• Meine deutsche Frage. Aus dem Tagebuch 1993

    Vorbemerkung: Dies ist die Langfassung von Michael Rutschkys Tagebuchaufzeichnungen des Jahres 1993. Eine deutlich gekürzte Fassung ist im Märzheft erschienen. Sie ist, ebenso wie zwei frühere Folgen - nämlich aus dem August 2010 (1990) und dem Juli 2011 (1991) -, im Onlinearchiv abrufbar.

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    Freitag, 1. Januar, Berlin. - Alle haben zum Jahreswechsel geschrieben, erzählt meine Mutter am Telefon. Mit Ausnahme von "Fischer", wie sie früher hieß, Gerda Peus, eine Mitschülerin im Berliner Lettehaus, aus der Prähistorie. Vor kurzer Zeit behauptete sie, meine Mutter werde sie gewiss überleben. „Da macht man sich doch Sorgen.“

    In ihrem letzten Brief erzählte Gerda Peus, ihr Sohn Jochen habe ihr eine Gardinenpredigt gehalten, und sie habe sich anstrengen müssen, um nicht zurückzuschlagen. Warum Gardinenpredigt? „Na, vermutlich weil sie dauernd klagt über ihr Befinden. Sie soll sich ein bisschen zusammennehmen.“

    Irgendwann habe sie sogar mal gestanden, es sei wohl ein Fehler gewesen, nach Amerika auszuwandern. „Sie fühlt sich regelrecht entwurzelt.“ Das Ehepaar Peus ging um 1950 hinüber, als man dachte, Deutschland bleibe auf ewig am Boden. – Sie fühlt sich entwurzelt, weil sie außerhalb der Familie keine Freunde hat, und die Familie lebt weit verstreut in den Staaten. Der Sohn Jochen, Arzt wie sein Vater, kommt einmal in der Woche und führt seine Mutter zum Essen aus…

    Dem Söhnchen geht es glänzend, erzählt Wackwitz am Telefon. Er sei ohne Frage das schönste und höchstbegabte Kind auf Gottes weiter Erde... Er, Wackwitz, werde übrigens im Sommer nach Deutschland zurückkehren, nach München. Er werde Redenschreiber von Präsident Harnischfeger. Und seine Frau strebe gleichfalls fort aus Japan, obwohl das Leben hier (dort) sich gerade sehr angenehm gestalte.

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