regierungsbündnis um Benjamin Netanjahu an die Macht kam und die Demokratie wie nie zuvor gefährdet war, hielt ich den Text für vollkommen veraltet und aus der Zeit gefallen.

Es vergingen Monate, in denen die Justizreform Gesetz für Gesetz umgesetzt und Woche für Woche dagegen protestiert wurde, und langsam gelangte ich doch wieder zur Überzeugung, dass es gerade in Bezug auf Israel wichtig ist, auch die weniger beachteten Geschichten abseits der Tagesaktualität zu erzählen – so wie diese Geschichte einer Reise, die als harmlose Vogelbeobachtungsreise angefangen und sofort mitten in die Verstrickungen von Ökologie und Politik hineingeführt hat. Ich freute mich, dass die Redaktion des Merkur den Text publizieren wollte.

Dann kam die Zäsur des 7. Oktober 2023. Ein unglaublicher Schock, wie ich ihn mir nicht hätte ausmalen können. Ich versuchte, für die Freundinnen und Freunde in und außerhalb von Israel, die direkt davon betroffen sind, da zu sein. Inmitten des Chaos fiel mir irgendwann ein, dass da ja noch dieser Text über Israel war, der bald erscheinen sollte. Von der Merkur-Redaktion erfuhr ich, dass das Heft mit meinem Text jedoch schon vor dem 7. Oktober in den Druck gegangen sei – die Publikation ließ sich nicht mehr stoppen.

Selbst wenn auch diesen Herbst wieder viele Vögel über Israel hinwegziehen: Es gibt keinen unpassenderen Moment für diesen Text. Es schmerzt mich sehr, dass er genau in diesen Tagen erscheint, in denen Menschen grausam massakriert wurden, Geiseln gefangen gehalten werden, der Krieg ausgebrochen ist, die Gewalt auch in der Westbank eskaliert und der Antisemitismus auf der ganzen Welt sprunghaft ansteigt. Der 7. Oktober hat alles verändert, sodass jedes Wort einen anderen Klang annimmt und eine völlig andere Sprache und Schreib-Position notwendig wären, obwohl die im Essay erzählte Geschichte weiterhin auf ihre Weise gültig ist und obwohl ich glaube, dass auch in Zukunft diese Art der genauen Beschreibung wichtig sein wird gegenüber all den vorgefertigten Meinungen und vorschnellen Positionierungen.

Der unüberbrückbare Kontrast zwischen dem Birdwatching damals und dem Krieg heute zeigt mir: In den vergangenen eineinhalb Jahren ist alles auseinandergebrochen, was ich – auch in der schon lange hoffnungslosen Situation in Israel – noch für einigermaßen stabil hielt, und es ist alles eingebrochen, was ich nicht für möglich gehalten hätte. Die Melancholie, die mich auf der Reise im April 2022 begleitet hat, ist jetzt in große Trauer gewandelt.

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Claudia Keller, geb. 1984, Oberassistentin am Deutschen Seminar sowie Mitglied des UFSP „Global Change and Biodiversity“ an der Universität Zürich. 2018 erschien „Lebendiger Abglanz. Goethes Italien-Projekt als Kulturanalyse“.
claudia.keller@ds.uzh.ch