Israel und Palästina im deutschen Herbst

Übersicht

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BEYOND SHOCK & AWE

MORAL PANIC

MEIN FFF

GEGEN_BEKENNTNISSE

DOES CONTEXT MATTER?

WIR SIND ALLE FRAGMENTE

ERINNERUNGSLEITKULTUR


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BEYOND SHOCK & AWE   (Facebook, 9.10.2023)

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In einem bewegenden Posting schrieb Tomer Dotan-Dreyfus gestern, die einzige Abhilfe gegen die Sorge um seine israelischen Angehörigen habe im Lächeln seiner kleinen Tochter gelegen. Es wäre ein Leichtes gewesen, aus dieser Mitteilung eine politische Botschaft der Solidarität zu formen, sei es der Deutschlands mit Israel, sei es der aller Israelis gegen ihre Feinde. Aber das tat Tomer nicht. Stattdessen galt sein Mitgefühl den – von ihm selbst in Anführungszeichen gesetzten – »einfachen« Menschen, die auf beiden Seiten seit Jahrzehnten unter dem sogenannten Nahostkonflikt leiden. Was auf den ersten Blick wie die unangemessene Neutralität eines zwar nachvollziehbaren, aber letztlich bequemen Bothsideism erscheinen mag, war tatsächlich genau das Gegenteil. Denn es sprach kluge Zurückhaltung aus dieser Mahnung.

Sich in einem Moment des Schreckens vorbehaltlos menschlich, aber nicht plump politisch an die Seite Israels zu stellen: allein diese Differenzierung bewahrt ja die Bedingungen, unter denen sich die aktuelle Lage in all ihrer Kompliziertheit begreifen lässt. Und darum war das letzte und stärkste Wort von Tomers Text auch keine Aufforderung zur Solidarität, sondern zum Nachdenken. Sorge und Mitgefühl verweigern sich der Botschaft, um sich stattdessen mit einem nicht minder brennenden Problembewusstsein zu verbinden.

Ich weiß, es ist Facebook hier. Andererseits, Facebook ist nicht X, auf Facebook sind Denken und Diskurs möglich. Kein Mensch hat Lösungen im Moment, oder anders gesagt: Jede denkbare Lösung wäre so unrealistisch, dass sich dagegen Herzls zionistischer »Traum« wie ein kleiner Marathonlauf ausnähme. Aber wer sich nicht der falschen Alternative überlassen will, entweder eine Seite zu wählen und damit das Leid der anderen zu ignorieren oder das Leid auf beiden Seiten zu ignorieren und damit die eigene Seelenruhe zu wählen, der kann versuchen, zumindest keinen billigen Unsinn zu reden und das Problem in seiner ganzen Vertracktheit anzuerkennen. Soweit möglich, will ich ein paar Gedanken dazu beitragen. Ich lasse mir gerne widersprechen, aber bitte nicht auf dem Niveau hilfloser Parolen, von denen die deutsche Öffentlichkeit gerade geprägt ist. Lest ein bisschen Ha’aretz, Foreign Affairs und die New York Times, nehmt die folgende Problemskizze ernst, dann können wir gerne diskutieren.

1. Wenn klügere Stimmen jetzt von einem 9/11-Moment für Israel sprechen, scheint das kaum übertrieben. Man muss aber ausbuchstabieren, was das bedeutet. Terror ist ja nicht einfach nur »Barbarei«, es ist eine Taktik der Gewalt. Unsichere Machthaber nutzen sie, um Gefolgschaft zu erpressen, politische Bewegungen, um eine scheinbar stabile Herrschaft zu kopfloser Gegengewalt zu provozieren, komplizierte Zustände in die simple Logik des Krieges zu überführen und so für die eigene Sache zu mobilisieren. Als Methode in asymmetrischen Konflikten will der Terror chaotische Zustände, weil in ihnen die schwächere Seite an Stärke gewinnen, die stärkere dagegen viel, wenn nicht sogar alles verlieren kann.

Die Anschläge von 2001 haben die USA zu zwei sinnlosen Kriegen im Nahen Osten provoziert, die Billionen verschlungen, die ganze Region destabilisiert und am Ende nur ihre Feinde gestärkt haben. In Afghanistan sitzen die Taliban heute fester im Sattel als je zuvor. Und nach dem Zusammenbruch des Baathismus im Irak und seiner Schwächung in Syrien hat sich zwischen Iran und Libanon der »schiitische Halbmond« geschlossen. Begreift man als dessen ideologische Klammer aber nicht die Theologie, sondern Feindschaft gegen die USA und den »Zionismus«, nimmt sich Gaza gegenüber dieser Sichel in fast bizarrer Symbolik wie ein geopolitischer Venuspunkt aus.

Es ist kaum auszumalen, was der Region droht, sollte Israel auf die terroristische Attacke der Hamas ähnlich überstürzt reagieren wie seinerzeit die USA auf die Anschläge von Al-Qaida. Die besetzten Gebiete stehen seit Wochen am Rande einer dritten Intifada, und für die Hisbollah ist die Option eines massiven Raketenangriffs auf israelische Städte genauso Sache eines Risikokalküls wie ihre derzeitige Zurückhaltung.

2. Die Situation hat darin eine echte Tragik, dass die Grausamkeit der Angreifer kalter Berechnung folgt, während ihre unschuldigen Opfer Bürger eines kopflosen Staates sind. Denn wie auch immer Israel reagiert, ihm stehen nur Wege offen, die es sich in den letzten Jahrzehnten selbst verbaut hat. Akut steckt die Regierung Netanjahu in einem harten Dilemma. Die präzedenzlose Kombination aus Massaker und Geiselnahme erlaubt keine Rückkehr zur »bewährten« Methode der Vergeltung. Gezielte Luftschläge mit zivilen »Kollateralschäden« waren für Israel insofern risikolos, als sie politisierbare Bilder nur für die arabisch-muslimische Öffentlichkeit schufen. Sie erlaubten der Hamas, ihre Herrschaft zu stabilisieren, blieben aber für die westliche Welt und insbesondere Israel folgenlos.

Die jetzige Situation hingegen schafft nicht nur Bilder, vor denen die israelische Gesellschaft unmöglich die Augen verschließen kann – sie erzeugt auch eine Zwangslage, in der alle Reaktionen das Problem zu verschlimmern drohen. Keine Regierung der Welt kann tatenlos zusehen, wenn ihre Bürger zu Geiseln werden. Nichts zu tun würde in kürzester Zeit ihren Sturz bedeuten. Aber umgekehrt würde jedes Handeln bedeuten, das Spiel der Geiselnehmer zu spielen. Dass die Hamas wie in ähnlichen Fällen der Vergangenheit harte, aber erfüllbare Forderungen stellen wird, ist höchst unwahrscheinlich. Dafür war das Vorgehen zu brutal. Viel eher wird sie darauf spekulieren, dass Israel gar nicht anders kann, als eine Befreiung der Geiseln zu versuchen. Und dieser Versuch wäre nicht nur zum Scheitern verurteilt, er impliziert auch das Risiko einer Eskalation, die vermutlich alles in den Schatten stellen würde, was das Land und die Region seit 1967 erlebt haben.

Hundert Geiseln in einem Flugzeug kann man befreien. Aber an unbekannten Orten verstreut, in einer unübersichtlichen Stadtlandschaft im Häuserkrieg? Schwer vorstellbar. Am Ende einer solchen Operation stünde bestenfalls eine erneute Besatzung des Gaza-Streifens – und damit die Wiederbelebung eines Problems, das sich ja schon in der Vergangenheit als unlösbar erwiesen hat. Im schlechtesten Fall aber wird sich die Operation quälend lange hinziehen und dabei tagtäglich auf der einen Seite Bilder leidender und ermordeter Geiseln, auf der anderen malträtierter und getöteter Zivilisten produzieren und so Raketenangriffe der Hisbollah und bürgerkriegsähnliche Zustände im Westjordanland immer wahrscheinlicher machen.

3. Tatsächlich stellt sich die Situation für Israel aber noch komplexer oder, um es am Rand des sprachlichen Unsinns zu sagen, auswegloser dar, als der Begriff der Zwangslage allein es erfassen könnte. Denn das akute Dilemma gründet in einem strukturellen Trilemma. Und die – je nach Sichtweise – dritte oder erste Dimension der israelischen Ausweglosigkeit hat einen Namen: Es sind »die Palästinenser«. Hinter diesem Namen verbirgt sich einerseits eine extrem komplizierte Realität, andererseits fungiert er als eines der mächtigsten Symbole des politischen Diskurses nicht nur des Nahen Ostens und der arabisch-muslimischen Welt, sondern auch des globalen Südens und Westens, kurz: der Weltöffentlichkeit. Es zeigt sich nun, ähnlich wie am Beginn der ersten Intifada, nur ungleich dramatischer, dass alle Versuche Israels, das mit diesem Namen verbundene Problem aus der Welt zu schaffen – sei es durch Bekämpfung, Verdrängung, Abschottung, Marginalisierung, Propaganda oder Ignoranz – allesamt gescheitert sind.

Die Vorstellung, im sogenannten Nahostkonflikt stünden sich Israel und ein wahlweise »arabisch«, »palästinensisch« oder »muslimisch« genannter Widersacher gegenüber, war im Grunde immer schon falsch. Bereits in den Waffenstillstandsabkommen von 1949, spätestens aber 1979 mit dem Camp-David-Abkommen zeigte sich, dass die Grundstruktur dieses Konflikts letztlich nicht Israel und seine Feinde trennt, sondern Staaten, die wahlweise gegeneinander Krieg führen oder miteinander Frieden schließen können, auf der einen und ein staatenloses, auf Gerechtigkeit drängendes Volk auf der anderen Seite.

Seit sich die Hoffnung der palästinensischen Flüchtlinge, in ihre angestammte Heimat zurückzukehren, 1967 mit einem Schlag in Luft aufgelöst hat, ist ihr in rechtlicher wie politischer Hinsicht ungeklärter Status für die Staatenwelt des Nahen Ostens ein unversieglicher Quell der Unruhe. In Jordanien und im Libanon, den wichtigsten Fluchtzielen der Palästinenser, führten in der 70er und 80er Jahren staatliche bzw. einheimische Kräfte mit israelischer Unterstützung Bürgerkriege gegen die PLO und andere Organisationen der Palästinenser. Nach deren Niederlage und der – im Fall des Libanon notdürftigen – Wiederherstellung staatlicher Ordnung hat sich der Konflikt einerseits zurück auf das israelisch-palästinensische Kernland verlagert, andererseits internationalisiert.

Um seine gegenwärtige Struktur zu beschreiben, müssen daher mindestens zwei weitere Gegensätze berücksichtigt werden: innerhalb der Palästinensergebiete der Machtkampf zwischen Fatah, den Resten eines säkularen palästinensischen Nationalismus, und den militant islamistischen Bewegungen Hamas und Islamischer Dschihad, sinnbildlich verkörpert im Antagonismus zwischen (eingeschränkt autonomem) Westjordanland und (pseudo-souveränem) Gaza-Streifen. Und außerhalb Israels der Unterschied von autoritären Regimen mit hier dynastischer, dort revolutionärer Legitimation, sinnbildlich verkörpert im Antagonismus zwischen Saudi-Arabien und Iran.

In dieser hochkomplexen Konfliktlage lassen sich nun seit Jahren zwei komplementäre Dynamiken beobachten. Zum einen haben Israel und die arabischen Monarchien, unter Federführung der USA, den diplomatischen Prozess der sogenannten Abraham Accords in Gang gesetzt. Nach dem Muster der Friedensabkommen mit Ägypten (1979) und Jordanien (1994) folgen hier mehr oder weniger stabile Staaten einer Logik des wechselseitigen Nutzens. Die Vereinigten Arabischen Emirate und Bahrain haben eingesehen, dass ihnen wirtschaftlicher, politischer, touristischer und eventuell sogar militärischer Austausch mit Israel mehr nutzt als die Bewirtschaftung eines Kriegszustandes, der für den zionistischen Staat – um das Mindeste zu sagen – ein existenzsicherndes Patt etabliert hat. Und mittelfristig erscheint dieser Weg auch für Marokko, Saudi-Arabien, Qatar und andere Staaten gangbar. Doch wie vielversprechend er auch anmuten mag, es wäre irreführend, ihn als »Friedensprozess« zu bezeichnen, solange er nicht auch eine Lösung für die Palästinenser bereithält. Doch danach sieht es derzeit nicht aus. Vielmehr haben es die rechtspopulistischen Regierungschefs Trump und Netanjahu geschickt verstanden, den zwischenstaatlichen Friedenswillen propagandistisch gegen den Terror der Hamas und die Holocaustrhetorik von Abbas auszuspielen.

Dabei böte dieser Prozess tatsächlich eine Chance für den Frieden. Weil er einer diplomatischen Logik folgt, hätten die USA, erst recht im Verbund mit Saudi-Arabien, hier nämlich einen echten Hebel in der Hand. Dazu müssten sie ihre Vermittlung allerdings unter die Bedingung stellen, dass Israel in den palästinensischen Autonomiegebieten substantielle Zugeständnisse macht. Selbst Donald Trump hat es am Beginn des Prozesses ja geschafft, Netanjahu zu einer, wenn auch nur taktisch motivierten, kurzzeitigen Unterbrechung des Siedlungsbaus zu bewegen. Und wie Martin Indyk und Zeid Ra’ad Al Hussein kürzlich in einem bemerkenswerten Artikel in Foreign Affairs gezeigt haben, könnte Joe Biden, ein viel glaubwürdigerer Vermittler als Trump, eine Kehrtwende in der Besatzungs- und Siedlungspolitik tatsächlich zur Bedingung eines Abkommens zwischen Israel und Saudi-Arabien machen. Ja, ihrer Argumentation zufolge müsste man es sogar, wenn man den expansionistischen Bestrebungen der in Israel mitregierenden Rechtsextremisten noch einen Riegel vorschieben will. Der Artikel wurde am 2. Oktober veröffentlicht. Eine Woche später ist er entweder aktueller denn je – oder rettungslos veraltet. Vielleicht wächst gerade rapide die Einsicht, dass der Konflikt politisch gelöst werden muss, weil er sich nicht verwalten lässt. Vielleicht aber hat die Hamas der US-Regierung auch gerade das Heft des Handelns aus der Hand genommen.

Denn auf genau diese Möglichkeit des Friedens reagiert die zweite Dynamik mit einer gegenläufigen Logik. Wie unwahrscheinlich auch immer, allein dass ein diplomatischer Ausgleich zwischen Israel, den arabischen Monarchien, den USA und der Palästinensischen Autonomiebehörde (PA) theoretisch denkbar erscheint, zwingt Iran und Hamas zum Handeln. Der Zynismus der Abraham-Staaten liegt darin, dass sie am liebsten Frieden auf dem Rücken der Palästinenser schließen würden; sie tun so, als gäbe es sie gar nicht oder wenn, dann nur als lästige Unruhestifter. Das zynische Kalkül der Gegenseite funktioniert genau andersherum. Weil die durch und durch kaputten Regimes in Teheran und Gaza ihren Bevölkerungen nichts zu bieten haben als die Integrationsideologie des Antizionismus, brauchen sie palästinensisches Leid. Viel mehr als nur ein Kollateralschaden, sind zivile Opfer in Gaza für sie eine unverzichtbare symbolische Ressource, deren Bewirtschaftung nicht nur die Legitimität der eigenen Herrschaft sichert und den revolutionären Elan ihrer Trägergruppen befeuert, sondern auch die arabischen Monarchien erheblich unter Druck setzt. Denn so sehr man unter ruhigen Umständen dort zum Vergessen der Palästinenser tendiert, so wenig können die Herrscher ignorieren, dass auch ihre Bevölkerungen jederzeit durch anti-israelische Wut mobilisierbar sind. Eine Eskalation der Gewalt würde eine Flut an Bildern erzeugen, die palästinensische Zivilisten als Opfer israelischer Streitkräfte zeigt. Und diese Bilder asymmetrischer Gewalt hätten die Kraft, den symmetrischen Friedensprozess zwischen den Staaten zum Erliegen zu bringen.

4. Festzustellen, dass es für Israel derzeit keine gangbare Lösung gibt, heißt weder, der israelischen Gesellschaft die Verantwortung für die Katastrophe zuzuschieben, die sie gerade erleidet, noch die Schuld an der sich abzeichnenden Eskalation. Es heißt nur, was es heißt: dass das Land sich in einer Lage befindet, in der kein Ausweg erkennbar ist. Egal, was seine Regierung tut: Blockade von Gaza, Bodentruppen nach Gaza, maßvolle Zurückhaltung – ein einziges Video, das eine Geisel in verzweifelter Lage zeigt, würde sie entweder stürzen oder zu einem kopflosen Aktionismus zwingen, der am Ende, wie auch immer man es sich vorstellt, nicht gut ausgehen kann.

Statt mich in Verzweiflung zu ergehen, will ich aber zum Schluss lieber auf den Geist von Tomers Posting zurückkommen. Wenn es eine Hoffnung gibt, dann würde sie durch ein anderes Bild genährt. Es wäre nicht das Verlies im Inneren einer Pyramide, aus dem nur Sackgassen herausführen, sondern ein Labyrinth, dessen einziger Ausweg ein irdisches Wunder erfordert. Oder mit der Weisheit des Mythos gesprochen: den Faden einer liebenden Ariadne. Wenn wir uns Benjamin Netanjahu einmal allen Instinkten zuwider und auch gegen alle Wahrscheinlichkeit als Theseus vorstellen, also nicht nur als den gewieften Taktiker, der er zweifellos ist, sondern auch als strategisch denkenden Staatsmann, dann hätte er tatsächlich eine Option. Er könnte, theoretisch, mit dem Willen zum machbaren Wunder gesprochen, eine radikale 180-Grad-Wende aufs politische Parkett legen, gegen die sich die Kehre, die seine Vorgänger Rabin und Peres angesichts der ersten Intifada vollzogen haben, wie ein spielerischer Tanzschritt ausnähme. Bräche er mit seinen rechtsextremen Koalitionspartnern, um stattdessen mit Lapid und allen anderen Parteien, die arabischen eingeschlossen, ein Notstandskabinett zu bilden, dann – und nur dann – könnte seine Regierung eine doppelte Initiative ergreifen.

Zum einen könnte sie an die Hamas Signale der Entschlossenheit senden, die klarmachen, dass Israel sich weder der Erpressung beugt, noch zu sinnloser Eskalation provozieren lässt. Vermutlich würde auch das kaum einer Geisel das Leben retten. Aber im Zeichen nationaler Geschlossenheit könnte sich eine Regierung in aussichtsloser Lage einen tragischen Misserfolg leisten, ohne dass es ihr – zumindest von der nicht-fanatischen Mehrheit – als Versagen ausgelegt würde. Gegenüber den USA, den Abraham-Staaten, den israelischen Arabern, der PA und den Palästinensern im Westjordanland könnte eine solche Regierung zum anderen, parallel oder in einem zweiten Schritt, Verhandlungsbereitschaft signalisieren. Der Oslo-Prozess ist ja seinerzeit auch gescheitert, weil es auf beiden Seiten starke gesellschaftliche Kräfte gab, die seinen Erfolg nicht wollten. Netanjahu selbst hat damals den Widerstand gegen die Friedenspolitik zu seinen Gunsten innenpolitisch ausgeschlachtet und damit eine Atmosphäre geschaffen, die erst den Mord an Rabin ermöglicht hat. Aber der Preis für seinen Aufstieg war hoch. Und wäre er ein großer Staatsmann, würde er einsehen: Er war zu hoch. Heute regiert Netanjahu nicht nur, er führt eine Koalition an, in der rechtsextreme Minister die palästinensische Bevölkerung des Westjordanlandes unverhohlen vor die Alternative »Flucht oder Apartheid« stellen. Doch auch der einzige Ausweg hätte einen Preis, der so unermesslich wäre, dass man sich das entsprechende Szenario kaum realistisch ausmalen kann. Die israelische Gesellschaft müsste begreifen, dass die entscheidende Konfliktlinie nicht zwischen dem jüdischen Staat und seinen Feinden liegt, sondern zwischen Extremisten, die auf beiden Seiten das ganze Land für sich beanspruchen, und Menschen, die ebenfalls auf beiden Seiten mit dem Mute der Verzweiflung eingesehen haben, dass die Alternativen zu einem friedlichen Zusammenleben – wie auch immer es am Ende aussähe: zweitstaatlich, binational, föderal, you name it – allesamt katastrophal ausfielen. Aber auch die Alternative zur ewigen Fortschreibung des Konflikts wäre mit einer gewaltigen Hypothek belastet: dem Risiko eines israelischen Bürgerkriegs zwischen messianischen Siedlern und heroischen Realisten.

Nachdem ich mit Tomer begonnen habe, will ich unter Berufung auf zwei weitere Freunde schließen. Vielleicht hat der kantianische Philosoph Omri Boehm, der für seine zionistisch inspirierte Kritik des Zionismus so oft als Träumer verlacht worden ist, doch Recht. Vielleicht ist die einzig realistische Lösung für Israel utopisch. Und mit Wolfgang Herrndorf möchte ich der Welt zurufen: Zehn Euro für jeden, der uns einen anderen Ariadnefaden zeigt als die Utopie!


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MORAL PANIC     (Facebook, 26. 10. 2023)

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Während Deutschland gerade in moral panic* über »Neukölln« versinkt, versammeln sich die Stimmen der politischen Vernunft an der amerikanischen Ostküste. Dieser Tage die New York Times, The New York Review of Books oder Foreign Affairs zu lesen, fühlt sich an wie eine schnell wirkende Kopfschmerztablette. Es fehlt nicht mehr viel, und ich bin abhängig. Aber das wäre dann immerhin alternativlos. Man kann gar nicht hoch genug schätzen, dass der sogenannte Leader of the Free World von diesem Establishment getragen wird. Wenn es gerade eine Hoffnung gibt, dass der Nahe Osten nicht explodiert, dann heißt sie Joe Biden. Dessen ehemaliger Chef Barack Obama veröffentlichte heute einige »Thoughts on Israel und Gaza«, vor deren analytischer Klarheit und menschlicher Wärme sich das neurotische Geschrei hierzulande noch schmerzhafter ausnimmt. Noch wichtiger aber ist mir ein Artikel des NYT-Kolumnisten Thomas L. Friedman, auf den seinerseits Obama hingewiesen hat. Der Autor, ein erfahrenes journalistisches Schlachtross, schreibt am Ende:

I have never written a column this urgent before because I have never been more worried about how this situation could spin out of control in ways that could damage Israel irreparably, damage U.S. interests irreparably, damage Palestinians irreparably, threaten Jews everywhere and destabilize the whole world.

Lest ihn bitte. Langsam. Satz für Satz. Und dann noch einmal.

Elisabeth von Thadden schreibt in der Zeit:

Doch die Suche nach Stimmen palästinensischer Intellektueller, Autorinnen, Juristen ist gegenwärtig oft ergebnislos, wenn wir sie darum bitten, der deutschen Öffentlichkeit ihre Perspektive auf die Katastrophe im Nahen Osten darzulegen. Ein Anwalt bedauert, ihm fehle die Zeit, eine Schriftstellerin kann den üblichen Regeln eines Interviews nicht zustimmen, eine Journalistin gibt das Risiko zu bedenken, dem sie sich aussetzt, wenn sie in Deutschland spricht, ein Unternehmer, der im Westjordanland tätig ist, ringt mit den Worten. Es vergehen gegenwärtig auch Tage der ungeschriebenen und ungedruckten Texte. Manche der Absagenden zögern auch, zweifellos, um ihre Haltung zu überdenken und um sich nicht in den eigenen Milieus ins Abseits zu stellen. Einsamkeit ist im Krieg für niemanden angenehm. Es wird um Verständnis gebeten: Man sei erschöpft, habe keine Worte mehr. Danke, dass Sie uns fragen, heißt es dann, aber ein Gespräch, das die Würde wahrt, sei nicht möglich, es führe nach aller Erfahrung zu nichts. Unterdessen füllen die israelischen Kollegen, trotz des Schocks, unter dem sie seit den Massakern der Hamas stehen, unsere Seiten und halten dabei auch mit harter Kritik an ihrer eigenen Regierung nicht zurück. Dieses Unverhältnis ist verstörend, wenn man selbst noch immer der professionellen und kulturellen Überzeugung ist, dass wer den Worten nicht mehr traut, innerlich bereits stirbt. Kollabiert das Symbolische, so bleibt nur Gewalt.

Man sollte diese Sätze genauso langsam lesen wie die von Friedman. Und sich dann fragen, ob unsere Reaktionen auf die komplexe Realität, die wir in Chiffren wie »Neukölln«, »Parallelgesellschaft« oder »muslimischer Antisemitismus« verpacken, das Problem nicht nur verfehlen, sondern sogar verschärfen.

Wie es anders gehen kann, zeigt ein großartiger Text von Gerhard Hanloser (auf »ganzseitig« klicken, ist etwas versteckt). Er ist Lehrer an einer Berliner Schule. Er kennt das Problem in- und auswendig. Er wird es nicht alleine lösen können. Aber er zeigt uns einen Weg jenseits der Panik.

 

* Der Begriff »moral panic« mag in diesem Zusammenhang missverständlich klingen, daher kurz zur Erläuterung: Damit ist NICHT gemeint, dass sich in Neukölln und anderswo auf der Straße nicht eine Variante von Antisemitismus zeigt, die bedrohlich wirken und es auch tatsächlich sein kann. Es ist allerdings gemeint, dass dieses reale Problem sich zu einem Symbol verselbständigt hat, das den Blick auf die Wirklichkeit trübt und einen besonnenen Diskurs über bestimmte Fragen kaum noch zulässt. Das Phänomen scheint plötzlich so extrem bedrohlich, dass das Denken aussetzt und jeder Versuch der Erklärung, der Kontextualisierung, aber auch der Lösung (denn die setzt ja Verständnis voraus!) als Verharmlosung ausgelegt wird. In diesem Sinne würde ich behaupten, dass der Missstand des arabisch-muslimischen Antisemitismus in den letzten Wochen auf eine Weise dramatisiert worden ist, die als diskutable Reaktion fast nur noch repressive »Lösungen« zulässt. Es gab Tage, da überwog die Berichterstattung über »Neukölln« die über das Geschehen in Israel/Gaza, und nur ganz wenige Zeitungen schickten mal einen Reporter in die Hood, um mit den Leuten vor Ort zu reden; die Berliner Schulbehörde verbietet mittlerweile alle palästinensischen Symbole, die den Schulfrieden gefährden könnten, was zu willkürlicher Auslegung geradezu einlädt; pro-palästinensische Demonstrationen werden in vielen Orten im Keim erstickt oder gar nicht erst zugelassen; Friedrich Merz phantasiert über ein Israel-Bekenntnis beim Einbürgerungstest; die Vorschläge zu forcierter Abschiebung, Aberkennung von Staatsbürgerschaft usw. lassen sich kaum noch zählen; und da habe ich die letzte Kolumne von Sascha Lobo noch nicht einmal erwähnt.


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MEIN FFF     (Facebook, 26. 10. 2023)

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Kann man sich das ausdenken? Kaum fliegen Fridays for Future alle Herzen zu, weil sie nicht so bekloppt sind wie Last Generation, regt sich zarte Sympathie für Last Generation, weil diese jungen Leute sich einfach nur bescheiden da hinkleben, wo es das Zentralkomitee befiehlt, aber ansonsten wissen, wo ihr Kompetenzbereich endet: nämlich an der nächsten Bordsteinkante.

Greta und ihre Freunde hingegen haben die ewige Wahrheit entdeckt, dass sich der Nahe Osten umso leichter verstehen lässt, je weniger man dieses lächerliche Problemchen unter Kompetenzgesichtspunkten betrachtet. Die Medien des von »imperialistischen Regierungen« geführten Westens, so FFF International, verschwiegen ihren Lesern, dass die Geschichte Palästinas »vielschichtig, aber nicht kompliziert« sei, weil es »keine zwei Seiten« gebe, sondern nur Unterdrücker hier, Unterdrückte dort. Aber man soll auch nicht untertreiben, denn was heißt hier: Unterdrücker? »Dies ist«, so das Fazit, »kein Konflikt. Dies ist ein Genozid.«

Und von ausgerechnet wo kommt die Stimme der Vernunft? Ich sage ja, kann man sich nicht ausdenken: aus Deutschland! »Wir sind«, heißt es in einer Stellungnahme von FFF Germany, »uneingeschränkt solidarisch mit Jüdinnen und Juden, die weltweit und auch hier antisemitische Gewalt erleben. Wir sehen das Leid der Zivilbevölkerung und insbesondere der Kinder in Gaza. Unsere Herzen sind groß genug, all das gleichzeitig fühlen zu können.«

Dass mein Herz groß genug ist, um heftige Zuneigung zur deutschen, ach was, zu meiner FFF-Sektion zu empfinden, zeigt mir: Die Lage muss verdammt ernst sein.


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GEGEN_BEKENNTNISSE     (Facebook, 28.10.2023)

 

Anlässlich einer Bekenntnisaufforderung aus dem germanischen Literaturbetrieb:

1. Ich empfinde nichts für Gruppen.

2. Ich empfinde viel für einzelne Menschen.

3. Ich solidarisiere mich nicht mit Gruppen, außer sie kämpfen für ihre Rechte oder unverschuldet um ihre Existenz.

4. Ich solidarisiere mich erst recht nicht mit Staaten, außer sie kämpfen unverschuldet um ihre Existenz.

5. Ich frage mich, ob es zwei Literaturbetriebe gibt, einen für Sprachkunst und einen zur Herstellung von attributivem Partizipialbarock.

6. Jedenfalls frage ich mich, was die Verfasser eines Aufrufs, in dem von »in irgendeiner Form dem grassierenden Antisemitismus die Stirn bietende[n] Schweigen« die Rede ist, eigentlich beruflich machen. Mit der Herzen öffnenden, welterschließenden Kraft der Literatur kann es nichts zu tun haben.

7. Ich wundere mich nicht, dass von all den postmigrantischen Stimmen nahöstlicher Herkunft, die seit Jahren die deutsche Literatur rocken, keine den Aufruf der post-arischen Literaturvertreter unterzeichnet hat.

8. Ich glaube, dass der Ort für Empathie die persönliche Beziehung ist, nicht die Öffentlichkeit, und ihr Medium nicht das Bekenntnis, sondern das private Wort.

9. Ich glaube, dass weder Symbolpolitik noch Repression etwas gegen Antisemitismus ausrichten können, im Gegenteil: Beides fördert ihn.

10. Ich glaube, dass sich Konzepte wie »israelbezogener Antisemitismus« oder »muslimischer Antisemitismus« erst sinnvoll verwenden lassen, nachdem sie ideologiekritisch durchleuchtet und mit qualitativer Sozialforschung verknüpft worden sind.

11. Ich glaube, dass der Kampf gegen Antisemitismus nur Erfolg haben wird, wenn er sich mit dem Kampf gegen andere Diskriminierungsformen verbündet.

12. Ich glaube, dass sich Antisemitismus nirgendwo wirkungsvoller bekämpfen ließe als im Klassenzimmer.

13. Ich glaube, dass kein Mitglied des Deutschen Bundestages den Begriff »Staatsräson« definieren kann.

14. Ich halte sowohl den Text (750 S.) als auch den Titel (Der Wille zum Wesen. Weltanschauungskultur, charakterologisches Denken und Judenfeindschaft in Deutschland 1890-1940) meiner Dissertation für zu lang.

15. Ich habe die Jerusalem Declaration on Antisemitism (JDA) unterzeichnet.

16. Ich halte Philosemitismus für die zweitschlimmste Einstellung gegenüber Juden.

17. Ich glaube, dass es »DIE Juden« oder »DAS jüdische Leben« in Deutschland nicht gibt.

18. Ich glaube, dass unsere sog. Erinnerungskultur gerade unrettbar zusammenbricht und eine kritische Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus bis auf Weiteres nur noch in den NS-Gedenkstätten stattfinden wird.

19. Ich gebe die Hoffnung auf bessere Zeiten nicht auf, solange NEVER AGAIN IS NOW und FREE PALESTINE FROM GERMAN GUILT sich noch zu einem Schlachtruf vereinen können – STEINMEIER, HALT’S MAUL!

20. Im Übrigen meine ich, dass das Amt des Antisemitismusbeauftragten in Bund und Ländern ersatzlos abgeschafft werden muss.


 

DOES CONTEXT MATTER?    (Facebook, 30.10.2023)

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Mein scharfes Statement gegen den offenen Brief des sog. Literaturbetriebs hat neben großer Zustimmung auch einige Irritationen ausgelöst. Ob die Polemik wirklich sein müsse. Ich sei doch sonst immer so sachlich. Ob ich die Meinung und die gute Absicht der Unterzeichner nicht einfach hätte respektieren können. Überhaupt, was ich denn eigentlich sagen wolle. Ja sogar, ob meine Wut mir nicht etwas über mich selbst zu sagen habe, wurde ich gefragt. Alles in – mehr oder weniger – freundlicher Tonlage, genauso wie die vielen Anmerkungen und Fragen, die sich auf einzelne Punkte meines Postings bezogen.

Ich bin für diese Reaktionen dankbar. Und ich bin auch ein wenig stolz auf meine Crowd. Während anderswo gerade verbal alle Dämme brechen, wurde mein heftiger, sicher auch verletzender Spott hier eher staunend als aggressiv quittiert. Insgesamt hat die Resonanz auf mein bekenntnishaftes Anti-Bekenntnis bei mir den Eindruck hinterlassen, dass es einen gewaltigen Aufklärungs- und Redebedarf gibt. Wie beginnen? Wenn ich die Kommentare jenseits von Dank und Zustimmung mal zusammenfasse, dann laufen sie für mich auf eine Frage hinaus: Warum in aller Welt hat gerade dieser Brief dich so getriggert? Ich will eine Antwort versuchen. Weil sie lang, sogar sehr lang ausfallen wird, sei ihr ein kleiner Teaser vorangestellt.

Die folgenden Überlegungen werden auf die Behauptung hinauslaufen, dass die Solidarität mit der palästinensischen Sache in Deutschland zwar massenhaft existiert, aber sprachlos ist. Es gibt einen lauten Diskurs über diese Solidarität, aber sie selbst spricht nicht, oder wenn, dann fast unhörbar leise. Das Problem ist alles andere neu, doch scheint es mir bisher nur von anderen und vor allem anderswo beschrieben worden zu sein. Zum Beispiel von Edward Said, der in einem Gespräch mit Salman Rushdie Mitte der 1980er Jahre folgende Anekdote erzählte. Anlässlich irgendeines Vorfalls im Nahen Osten wurde Said zusammen mit dem stellvertretenden Botschafter Israels in ein amerikanisches Fernsehstudio eingeladen. Zu Beginn teilte der Moderator den Zuschauern mit, dass Edward Said und Botschafter Netanjahu (yes, it’s him) nicht bereit seien, im Gespräch direkt miteinander zu diskutieren. Said entgegnete, das treffe nicht zu. Er sei durchaus bereit, mit Netanjahu zu reden, aber umgekehrt gelte das nicht.

– So, Mr. Ambassador, why aren’t you willing to talk with Professor Said?
– Because he wants to kill me.

1. Context matters. Ein Brief, der sich am 27. Oktober mit Israel und den Juden solidarisiert, kommt drei Wochen zu spät. Wäre die Aufforderung zur symbolischen Solidarität am 8. Oktober formuliert worden, als die Welt und insbesondere die jüdische Welt unter Schock stand, während auf der Sonnenallee gefeiert wurde, hätte man ihr nachkommen können oder nicht. Sie hätte jedenfalls keinen Anlass zur Kritik geboten. Und das moralische Urteil, das nie einen Kontext braucht, hätte in seiner Eindeutigkeit für sich stehen können: Erstens, es gibt keine Rechtfertigung für ein terroristisches Massaker. Zweitens, wer Mörder, Folterer, Sadisten, Vergewaltiger und Geiselnehmer bejubelt, hat jede moralische Glaubwürdigkeit verspielt. So einfach hätte es sein können. Aber so einfach ist es leider nicht mehr.

Denn inzwischen ist die moralische Eindeutigkeit des Attentats von der unerbittlichen Logik des Krieges eingeholt worden. Spätestens seit der Totalblockade des Gaza-Streifens, eigentlich aber schon, seit der israelische Verteidigungsminister dessen Bevölkerung als »human animals« bezeichnete, hat sich das lokale Verbrechen untrennbar mit dem internationalen Megakontext des Nahostkonflikts verknüpft. In rasender Geschwindigkeit wurde das moralische Urteil über das Massaker vom Langzeitgedächtnis dieses Konflikts verdrängt. Wobei es der Singular nicht trifft. Denn tatsächlich haben wir es mit ZWEI Langzeitgedächtnissen zu tun, zwei symbolischen Erzählungen, die sich hermetisch gegeneinander verschließen, um die eigene Seite ins Recht, die andere ins Unrecht zu setzen.

Ich will diese identitätsstiftenden Erzählungen im Folgenden Mythos nennen. Doch präziser wäre die Bezeichnung: politischer Mythos. Denn den Mythos, dem wir den Begriff verdanken, den griechischen, muss man von dem hier gemeinten unbedingt unterscheiden. Wo jener die Zirkularität des Denkens und Handelns als Problem erkennt und daher zur Tragödie und zur Philosophie drängt, ist dieser Mythos ein Medium der schlechten Unendlichkeit. Und wo die Moral keinen Kontext braucht, da muss die historische Selbsterzählung, um machtvoll zu bleiben, sich zwanghaft gegen alle Kontexte abschotten.

2. Context doesn’t matter. Israel ist für die meisten seiner Bürger und Juden in aller Welt der Staat, durch den ein zweitausend Jahre andauernder Zustand der Wehrlosigkeit – von der Tempelzerstörung 70 n. Chr. bis zum Holocaust – sein Ende gefunden hat. Und wie jede Nationalsymbolik kennt auch die israelische nur die mythologische Ewigkeit. Weil sich die Institutionen der Gegenwart in den Figuren der Vergangenheit spiegeln, erscheinen die Israeli Defense Forces (IDF), deren Unbezwingbarkeit seit 1967 fester Bestandteil der nationalen Selbsterzählung ist, als heroische Wiedergänger der Makkabäer, der Verteidiger von Masada, der Aufständischen im Warschauer Ghetto. Und umgekehrt sind die Feinde Israels, bis 1973 die arabischen Staaten, in Gegenwart und jüngster Vergangenheit palästinensische Terroristen und islamistische Milizen, Wiedergänger der Seleukiden, der Römer, aber natürlich vor allem der Nazis. Ein kurzer Streifzug durch die aktuelle Bilderwelt der sozialen Medien genügt, um zu begreifen, wie mächtig dieser Mythos der ewigen Selbstverteidigung auch die gegenwärtige Selbstwahrnehmung strukturiert. Israel erscheint als kleine blau-weiße Insel im grünen Meer der muslimischen Welt, die von Marokko bis Indonesien reicht. Die Leichen des 7. Oktober liegen neben denen von Bergen-Belsen und Auschwitz. Und das Meme der Stunde ist ein Foto, auf dem Mohammed Amin al-Husseini, der Mufti von Jerusalem, einträchtig neben seinem Gastgeber Adolf Hitler sitzt. Die Botschaft des israelischen Mythos ist klar: Seit es existiert, sieht sich das kleine Volk der Juden in einem asymmetrischen Kampf mit der Vernichtungsabsicht seiner mächtigen Feinde konfrontiert.

3. Context doesn’t matter. Wenn es eine Tragik des Nahostkonflikts gibt, dann liegt sie darin, dass der palästinensische Mythos eine ähnliche Struktur hat wie der israelische. Auch hier findet ein Volk seine Identität, indem es sich selbst als Opfer eines übermächtigen Feindes entwirft. Anders als die Israelis blicken die Palästinenser jedoch auf keine vieltausendjährige Geschichte zurück – sie haben es auch nie geschafft, ihre Feinde zu bezwingen. Und so begreifen sie sich selbst als ein Kollektiv, das seit Anfang des 20. Jahrhunderts durch eine Koalition aus jüdischen Siedlern und imperialistischen Großmächten Stück für Stück von seinem Heimatboden vertrieben und verdrängt worden ist, um heute zersplittert, marginalisiert und eingepfercht im besetzten Westjordanland und im »Freiluftgefängnis« Gaza von der Willkür Israels und den Zuwendungen der internationalen Gemeinschaft abhängig zu sein. Ein zweiter Unterschied liegt darin, dass sich die Palästinenser, weil ihre Sache ein ums andere Mal erfolglos war, in immer wieder neuen Figuren des Kampfes entwerfen und in immer neue Heldenkostüme schlüpfen müssen. Als Aufständische gegen die britische Mandatsherrschaft und in der ersten Intifada waren sie Wiedergänger der katholischen Iren; als Aufständische gegen die jüdische Besiedlung Verbündete der SS; als Fedayyin Kopien des Vietcong, als PLO der anti-imperialen Nationalbewegung Algeriens; und heute evozieren sie entweder mit dem Szenario des Apartheidstaates den schwarzen Befreiungskampf in Südafrika, oder mit dem Szenario des Dschihad den Befreiungskampf der muslimischen Welt gegen den Westen. Und auch hier ist, bei aller Vielfalt der Motive, die Botschaft klar: Seit es existiert, sieht sich das kleine Volk der Palästinenser in einem asymmetrischen Kampf mit einem übermächtigen Gegner konfrontiert: dem Zionismus.

4. Context doesn’t matter. Weil mit dem ungelösten Konflikt seit über hundert Jahren auf beiden Seiten unzählige Erfahrungen einhergehen, die das eigene Narrativ zu bestätigen scheinen, ist das aktuelle Geschehen nach einem kurzen Moment des moralischen Schocks wieder fest in der Hand der nahöstlichen Doppelmythologie. Wo die einen den Vernichtungswillen der Hamas und die schlimmste Massengewalt gegen Juden seit der SHOAH sehen – da sehen die anderen eine Luftwaffe, die Kinder tötet, und die größte Zwangsumsiedlung von Palästinensern seit der NAKBA. Mythos bedeutet in diesem Zusammenhang eben nicht Fiktion, sondern: Deutung. Man begreift ein schwer auszuhaltendes Geschehen, indem man es wiedererkennt. Das ist menschlich. Und eigentlich ist es gut. Im Krieg aber, insbesondere wenn er kein begrenztes Ziel verfolgt, nähren sich die gegenläufigen Mythen aneinander und erschweren, gerade weil sie so zwingend erscheinen, das Umdenken, eine Neudeutung, ohne die es keinen Frieden geben kann. Warum nicht?

Nichts entkräftet den Mythos zuverlässiger als die Frage nach den Gründen eines Unglücks. Sie zu stellen hieße, nach den vielfältigen Ursachen, Verflechtungen, Bedingungen, kurz: nach Kontexten des Krieges zu suchen – vor allem aber, sich auf den Kontext aller Kontexte einzulassen: die Perspektive des Feindes. Doch der Mythos immunisiert sich selbst gegen diese Versuchung, indem er das Bündnis mit der kontextlosen Moral sucht. Und so endet die zentrale Frage nach der Ursache immer wieder nur im logischen Zirkel: Schuld ist der Täter. Und wenn es auch einzelne sein mögen, die das Verbrechen begehen, das Kollektiv des Täters scheint mitschuldig, weil es ihn gewähren ließ. Die manifeste Opfererfahrung verhindert die Reflexion über die eigene Verstrickung in das Geschehen, der Mythos der Mitschuld das Mitgefühl mit dem feindlichen Kollektiv. Auf beiden Seiten.

5. Context matters. Was hat all das mit uns zu tun? Sehr viel. Der Doppelmythos des Nahostkonflikts ist eine der mächtigsten Symbolwelten der globalen Gegenwart. Er kann in unterschiedlichen Kontexten Bedeutung erzeugen und Sinn stiften. Die arabisch-muslimische Welt und die Länder des globalen Südens erkennen im palästinensischen Mythos ihren post-kolonialen Kampf gegen die Übermacht des Westens wieder. Der Westen wiederum ist zerteilt in solche Gruppen, die sich in Konfrontation mit dem »barbarischen« Islamismus und der Feindseligkeit »unzivilisierter« Kulturen und/oder in schuldbewusster Reflexion über die eigene Judenfeindschaft im israelischen Mythos wiedererkennen; und in solche, die sich protorevolutionär in Konfrontation mit dem kapitalistischen way of life und/oder in schuldbewusster Reflexion über die eigene Kolonialgeschichte mit dem palästinensischen Mythos identifizieren.

Als würden diese zwei Varianten des Doppelmythos nicht schon genug Unübersichtlichkeit stiften, wird die symbolische Lage noch komplizierter, wenn man zudem die innere Struktur der westlichen Gesellschaften in den Blick nimmt. Denn diese können sich selbst nicht nur als Ganzes – sei es konfrontativ oder schuldbewusst – in Opposition zur »islamischen Zivilisation« und/oder dem »globalen Süden« begreifen. Sie sind auch hochdivers, funktional ausdifferenziert und von multiplen Konfliktlinien durchzogen. So hängt die Neigung zur einen oder anderen Seite auch von der sozialen Lage und der politischen Position ab. Die Rechte tendiert zu Israel, die Linke zu den Palästinensern, wobei sie aber mittlerweile auch in dieser Frage gespalten ist; der Kulturbetrieb wiederum hat eine Schlagseite zur Israelkritik, Wirtschaft und politische Klasse zur Israelsolidarität; postmigrantische Milieus aus der arabisch-muslimischen Welt erkennen – neben der kulturellen Verbundenheit – im palästinensischen Mythos oft die eigene prekäre Lage wieder; einwanderungskritische Milieus der Mehrheitsgesellschaft sehen sich umgekehrt durch die arabisch-muslimische Feindseligkeit gegen Israel in ihren Vorurteilen bestätigt.

6. Context matters. Und was hat das mit Deutschland zu tun? Sehr viel. Von allen westlichen Ländern ist keines so tief in die Doppelmythologie des Nahostkonflikts verstrickt wie Deutschland. Der Grund liegt auf der Hand. Weil Deutschland das Land des Holocaust ist, unterhält die Bundesrepublik eine seit dem sog. Wiedergutmachungsabkommen von 1952 immer weiter ausgebaute Sonderbeziehung zu Israel, die neben diplomatischer, wirtschaftlicher, militärischer und geheimdienstlicher Zusammenarbeit immer schon auch eine sozio-kulturelle, um nicht zu sagen: ideologische Dimension besaß. Wie hältst du es mit Israel? – diese Frage hat im Gefolge von »1968« auch den politischen Diskurs der Bundesrepublik geprägt. Dass sie heute jedoch eine Bedeutung angenommen hat, vor der die Kulturkämpfe der 60er und 70er verblassen, hat jüngere Ursachen.

Zum einen haben die Konfliktparteien im Nahen Osten seit dem Scheitern des Friedensprozesses und dem Beginn der zweiten Intifada ideologisch und moralisch aufgerüstet. Man könnte auch sagen: Die die in den 90er Jahren noch vorhandene Bereitschaft, den Konflikt in seinen politischen und historischen Kontexten zu begreifen, ist auf beiden Seiten weitgehend verstummt. Während man für die palästinensische Sache zunehmend im Zeichen eines anti-rassistischen bzw. post-kolonialen Kampfs gegen »Apartheid« kämpft, wird von israelischer Seite die Feindseligkeit der arabisch-muslimischen Welt im Allgemeinen, der Palästinenser im Besonderen immer rigoroser als Ausdruck von »Antisemitismus« gedeutet. Zum anderen hat sich die deutsche Gesellschaft in den letzten Jahren rapide globalisiert. Nicht nur massenhafte Einwanderung aus nicht-europäischen Ländern, auch die weltweite Vernetzung durch soziale Medien und transnationale Subkulturen haben den Nationalcontainer der Bundesrepublik wenn nicht gesprengt, so doch rissig gemacht. An undichten Stellen regnet die Weltgesellschaft, an einigen Lecks dringt sie regelrecht in unsere gute Stube ein.

Im gleichen Zeitraum hat aber zudem die bis in die 80er Jahre hinein eher anlassbezogene Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit Züge einer Zivilreligion angenommen. Auf der Suche nach einer neuen nationalen Identität scheint es, als wollten sich die post-arischen Deutschen in ihrem zweiten Nationalstaat durch das Holocaustgedenken ihrer moralischen Läuterung vergewissern. Es ist ihnen aber bis heute nicht klar, wie tiefgreifend sich die Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit durch die Institutionen und Monumente der sog. Erinnerungskultur verändert hat. Die Vielzahl der Opfergruppen und die historische Einheit des Tatzusammenhangs, die für Wissenschaft und die Geschichtskultur der 80er und 90er Jahre noch zentral war, stehen heute zunehmend im Schatten einer einseitigen Fokussierung auf den Holocaust. Und die historische Erforschung des Nationalsozialismus als Tätergesellschaft und des Zweiten Weltkriegs als einem integrierten Gewaltgeschehen, die in den 90er noch in voller Blüte stand, ist mittlerweile zum Orchideenfach geworden. Zumindest in Deutschland. Denn während bei uns die NS-Geschichte allmählich verödet, hat die englischsprachige Forschung sie längst welthistorisch geweitet. Vom Reflexionsniveau eines Mark Mazower, Donald Bloxham, Mark Levene, Adam Tooze oder Christian Gerlach können die deutschsprachigen Kollegen derzeit nur träumen.

Die ebenso kritische und – wie jede Aufklärung – offene Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit steht heute im Schatten einer ebenso ritualisierten wie theatralischen Beschwörung von Geschichte. Und diese Akzentverschiebung hatte ihren Preis. Im gleichen Maße, wie der Massenmord an den europäischen Juden aus seinen Kontexten isoliert und zum erinnerungspolitisches Dogma verdinglicht wurde, hat sich der Blick auf die »Lehren der Geschichte« verengt. Das »Never again!« – als Beifang des von Jimmy Carter geprägten Menschenrechtsidealismus aus den USA importiert und zum Losungswort der Bundesrepublik erkoren – ist in den letzten Jahren immer stärker identitätspolitisch interpretiert worden. Aus dem demokratischen »Nie wieder Diktatur«, dem pazifistischen »Nie wieder Nationalismus und Krieg«, dem universalistischen »Nie wieder rassistische Diskriminierung« wurde zunehmend »Nie wieder Auschwitz« – eine Losung, deren oszillierende Bedeutung kaum noch jemand bemerkt. Was lange im Sinne Primo Levis als radikale Zerstörung von Menschlichkeit oder im Sinne Hannah Arendts als »Verbrechen gegen die Menschheit, begangen am jüdischen Volke« gedeutet wurde – das wird heute nicht nur in Israel, wo es Sinn stiftet, sondern auch in Deutschland, wo es die Sinne verwirrt, auf die partikularistische Formel »Nie wieder Antisemitismus« und damit um seinen universalistischen Gehalt gebracht. In Israel lässt sich diese Formel im Sinne der zionistischen Staatsräson deuten: Nie wieder wir! In Deutschland dagegen führt sie in die Sackgasse des Philosemitismus: Nie wieder ihr! Wenn heute in Büchern oder Artikeln von »deutscher Erinnerungskultur« die Rede ist, dann werden die Cover und Zeitungsseiten fast zwanghaft mit einem Foto des Holocaustmahnmals illustriert. Und wenn der Antisemitismusbeauftragte der Bundesregierung seinem Amt im Zeichen »unserer hart erarbeiteten Erinnerungskultur« Gravität verleihen will, lässt er sich zwischen den Betonstelen des Denkmals für die ermordeten Juden Europas fotografieren.

Wir haben es also mit einem doppelten Prozess zu tun. Auf der einen Seite hat sich in der Berliner Republik die politische Elite und ein gewichtiger Teil der Mittelschicht notdürftig, unbeholfen, aber allerbesten Willens auf das partikularistische Holocaustgedenken als Minimalkonsens des zweiten deutschen Nationalstaats verständigt. Im Verbund mit einem ebenso floskelhaften wie dramatischen Bekenntnis zur Sicherheit Israels als »Teil der deutschen Staatsräson« hat das zwar nicht intendiert, aber dafür umso zwingender dazu geführt, dass das Erbe des Nationalsozialismus heute ganz anders interpretiert wird als noch vor 30 Jahren. In einer atemberaubenden dialektischen Volte ist aus einem Anlass zur deutschen Selbstaufklärung eine Verstrickung in den israelischen Mythos geworden.

In scharfem Kontrast dazu steht der zweite Prozess. Massenhafte Zuwanderung aus der arabisch-muslimischen Welt, aber auch zionismuskritischer Israelis und israelkritischer Juden haben zusammen mit transnational organisierten Subkulturen – vor allem dem Kunstbetrieb, einigen kulturwissenschaftlichen Disziplinen sowie Protestbewegungen wie Black Lives Matter (und, wer hätte das gedacht, Fridays for Future) – dem palästinensischen Mythos zu einer starken Präsenz in Deutschland verholfen. Doch was symmetrisch klingt, ist es nicht. Während nämlich die Identifikation mit Israel fraktionsübergreifend in der politischen Klasse (Stichworte: Staatsräson, BDS-Resolution), im Journalismus (Stichworte: Springer, F.A.Z., Springer, Sascha Lobo, Springer, taz) und in der Zivilgesellschaft (Stichworte: Zentralrat der Juden, Deutsch-Israelische Gesellschaft, Antisemitismus-Definition der IHRA, antideutsche Zellen) verankert ist, hat die Offenheit für die palästinensische Perspektive, von Identifikation ganz zu schweigen, in Deutschland einen höchst prekären Status. Dass hier wie dort ideologisch argumentiert wird, ist trivial. Nicht trivial ist dagegen die Asymmetrie der Konsequenzen. Wenn ich mich selbst zitieren darf:

Beide Seiten betreiben Propaganda. Aber: Sie sind nicht gleich stark. Einseitige Parteinahmen für die Palästinenser können in Deutschland voraussetzungslos des israelbezogenen Antisemitismus bezichtigt werden. Und weil der Vorwurf mit zirkulärer Logik seine Begründung als Gewissheit voraussetzt, finden Vorwürfe in die Gegenrichtung kaum Gehör. Denn sie werden nicht nur voraussetzungslos, sondern unter den Voraussetzungen eben jener Seite wahrgenommen, gegen die sie sich richten. Die Behauptung, die Besatzung der palästinensischen Gebiete habe ein Apartheidsystem etabliert, gilt dann nicht als fragwürdig oder diskutabel, sondern als antisemitisch, weil es Israel ›delegitimiert‹; die Kritik des Zionismus als Siedlungskolonialismus mit rassistischer Grundlage nicht als fragwürdig oder diskutabel, sondern als antisemitisch, weil es Israel ›dämonisiert‹; die Forderung nach einem Rückkehrrecht für die Vertriebenen nicht als fragwürdig oder diskutabel, sondern als antisemitisch, weil ihre Erfüllung zu einer Majorisierung der jüdischen Bevölkerung führen würde und sie damit ›das Existenzrecht Israels infrage stellt‹ usw. Man hat es also nicht mit einer Symmetrie aus Meinung und Gegenmeinung zu tun, sondern mit einem ideologischen Gefälle, an dessen oberen Ende die eine Seite ihr Wissen pausenlos herabrollen lässt, während die andere ihr alternatives Wissen gegen einen Steinschlag aus Vorwürfen hinaufwuchten muss.

Wer das für eine Behauptung hält, möge die Probe aufs Exempel machen. Wie viele Vertreter der israelischen Seite haben mit Ächtung oder ihrem Job bezahlt? Kein einziger. Es stimmt, dass v.a. in einigen Segmenten des internationalen Kunstbetriebs pro-palästinensische Stimmen derzeit überrepräsentiert sind bzw. israelische Künstler gar nicht erst eingeladen werden. Doch das liegt in der Natur der Sache. Wer kuratiert, setzt Schwerpunkte und trifft eine Auswahl. Aber er betreibt keine Diskriminierung. Auf der anderen Seite jedoch findet sie statt. Peter Schäfer, ein international renommierter Judaist, musste als Chef des Jüdischen Museums Berlin zurücktreten, nachdem Benjamin Netanjahu (!) eine Jerusalem-Ausstellung als zu palästinenserfreundlich kritisiert und kurz darauf eine Mitarbeiterin einen offenen Brief verlinkt hatte, in dem jüdische (!) Wissenschaftler Kritik an einer aus ihrer Sicht zu israelfreundlichen Antisemitismusdefinition üben; Nemi El-Hassan, eine Journalistin mit palästinensischen Wurzeln, wurde vom WDR de facto entlassen, nachdem eine anti-islamische Plattform öffentlich gemacht hatte, dass sie als Jugendliche mit Hidschab an einem Protest gegen die Bombardierung von Gaza teilgenommen hatte; zahllose Veranstaltungen und Kulturereignisse wurden abgesagt, exemplarisch seien genannt: ein zionismuskritischer Workshop an der Kunsthochschule Weißensee (organsiert von einer Israelin), ein Stück am Metropoltheater München (eines palästinensischen Autors), eine Preisverleihung auf der Buchmesse (an eine palästinensische Autorin), eine Konferenz der Bundeszentrale für Politische Bildung (organisiert von einer Südafrikanerin und einem Amerikaner, beide jüdischer Herkunft). Zu diesen besonders prominenten Fälle gesellen sich die Medienskandale um die Ruhrtriennale 2020, die documenta 15, die Konferenz »Hijacking Memory«, die Dauererregung über »BDS-Kontakte«, den »importierten Antisemitismus« aus der muslimischen Welt usw. usw. Die Asymmetrie der Konsequenzen ist ein präzises Spiegelbild der asymmetrischen Kräfteverhältnisse in Israel und Palästina.

7. Context matters. Aber was hat all das mit der aktuellen Lage zu tun? Sehr viel. Wie jede ideologische Hegemonie wird auch diese von denjenigen, die sie ausüben, gar nicht bemerkt. Man findet die eigene, einseitige Sicht auf die Dinge einfach normal. Und nicht nur das, man hält sie auch für moralisch wertvoll. Nirgendwo aber ist die Identifikation mit Israel stärker moralisch aufgeladen als in Deutschland, wo das »Nie wieder!« inzwischen ausbuchstabiert wird als Stolz auf ein wiedererwachtes »jüdisches Leben« und als Kampf gegen den »israelbezogenen Antisemitismus«. Damit keine Missverständnisse aufkommen: Das eine ist so erfreulich wie das andere nicht zu tolerieren. Dass sich im Land des Holocaust wieder über 200.000 Jüdinnen und Juden aus allen Himmelsrichtungen niedergelassen haben, ist ein kleines Wunder. Und im Übrigen auch ein Zeichen dafür, dass sich in Deutschland seit 1945 ein paar Dinge zum Besseren verändert haben. Umgekehrt gibt es nichts zu beschönigen, wenn auf pro-palästinensischen Demonstrationen »Tod den Juden« und »Juden ins Gas« skandiert wird, oder wenn sichtbare Juden bzw. jüdische Einrichtungen durch Angriffe, Schmierereien und Brandsätze in Haftung für israelische Missstände genommen werden. Das Problem liegt aber nicht nur in diesem offensichtlich skandalösen Zustand. Viel weniger offensichtlich, um nicht zu sagen: unsichtbar, liegt es auch darin, dass die palästinensische Sache jenseits ihrer hässlichen Fratze in der deutschen Öffentlichkeit so gut wie gar nicht vorkommt. Dazu gleich mehr.

Sehr wohl bemerkt wird die ideologische Hegemonie, die unselige Verschmelzung von Erinnerungskultur und Israelidentifikation, dagegen von all jenen, die um des Friedens in unserem Land – aber auch im Nahen Osten – willen bemüht sind, BEIDE Seiten zu sehen, ihre tragische Verschränkung zu verstehen und den Geist der Versöhnung in die Gesellschaft zu tragen. Weil er sich ständig mit dem Vorwurf konfrontiert sieht, durch »Äquidistanz« das Problem des Antisemitismus zu verharmlosen oder gar mit ihm gemein zu machen, ist schon der Versuch anstrengend. Und absurderweise trifft dieser Vorwurf nicht zuletzt Israelis und Juden, die sich kritisch-selbstkritisch mit Israel auseinandergesetzt und vom israelischen Mythos emanzipiert haben – weswegen sie auch bereit sind, den Kontext aller Kontexte in den Blick zu nehmen: die palästinensische Perspektive. Ich will hier keine Namen nennen. Aber allein die Zahl der öffentlich sichtbaren dürfte dreistellig sein. Dass man sich in Deutschland gegenüber der Ambiguitätstoleranz dieser jüdisch-israelischen Position intolerant oder bestenfalls gleichgültig zeigt, belegten gerade wieder die Reaktionen auf einen offenen Brief, in dem eine Reihe namhafter Philosophinnen, Wissenschaftler, Künstlerinnen und Schriftstellern jüdischer Herkunft die repressive Gangart gegenüber pro-palästinensischen Versammlungen beklagte. Dieser Brief wurde weitgehend ignoriert. Und nicht immer war es mit Ignoranz getan. So schrieb etwa ein germanischer »Freund« auf Facebook, er könne hier nichts als »jüdischen Selbsthass« erkennen; andere nannten den Brief antisemitisch. Ich denke mir das nicht aus. Es sind leider ganz alltägliche Erscheinungsformen einer deutschen Neurose, die den meisten gar nicht auffällt.

Vor allem aber wird die ideologische Hegemonie, die unselige Verschmelzung von Erinnerungskultur und Israelidentifikation, von denjenigen bemerkt, die sich mit den Palästinensern verbunden fühlen oder mit dem palästinensischen Mythos identifiziert sind. Hierfür kann es politische Gründe geben. Doch meist sind sie persönlicher Natur. Deutschland ist die Heimat der europaweit größten palästinensischen Diaspora-Gruppe, die etwa 200.000 Menschen umfasst. Zudem ist Deutschland die Heimat von Millionen Menschen, deren Wurzeln im Nahen und Mittleren Osten liegen. Und Deutschland ist die Heimat von weiteren Millionen, die aus anderen Regionen des globalen Südens zu uns gekommen sind. Viele dieser Menschen haben, sei es herkunftsbedingt, sei es aus religiöser Solidarität, sei es aus Solidarität mit einem Volk in prekärer Lage ein hypersensibles Gespür für das Schicksal der Palästinenser sowie ein detailliertes Wissen über den Alltag im besetzten Westjordanland, die Lebensverhältnisse im abgeriegelten Gazastreifen und die messianische, offen rassistische Umdeutung des zionistischen Projekts. Dass sie nicht ganz so sensibel für die zahllosen strategischen Fehler, die terroristische Gewalt, die islamfaschistische Despotie der Hamas und die antisemitischen Implikationen des Antizionismus sind, ist genauso unbestritten wie das Versagen der arabischen Staaten, die populistische Instrumentalisierung anti-israelischer Ressentiments und die fanatische Israelfeindschaft Irans.

Das allgemeine Problem der deutschen Gesellschaft liegt aber gar nicht, wie nahezu einstimmig behauptet, in der Existenz bzw. der Leugnung all dieser Missstände. Es liegt in der asymmetrischen Zuweisung kollektiver Verantwortung. Man könnte auch sagen: im doppelten Standard. Denn während sehr laut und zu Recht geklagt wird, wenn Juden hierzulande in Haftung für die Verfehlungen Israels genommen werden, genügt auf pro-palästinensischen Demonstrationen ein einziger Schrei, der die berechtigte Solidarität und die legitime Kritik zur Judenfeindschaft hin überschreitet, um die palästinensische Sache als Ganzes zu diskreditieren. Oder um eine Menge, die aus unterschiedlichen Richtungen zusammenkommt, in erpresserischer Manier zur Distanzierung von einem Terrorismus zu zwingen, den die meisten Demonstranten genauso wenig unterstützen wie die meisten Juden Besatzung und Besiedlung des Westjordanlandes.

Das besondere Problem der pro-palästinensischen Stimmen liegt nun aber nicht nur darin, dass man sie in Deutschland nicht hört. Sondern dass man, erstens, nur die lauten Stimmen auf der Straße wahrnimmt. Dass, zweitens, die deutsche Mehrheitsgesellschaft nicht bereit ist, die Stimmen zu unterscheiden: nämlich den antisemitischen Hass, die blinde Wut auf Israel von dem nicht minder starken, aber komplizierteren Ausdruck des Mitleids, der Hilflosigkeit und der Trauer angesichts eines unverschuldeten Leids, das jedem Menschen, der es an sich heranlässt, das Herz brechen muss. Und dass, drittens, all die nicht von Hass, sondern von Empathie und Solidarität erfüllten Menschen sich von einer exzessiv einseitigen Gesellschaft vorhalten lassen müssen, einseitig zu sein.

8. Context matters. Und was hat all das mit dem deutschen Literaturbetrieb zu tun? Sehr viel. Die bisher beschriebenen Zustände sind deutsche Normalität. Sie ist nicht schön, aber irgendwie haben sich alle in ihr eingerichtet, die einen selbstgerecht, die anderen unzufrieden und wütend. Seit dem 7. Oktober aber erleben wir einen Exzess nicht nur der Einseitigkeit, sondern auch der Selbstgerechtigkeit. Und wenn wir nicht höllisch aufpassen, erleben wir darum bald auch einen Exzess der Wut. Nach einem kurzen Moment der moralischen Eindeutigkeit, in dem wohlmeinende Menschen aus allen Richtungen vereint waren im Entsetzen über das Massaker der Hamas und den Jubel auf der Sonnenallee, herrscht wieder Krieg im Nahen Osten. Und da nach dem grausamen Verbrechen an jüdischen Zivilisten nun auch dieser Krieg vor allem auf dem Rücken der Zivilbevölkerung ausgetragen wird, sind beide Mythen, der israelische wie der palästinensische, voll entflammt und im gegenläufigen Ausdruck von Trauer und Wut vereint. Die Frage nach der Schuld spielt dabei überhaupt keine Rolle. Sie ist, anders als beim Verbrechen, viel zu kompliziert, um sich inmitten des Geschehens eindeutig beantworten zu lassen. Es geht einzig und allein um die Berechtigung all der starken Gefühle, die sich in jedem Krieg, aber besonders in diesem immer und immer wieder regen. In welche Richtung sie sich neigen, ist wie jedes Gefühl eine Sache von Schicksal und Zufall. Mit beiden Seiten zu fühlen erfordert im Krieg eine fast übermenschliche Kraft. Wer sie aufbringt, verdient Bewunderung. Doch fordern kann man sie nicht. Und wenn man menschliche Solidarität mit den Opfern eines Verbrechens erwarten kann – die politische Solidarität mit einem Staat im Kriegszustand zu fordern, läuft auf Nötigung hinaus.

Zum Exzess der deutschen Moral gehört aber nicht nur die einseitige Forderung nach Ausgewogenheit. Es gehört dazu auch die Skandalisierung und die Verzerrung der Einseitigkeit. Ich habe irgendwann aufgehört, die Berichte über den Antisemitismus in »Neukölln« zu zählen. Jedenfalls stand deren Zahl in einem grotesken Missverhältnis zu den ganz wenigen Reportagen, die versuchten, sich eine Innenansicht zu verschaffen. Die einfach mal mit Leuten sprachen. Und ihnen zuhörten. Diese seltenen Versuche machten unfassbar leise, verzagte und unsichere Stimmen hörbar, die – oft erst nach einem Wechsel ins Arabische – keinerlei Sympathie für die Hamas zeigten, aber zugleich zum Ausdruck brachten, wie schwer es ihnen fällt, ihrer deutschen Umwelt das eigene Anliegen zu vermitteln. Und warum? Weil sie ständig in Haftung genommen werden für Untaten, mit denen sie sich nicht identifizieren, während sie zugleich Missbilligung erfahren für eine Identifikation, die sich nicht in Solidarität mit Israel übersetzen lässt. Jouanna Hassoun, eine Sozialwissenschaftlerin palästinensischer Herkunft, die zusammen mit ihrem jüdischen Kollegen Shai Hoffmann an deutschen Schulen Aufklärung in Sachen Nahostkonflikt betreibt, äußerte sich in einem Radiointerview kürzlich im gleichen Sinn. Es sei äußerst schwierig, öffentlich Solidarität und Empathie mit der Zivilbevölkerung in Gaza zu zeigen, ohne sich zugleich für diese Gefühle rechtfertigen zu müssen. Ein Gespräch auf Augenhöhe, so konnte man ihrer Schilderung entnehmen, sei praktisch nicht möglich, wenn die normale Haltung der Umwelt nicht in der Bereitschaft zum Zuhören, sondern der Forderung von Bekenntnissen besteht. Und diese erpresserische Haltung verbindet sich mittlerweile mit dem immer stärkeren Ruf nach Repression. Pro-palästinensische Versammlungen wurden reihenweise aufgelöst oder gar nicht zugelassen. Palästinensische Symbole sind an Berliner Schulen de facto verboten. Die Forderungen nach forcierter Abschiebung, leichterer Aberkennung der Staatsbürgerschaft oder einem Israel-Bekenntnis beim Einbürgerungstest werden schriller, der Widerspruch gegen diesen Populismus der Mitte immer leiser.

Das Tragische an der moralischen Panik liegt nicht zuletzt darin, dass sich moderate, aber selbstbewusste, differenzierte und zugleich konfliktbereite Stimmen im Namen der palästinensischen Sache gar nicht entwickeln können. Kaum jemand ist bereit, sich einen missverständlichen oder auch nur irritierenden Satz wochenlang um die Ohren hauen zu lassen oder den eigenen Ruf dadurch zu ruinieren, dass man schlichte Selbstverständlichkeiten ausspricht. Elisabeth von Thadden brachte diese Not in einem Artikel in der ZEIT gerade beklemmend auf den Punkt:

[D]ie Suche nach Stimmen palästinensischer Intellektueller, Autorinnen, Juristen ist gegenwärtig oft ergebnislos, wenn wir sie darum bitten, der deutschen Öffentlichkeit ihre Perspektive auf die Katastrophe im Nahen Osten darzulegen. Ein Anwalt bedauert, ihm fehle die Zeit, eine Schriftstellerin kann den üblichen Regeln eines Interviews nicht zustimmen, eine Journalistin gibt das Risiko zu bedenken, dem sie sich aussetzt, wenn sie in Deutschland spricht, ein Unternehmer, der im Westjordanland tätig ist, ringt mit den Worten. Es vergehen gegenwärtig auch Tage der ungeschriebenen und ungedruckten Texte. Manche der Absagenden zögern auch, zweifellos, um ihre Haltung zu überdenken und um sich nicht in den eigenen Milieus ins Abseits zu stellen. Einsamkeit ist im Krieg für niemanden angenehm. Es wird um Verständnis gebeten: Man sei erschöpft, habe keine Worte mehr. Danke, dass Sie uns fragen, heißt es dann, aber ein Gespräch, das die Würde wahrt, sei nicht möglich, es führe nach aller Erfahrung zu nichts. Unterdessen füllen die israelischen Kollegen, trotz des Schocks, unter dem sie seit den Massakern der Hamas stehen, unsere Seiten und halten dabei auch mit harter Kritik an ihrer eigenen Regierung nicht zurück. Dieses Unverhältnis ist verstörend, wenn man selbst noch immer der professionellen und kulturellen Überzeugung ist, dass wer den Worten nicht mehr traut, innerlich bereits stirbt. Kollabiert das Symbolische, so bleibt nur Gewalt.

9. Context matters. Kollabiert das Symbolische, bleibt nur Gewalt – ganz so dramatisch würde ich es nicht ausdrücken. Aber doch so: Kollabiert die Sprache, bleiben nur Spruchbänder und Phrasen. Und, finally, apropos Sprachkollaps: Meine Kritik am offenen Brief des deutschen Literaturbetriebs bezog sich nicht, wie mehrfach unterstellt, auf die Peinlichkeit, dass er in einem unsäglich schlechten Deutsch verfasst worden ist. Das Unvermögen liegt viel tiefer, nämlich in einem doppelten Verrat an der Literatur. Die Sprache ist das eine. Viel schwerer aber wiegt der Umstand, dass hier Schriftsteller nicht das getan haben, was ihr Beruf gewesen wäre, nämlich Unsichtbares sichtbar, Leises hörbar, Kompliziertes lesbar zu machen, sondern im Gegenteil das Offensichtliche aufgeblasen, Gräben vertieft und ideologische Verhältnisse legitimiert haben. Dass das in lauterer Absicht geschah, macht das Versagen nicht leiser.

Wenn sich deutsche Schriftsteller in einem Moment der Not solidarisch an die Seite ihrer jüdischen Mitbürger stellen, dann wäre das aller Ehren wert – wenn sie nicht gleichzeitig die Not aller jener verschleiern würden, die sich mit dem Leid der Menschen in Gaza solidarisieren. Und das ist eigentlich noch zu wenig gesagt. Denn während post-arische »Deutsche« gegenüber »den Juden« in einem kostenlosen Reenactment das nachholen, was ihre arischen Vorfahren 1933 leider zu tun versäumten, bleibt eine dritte Gruppe in ihrem Leid unerwähnt, von ihren Erfahrungen ganz zu schweigen. Und auch das ist noch zu wenig gesagt. Denn sie kommt ja vor, aber leider nur in einer Form, die man auf Englisch »token« nennt: als Repräsentant einer Gefahr – für Juden. Und erst mit dieser dritten Gruppe, die als Träger einer »importierten« Judenfeindschaft codiert wird, ist die historische Farce komplett. Deutsche schützen Juden vor Antisemiten – hurra, besser zu spät als nie!

Und wenn das, um die Kernschmelze unserer Erinnerungskultur komplett zu machen, dann auch noch mit einem Aufruf zur Solidarität mit Israel verbunden wird, hört sich sogar der Gegenslogan zu »Never Again is now« plötzlich halbwegs vernünftig an: Free Palestine from German guilt. Es bleibt ein Slogan, dessen Verstrickung in den palästinensischen Mythos unbestreitbar ist. Aber dass es sich um eine »postkoloniale« Variante der neurechten Hetze gegen den »Schuldkult« handelt, wie ausnahmslos alle Kommentatoren behauptet haben, kann nur sagen, wer sich wirklich absolut überhaupt nicht für die Wirklichkeit interessiert, die er gerade zu beschreiben vorgibt. Dass keinem einzigen Juden in Deutschland, abgesehen von einem kurzen Moment der Dankbarkeit, den manche vielleicht empfinden mögen, damit in irgendeiner Weise geholfen ist: geschenkt. Aber dass damit die Verstrickung in die Mythologie des Nahostkonflikts vertieft und die Logik des Krieges in die deutsche Gesellschaft getragen wird: Das ist eine unverzeihliche Perversion der Moral.

Und auch hier gilt: Wer das für eine leere Behauptung hält, mache die Probe aufs Exempel. Die Soziologie des Briefs ist von erschütternder Eindeutigkeit. Initiiert von zwei post-arischen Deutschen, haben mittlerweile fast 700 – angebliche – Mitglieder des deutschen Literaturbetriebs den Brief unterzeichnet. Dass sich darunter auch viele jüdische Autoren befinden, ist nachvollziehbar und kein Anlass zur Kritik. Dass die überwiegende Mehrheit sogenannte Kartoffeln sind, deren Vorfahren vor 80 Jahren als deutsche »Volksgenossen« galten, muss man niemandem zum Vorwurf machen. Aber dass sich unter den Unterzeichnern praktisch keine Namen nahöstlicher Herkunft befinden, ganz zu schweigen von der vollständigen Abwesenheit der vielen postmigrantischen Autorinnen und Autoren aus dem Nahen Osten, die seit Jahren die deutsche Literatur beleben: Das ist beklemmend. Und es ist kein Zufall. Was sich in diesem Brief zeigt, ist nicht die deutsche Gesellschaft. Und schon gar nicht die deutsche Literatur. Was sich zeigt, ist eine klaffende Lücke. Das Schweigen der Dritten, die Abwesenheit all jener, die sich mit der palästinensischen Sache identifizieren und ja, auch mit dem palästinensischen Mythos – dieses Schweigen ist dröhnend.

10. Context doesn’t matter. Es klingt so schrecklich banal, und zugleich wie ein Ruf aus dem hintersten Winkel des Weltalls. Der einzige Ausweg aus der Wiederholung des Mythos, der Verstrickung in die Tragödie und dem ewigen Zirkel des Krieges liegt im Willen zum Frieden. Wer das für naiv oder im schlechten Sinne utopisch hält, der möge sich gewissenhaft nach den Alternativen fragen. Und dann möge sie sich das verlinkte Video ansehen. Es zeigt, wie anfangs erwähnt, ein Gespräch zwischen Salman Rushdie, dem gerade, gewissermaßen aus dem Innersten des Literaturbetriebs, der Friedenspreis (!) des Deutschen Buchhandels (!) verliehen wurde, und Edward Said, der leisesten, zartesten, klügsten, humorvollsten, kritischsten, menschlichsten, kämpferischsten und friedlichsten Stimme, die Palästina je hervorgebracht hat. Wir sollten nach Frieden streben. Aus Sorge um uns selbst, um unser Land. Aber auch aus Solidarität mit Israel, um seiner Sicherheit und um des Lebens der Geiseln willen.


 

WIR SIND ALLE FRAGMENTE     (Facebook, 2.11.2023)

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In einem Kommentar auf Facebook hat mein Freund Behzad Karim Khani kürzlich gezeigt, was es in diesen Tagen bedeutet, solidarisch mit Juden zu sein. Anders als der offene Brief unserer Schriftstellerkollegen nahelegte, bedeutet es nicht, ein öffentliches Bekenntnis zu »den Juden in Deutschland« oder gar zu »Israel und den Juden« abzulegen. Ein Bekenntnis, das niemandem wirklich hilft, aber dafür sehr wirksam das eigene Gewissen sediert. Dass »Deutsche« sich nun – ohne jedes Risiko – schützend vor »Juden« stellen, um sie vor zugewanderten »Antisemiten« zu bewahren, das ist ein klassischer Fall von: zu schön, um wahr zu sein. Nein, wenn Solidarität wirklich etwas bewirken soll, zumal wenn sie von Dichtern und Denkern kommt, muss sie sich Mühe geben. Statt vorschnell zu urteilen, nach Schuldigen zu suchen, sich in moralischen Gesten zu verlieren, sollte sie genau hinsehen. Zuhören. Mitfühlen. Nachdenken. Zusammendenken. Und dann eine Sprache finden, die etwas anderes zum Ausdruck bringt als nur die ideologische Schwundstufe deutscher Erinnerungskultur. Und genau das hat Behzad getan, auf eine Weise, von der sich manche unserer Kollegen mehr als nur eine Scheibe abschneiden könnten. Dazu gleich mehr. Zuvor aber ein wenig Kontext.

Wer Behzads Aktivität auf Facebook verfolgt, könnte ihn für einen rigorosen Vertreter der palästinensischen Sache halten. Man erfährt dort viel über das menschliche Leid in Gaza und den besetzen Gebieten sowie über die zahlreichen Verfehlungen der israelischen Politik. Doch Behzads Haltung ist gar nicht »pro-palästinensisch«, und schon gar nicht ist sie »antizionistisch« (dass sie nicht »antisemitisch« ist, traue mich kaum hinzuschreiben, weil schon die Frage, freundlich gesagt, absurd wäre). Sie ist radikal humanistisch. Und sie ist auf eine nicht minder radikale Weise hellsichtig gegenüber Missständen in Deutschland. Wenn es nicht irgendwie falsch klänge, würde ich sagen: Behzad ist ein Fanatiker der Gerechtigkeit.

Anfang des Jahres habe ich einen langen Text veröffentlicht, dessen Titel lautet: »Israelkritik für deutsche Patrioten. Brief an Behazd Karim Khani«. Der Ausgangspunkt dieses – ja! – offenen Briefs lag in den endlosen Diskussionen, die Behzad und ich über Jahre an der Theke seiner Kreuzberger Bar geführt hatten. To make a long story short: Ich sprach über den Nahen Osten aus einer post-arischen Neigung zum Zionismus, er aus postmigrantisch-iranischer Perspektive mit einer Tendenz zur postkolonialen Kritik. Die Schönheit dieser Diskussionen lag für mich darin, dass sie am Ende nicht – wie fast immer bei diesem Thema – zu einer Verhärtung dogmatischer Positionen führte, sondern zu einer Weitung der eigenen Perspektive. Um zwar nicht meine Sympathie für Israel zum Einsturz zu bringen, wohl aber die Einseitigkeit meines Blicks zu erkennen, genügte ein Satz. Ich hätte, sagte Behzad sinngemäß, vermutlich ALLES gelesen, was es zu dem Thema an westlicher Literatur gebe, aber KEINEN einzigen Text aus palästinensischer Perspektive. Zieht man die Übertreibung ab, hatte er Recht.

Also begann ich zu lesen. Monatelang. Und am Ende hatte ich nicht die Seiten gewechselt – ich hatte ja schon vorher immer von »zwei Seiten« geredet –, sondern begriffen, wie ASYMMETRISCH sich die beiden Konfliktparteien zueinander verhalten. Das betraf zum einen die realen Kräfteverhältnisse in Israel. Zum anderen aber, und das war die wichtigere Erkenntnis, betraf sie ihre Sichtbarkeit in der deutschen Öffentlichkeit. Die Tragik der Palästinenser liegt nicht nur darin, dass ihr Ruf nach Gerechtigkeit oft verhallt, weil sie unter der Stärke eines Staates leiden, der sich selbst – aus guten Gründen – als Schutzraum für die Juden nach dem Holocaust versteht. Sie liegt auch darin, dass sie in Deutschland vor allem als Feinde der Juden wahrgenommen werden.

Wenn also Behzad und ich uns, jeder auf seine Weise, in den letzten Wochen für die palästinensische Perspektive stark gemacht haben, dann nicht, weil wir die Verbrechen der Hamas übersehen oder nicht beim Namen nennen wollen. Sondern weil wir sehen, dass diese Perspektive in der deutschen Gesellschaft praktisch nicht vorkommt. Dass ihre klugen, moderaten, humanen Vertreter um Sprache ringen, sie aber in unserer Öffentlichkeit nicht finden, weil Deutschland in moralische Panik verfällt angesichts der hässlichen Fratze, die sich in der pro-palästinensischen Wut offenbart. Denn ja: Diese Hässlichkeit verändert gerade das Leben von Juden in Deutschland auf eine bis vor kurzem unvorstellbare Weise. Aber das Problem reicht viel tiefer. Nicht nur der Hass und die Wut auf der Straße, auch die Gegenreaktionen wohlmeinender, aber überforderter Deutscher droht, uns alle zu beschädigen und ein – im Großen und Ganzen – offenes Land zum Schlechten zu verändern. Wir müssen gerade sehr gut aufpassen. Auf uns selbst, aber vor allem aufeinander.

Behzad hat es auf eine Weise getan, die nur wenige Menschen beherrschen. So, wie es sich für einen Schriftsteller gehört. Er hat mit einfachen, aber präzisen Worten geschildert, wie sich gerade seine Welt verändert. Wie sich die manchmal rohe, manchmal zarte, aber immer lebendige Riesenstraße Neukölln-Kreuzberg verschlossen hat. Wie jüdische Freunde in der Öffentlichkeit nicht mehr, wie sie es bis vor kurzem ganz selbstverständlich taten, auf Hebräisch telefonieren. Wie sie ihren Platz in der Welt verlieren, weil dieser Teil Berlins für sie etwas hatte, das ihnen weder Israel, noch der Rest ihres sogenannten Gastlandes bieten konnte: ein nicht immer konfliktfreies, aber offenes Miteinander von Menschen, die aus verschiedenen Ländern des Nahen Ostens gekommen sind und plötzlich feststellen, dass sie hier gemeinsam über ihre Heimatregion reden, diskutieren, schimpfen, weinen und – mehr als alles andere – lachen können. Dieser offene Ort, dieser Berliner Hafen, diese Insel mitten in Deutschland, verschließt sich gerade auf eine dramatische Weise. Dass das für Israelis gilt, sieht jeder, der zwei Augen und ein Herz hat. Viel weniger offensichtlich ist aber, dass auch für Behzad und viele andere, die in dieser großen Straße die kleine Utopie einer geteilten Diaspora sahen, gerade etwas kaputt geht. Hoffentlich nicht für immer.

Was mein Freund getan hat, könnten wir alle tun. Und wenn wir Schriftsteller sind, ist es vielleicht sogar unsere Pflicht. Meine Welt ist nicht Kreuzberg und Neukölln. Aber wie für Behzad bedeutet für mich Berlin das Wunder eines Netzwerks aus Beziehungen und Begegnungen, das so in der deutschsprachigen Welt wohl nur noch an einem anderen Ort möglich wäre, in Wien. Zu diesem Netzwerk gehören natürlich auch zahlreiche jüdische Freunde. Doch wenn wir diese Freunde nicht wie ein Attest für unsere »Wiedergutwerdung« (Max Czollek) präsentieren wollen, so wie die »jüdischen Freunde« von feinsinnigen Deutschen einst als Alibi für ihren Antisemitismus präsentiert worden sind, dann müssen wir sie in der Stunde ihrer Not ansprechen. Sie sehen. Ihnen zuhören. Mit ihnen fühlen. Über das, was sie sagen, nachdenken. Und dann versuchen, eine Sprache dafür finden. Es ist gar nicht so schwer.

Vor ein paar Tagen traf ich eine israelische Freundin, die schon lange in Deutschland lebt. Wir aßen gemeinsam in einem Restaurant, sprachen angeregt bis verzweifelt über die aktuelle Lage, lachten sogar ein wenig, und dann brachen wir auf. Es war einem glücklichen Zufall zu verdanken, dass wir noch ein Stück des Heimwegs teilten. Die Freundin verlangte es nach einer Zigarette, und so begleitete ich sie zum nächsten Späti, der an einer großen, vielbefahrenen Straße lag. Wir setzen uns auf einen Stapel Holzpaletten, wimmelten freundlich die Nachtgestalten ab, die sich zu uns gesellen wollten, rauchten und tranken noch ein Fläschchen, sie ein kleines mit viel, ich ein größeres mit weniger Alkohol. Aus einer Zigarette wurden fünf oder sechs, aus einem Absacker zwei oder drei. Und plötzlich redeten wir endlich offen miteinander. Im Restaurant hatte ich sie mehrfach gefragt, wie es ihr gehe, wie ihr Leben gerade aussehe usw. Aber erst jetzt, an der lauten Straße, in diesem Berlin-Moment, begann sie, ganz leise zu erzählen. Von sich und ihren israelischen Freunden. Von der Scheu, in der S-Bahn mit den Eltern in Tel Aviv zu telefonieren. Von den deutschen Fake-Namen, die sie sich jetzt alle bei Uber geben, um keinen Stress mit arabischen Fahrern zu kriegen. Von dem Lieferanten, der eine Bekannte feindselig beschimpfte, nachdem sie ihn gebeten hatte, das Essen vor die verschlossene Tür zu stellen. Und von dem beklemmenden Gefühl, das sich in all diesen Verhaltensweisen zeigt: einer Angst, die zur Übertreibung neigen mag, aber aus so großer Tiefe kommt, dass es unmenschlicher Kälte bedürfte, um sie als »irrational« abzutun. Dem Empfinden einer Schutzlosigkeit, die bis in die eigenen vier Wände, und einer Heimatlosigkeit, die bis in die entlegensten Winkel der Erde reicht.

Man sollte sehr vorsichtig damit sein, den Begriff des Traumas von individuellen auf kollektive Seelenlagen zu übertragen. Aber wie auch immer man es nennt, wir müssen begreifen, dass der 7. Oktober Juden in aller Welt mit der Wucht eines Schocks getroffen hat, dessen Wirkung viel mehr umfasst als nur das Entsetzen über die Tat. Das Perfide ist, dass Terror genau das will. Das Verbrechen selbst war von unfassbarer Grausamkeit. Aber der Blutrausch ist das eine. Langfristig viel gravierender sind seine Wirkungen auf all jene, die es nur zufällig nicht traf. Wir alle hätten dort im Südwesten Israels sein können; und wir alle sind gerade irgendwo, wo wir vielleicht nicht das Gleiche befürchten müssen, uns aber eben auch nicht sicher fühlen: Dieses Bewusstsein teilen im Moment Juden auf der ganzen Welt. Und für viele von ihnen ist es weder zu trennen von der kollektiven Erinnerung an die Shoah, noch vom Zerbrechen des israelischen Gesellschaftsvertrags, der lautete: Weil es diesen Staat gibt, seid ihr sicher.

Blood has to be shed, sagte die Freundin und meinte: We have to get rid of Hamas. Von mir aus, erwiderte ich, sollen sie die Verbrecher alle töten – aber wohin soll das am Ende führen, was nützt ein Krieg ohne politische Perspektive? Ja, sagte sie, die fehlt. Und das ist ein Problem. Und dann erzählte sie einen alten israelischen Witz. Im Ersten Weltkrieg muss ein junger Jude gegen die Türken kämpfen. Seine Mutter ermahnt ihn, trotz aller Feindschaft nicht in Maßlosigkeit zu verfallen. Moishele, sagt sie, kill a Turk – and then take a rest. But mother, sagt der Sohn, what if a Turk kills me while I’m at rest? Moishele, ruft die Mutter, why on earth should he want to kill you? Wir rauchten noch eine Zigarette, nahmen einen letzten Schluck, sie einen kleinen, ich einen großen, und gingen dann unserer Wege.

Auf dem Rückweg musste ich an eine sprachlose Begegnung denken, die ich vor zwei Wochen auf einer Zugfahrt hatte. Versunken in Lektüre, wurde meine Vorbereitung auf die abendliche Lesung unterbrochen, als irgendwo auf halber Strecke zwischen Berlin und Essen eine Russisch sprechende Großfamilie zustieg. Da offenbar keine Plätze reserviert worden waren, verteilte sich die Gruppe auf den ganzen Waggon. Auf dem Platz neben mir landete ein vielleicht 13jähriges Mädchen, das auf geradezu filmreife Weise die Aura eines Backfischs um sich verbreitete. Innerhalb von Sekunden war der Klapptisch gefüllt mit den Habseligkeiten eines zu klein gewordenen Kinderzimmers. Rosafarbene Kopfhörer, ein riesiges Etui, ein Malblock, Kaugummis, Süßigkeiten aller Art, Lutschtabletten, Hautcreme. Und ein Handy, dessen Display fast so groß war wie mein Buch. Sie öffnete Google Maps, wo sie einen Ausschnitt betrachtete, der das südwestliche Israel zeigte. Die geographischen Angaben erschienen in hebräischer Schrift, und rund um den Gazastreifen waren zahllose Orte mit kleinen roten Fähnchen markiert. Nachdem sie sich eine Weile in den Anblick der Karte vertieft hatte, öffnete sie ihre Bilddatei, wählte ein Foto aus und malte es dann ab. Es zeigte zwei Menschen: im Vordergrund den Oberkörper eines IDF-Soldaten, am Arm eine Binde mit der israelischen Fahne, im Hintergrund einen Mann mit Kippa.

Diese kleine Szene erschütterte mich mit der Wucht eines Sekundärschocks. Wie so oft derzeit, trafen hier alle Widersprüche am Rande des Brainfucks aufeinander. Und zugleich war das Gefühl, das ich dabei empfand, von unüberbietbarer Klarheit. In der Phantasie spannte ich meine großen, nicht vorhandenen Flügel über dem Mädchen auf, nicht um sie zu schützen, denn das kann ich nicht, sondern das, was sie da gerade tat. Die ganze zwiespältige Realität des israelischen Militärs, seine Leistungen, seine Vergehen, seine Macht zum Schutz der einen, zur Besatzung der anderen, all das spielte in diesem Moment überhaupt keine Rolle. Dass mich, wie viele meiner deutschen Altersgenossen, Claude Lanzmanns monumentales Filmdoppel »Shoah« (über den Holocaust) und »Tsahal« (über die IDF) in den israelischen Mythos verstrickt hat; dass ich, wie immerhin einige meiner deutschen Altersgenossen, wusste, was der Anblick einer IDF-Uniform für palästinensische Augen bedeutet: diese Ambivalenz war gerade völlig egal. Alles, was ich sah, war ein Mädchen, das sich in unbehauster, bedrohlicher Lage einen Talisman schuf. Ein Bild des Schutzes. Die symbolische Wiederherstellung einer zusammengebrochenen Ordnung.

»Wir sind alle Fragmente, nicht nur des allgemeinen Menschen, sondern auch unserer selbst. Dieses Fragmentarische aber ergänzt der Blick des Andern zu dem, was wir niemals ganz und rein sind.« – So wie ich neulich, nach dem Treffen mit der israelischen Freundin, an die Zugfahrt nach Essen denken musste, so muss ich nun beim Schreiben an diese Sätze von Georg Simmel denken. Denn die Unschuld, mit der das Mädchen den israelischen Soldaten abmalte, war so überwältigend, dass ich mit absoluter Sicherheit zu wissen meinte, was sie sähe, wenn sie in diesem Moment in einen Zauberspiegel blickte: die Kinder von Gaza.


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ERINNERUNGSLEITKULTUR     (Facebook, 4.11.2023)

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Robert Habecks Rede war ein machiavellistisches Meisterstück, sprich: gut für ihn. Für Deutschland war sie ein Desaster. Ich hoffe, dass Schulkinder der Zukunft an diesem Text begreifen lernen, wie sich damals, im ersten Drittel des 21. Jahrhunderts, die Anerkennung deutscher Schuld in einen neuen Sündenbockmythos verwandelte. Auf geradezu klassische Weise spielt Habeck nämlich drei Gruppen gegeneinander aus: Die DEUTSCHEN, deren Staatsräson sie zu uneingeschränkter Solidarität mit Israel und dem Schutz jüdischen Lebens verpflichtet, die JUDEN, die »80 Jahre nach dem Holocaust« erneut mit blindem Hass konfrontiert sind, und die ANTISEMITEN, die aber – zum Glück! – nicht mehr aus den eigenen Reihen kommen, sondern – leider! – zugewandert sind. Eine wahrhaft große Rede zur Stunde hätte die Gesellschaft nicht in Täter, Opfer und Erzieher gruppiert, sondern ein anderes Ziel verfolgt: eine Aktualisierung der Ringparabel.

Die machiavellistische Pointe der Rede lässt sich so auf den Punkt bringen. Während die grüne Außenministerin in diesen Wochen schmutzige, sprich: realistische Außenpolitik betreibt, um das Gewicht der deutschen Stimme in der arabischen Welt zu erhalten, nutzt der grüne Wirtschaftsminister das im vierfachen Sinn aus. Er reinigt sich, erstens, vom Makel einer schmutzigen, sprich: realistischen Energie-Außenpolitik, die ihn nach der Abkoppelung vom russischen Gas zum Kotau in Qatar gezwungen hat. Zweitens er greift er die pro-israelische Stimmung der deutschen Öffentlichkeit auf, nicht zuletzt an der eigenen Basis, um den nach dem Heizungsgesetz aussichtslos erscheinenden Machtkampf gegen Baerbock zu seinen Gunsten zu wenden. Drittens signalisiert er im Namen von Anti-Antisemitismus & Israel-Solidarität seine Bereitschaft zu einer repressiveren Migrationspolitik, womit er sich Friedrich Merz als Koalitionspartner anbietet. Und schließlich macht er sich, viertens, wie vielleicht noch kein Politiker vor ihm auf populistische Weise die erinnerungskulturelle Mythologie zu eigen. Das Paket, das er damit schnürt, hat einen Namen. Es ist die endgültige Verbürgerlichung der Grünen.

Seit sich unsere Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus von der historischen Forschung abgekoppelt hat, verdient sie das Attribut »kritisch« nicht mehr. Im Gegenteil, sie ist zum Medium einer ideologischen Selbstinszenierung geworden. Die deutsche Erinnerungskultur stiftet keine Orientierung, sie verteilt Rollen und weist Plätze an. Doch wo die Politik versagt, schlägt die Stunde der Aufklärung. Vieles von dem, worum es mir hier in den letzten Wochen ging, findet sich mustergültig verdichtet und empirisch fundiert in einem Interview, das die Soziologin Esra Özyürek gestern der ZEIT gegeben hat. Für mich ist sie die Wissenschaftlerin der Stunde. Özyürek verschweigt nichts, auch nicht den Antisemitismus unter arabischstämmigen (Post-)Migranten und Muslimen. Aber wie immer bedarf nicht das Offensichtliche der Erhellung, sondern der unsichtbare Eisberg, dessen Spitze wir mit der Wirklichkeit verwechseln. Und dieser Eisberg heißt Holocaustpädagogik.

In »Subcontractors of Guilt: Holocaust Memory and Muslim Belonging in Postwar Germany«, dem Buch, dessentwegen die ZEIT das Interview mit ihr führte, macht Özyürek exemplarisch sichtbar, was ich neulich in allgemeinen Sätzen beschrieben habe. Die universalistische Mahnung von Auschwitz ist in Deutschland verkümmert zu einem identitätspolitischen Rollenspiel, das für viele Zugewanderte auf einen erpresserischen Deal hinausläuft. Im »Gedächtnistheater« (Michal Y. Bodemann) der alten Bundesrepublik fanden »Deutsche« und »Juden« in öffentlichen Ritualen wieder zueinander. Das Gedächtnistheater der Berliner Republik wurde aber in den letzten Jahren um eine dritte Gruppe erweitert. Es ist nun nicht mehr das Sühnespiel zwischen dem Kollektiv der Täter und den Repräsentanten der Opfer. Heute gibt es drei Rollen. Wir, die Geläuterten. Ihr, die Gefährder. Und sie, die Bedrohten. Wenn ihr zu uns »Deutschen« gehören wollt, sagen die post-arischen Erzieher und ihre post-migrantischen Helfer den jungen »Muslimen«, denen sie in zahllosen Projekten, Initiativen und Exkursionen den Holocaust »nahebringen« wollen, dann müsst ihr in euch selbst den antisemitischen Täter erkennen und in den »Juden« eure potentiellen Opfer. Ihr müsst lernen, was wir schon gelernt haben. Was für uns Auschwitz war, das ist für euch der Nahostkonflikt. Euer Hitler, das war Mohammed Amin al-Husseini, der Mufti von Jerusalem. Wir wollten die Juden hier nicht mehr haben, aber zum Glück sind sie inzwischen wieder da. Und sie stehen unter unserem besonderen Schutz. Doch dass sie ihn benötigen, das liegt leider auch an euch. Denn viele von euch wollen sie immer noch nicht haben, weder dort noch hier. Wir haben das Erbe des Christentums und der Nazis aufgearbeitet, tut ihr nun dasselbe mit euren Bürden des Islams, der patriarchalen Kultur und des Antizionismus.

Wo Integration in eine offene Gesellschaft und eine politische Gemeinschaft im Zeichen von Gleichheit stattfinden könnte, wird tatsächlich eine Assimilation verlangt, die nicht nur auf eine unverschuldete Verstrickung in deutsche Schuld hinausläuft – sondern auch auf Selbstverleugnung. Denn was empfinden junge Menschen arabischer, türkischer, nah- und mittelöstlicher, kurz: »muslimischer« Herkunft, wenn man mit ihnen die Gedenkstätte eines deutschen KZ oder gar Auschwitz-Birkenau besucht? Beklemmung. Angst vor den Deutschen. Identifikation mit den jüdischen Opfern. Was passiert ist, könnte wieder passieren. Und warum sollten beim nächsten Mal nicht wir die Opfer sein? Die Szenen der Diskriminierung, die den Gaskammern vorausgingen, so empfinden es die meisten von ihnen, erinnern uns an unsere eigenen Erfahrungen. Wie angemessen eine solche Furcht ist, und inwiefern die antisemitische Diskriminierung der rassistischen gleicht, spielt zunächst einmal überhaupt keine Rolle. Entscheidend ist, dass an solchen spontanen Empfindungen eine Pädagogik ansetzen könnte, die tatsächlich Lehren aus der Geschichte zieht. Die begreifbar macht, wie Ausgrenzung funktioniert. Die zeigt, dass jede Minderheit zum Opfer einer Mehrheit werden kann. Dass es keine Gewalt gegen Gruppen gibt, wenn diese Gruppen nicht zuvor als »fremd«, »anders« oder »bedrohlich« vorgestellt worden sind. Und dass wir mit dem Leid der anderen nur mitfühlen können, wenn wir sie uns gerade nicht als Gruppe, sondern als menschliche Individuen vorstellen.

Dass die jüdische Erfahrung von Ausgrenzung, Verfolgung und Gewalt eine eigene Geschichte hat, die nicht in der Geschichte des Rassismus aufgeht, und dass der Holocaust ein beispielloses Verbrechen war, das weder mit anderen Massenmorden noch mit der Nakba, der palästinensischen Katastrophe von 1948, auf eine Stufe gestellt werden kann, ganz zu schweigen von den alltäglichen Nadelstichen der deutschen Einwanderungsgesellschaft: Diese Einsicht könnte am Ende eines langen Lernprozesses stehen. Doch sie ist extrem voraussetzungsreich. Sie erfordert neben umfangreichem Wissen und historischer Urteilskraft auch Empathie, also das Vermögen, von der eigenen Erfahrung zu abstrahieren, um fremde Erfahrungen als ebenso gleichwertig wie unaufhebbar anders anzuerkennen. Tatsächlich aber zielt die deutsche Holocaustpädagogik weder auf empathisches Lernen noch auf historische Erkenntnis. Und sie will auch nicht Integration, sondern die Einordnung in ein Schuldkollektiv, in dem die alte Mehrheit bereits gesühnt hat, während eine neue Minderheit ihre Unschuld noch unter Beweis stellen muss.

Denn wie reagieren die Repräsentanten der deutschen Erinnerungskultur, all die engagierten Lehrerinnen, Erzieher, Projektleiterinnen und Kirchenkränzler, wenn sich junge »Muslime« spontan mit den jüdischen Opfern identifizieren? Ungehalten, ärgerlich, enttäuscht, passiv aggressiv. Und warum? Weil sie im Holocaust keine menschliche, sondern eine exklusiv jüdische Katastrophe sehen. Die Einsicht, dass der Antisemitismus diesen Massenmord auch zu einem spezifischen Verbrechen an Juden machte, ist für sie nicht der Abschluss einer Meisterklasse, sondern ein zivilreligiöses Dogma, das dem Lernen bekenntnishaft vorausgehen soll – und es genau dadurch verhindert. Der Grundbass der deutschen Holocausterziehung lautet: Ihr dürft euer Leid nicht mit dem Leid der Juden auf eine Stufe stellen. Denn euer Leid ist gewöhnlich, das jüdische ist einzigartig. Und zu »Deutschland« kann nur gehören, wer im Land der geläuterten Täter den Täter in sich selbst entdeckt hat. Eingezwängt zwischen der Unerreichbarkeit der jüdischen Katastrophe auf der einen, der deutschen Moral auf der anderen Seite, ist diesen jungen Menschen damit ihr Platz auf der Schulbank der Einwanderungsgesellschaft angewiesen. Versetzung dauerhaft fraglich. Wer eine solche Erinnerungskultur hat, braucht keine Leitkultur mehr.

Indem Esra Özyürek, ohne irgendetwas zu beschönigen oder sich in Vorwürfen zu ergehen, die moralische Panik nach dem 7. Oktober mit ihrer Forschung zur Holocausterziehung von »Muslimen« verknüpft, spricht sie aus, was in unserer Öffentlichkeit gerade dröhnend verschwiegen wird. Und sie spricht für all jene, die schon lange auf eine beklemmende Weise schweigen. Möge Deutschland statt seinem Möchtegernkanzler dieser Frau zuhören!