Meine deutsche Frage. Aus dem Tagebuch 1993

Vorbemerkung: Dies ist die Langfassung von Michael Rutschkys Tagebuchaufzeichnungen des Jahres 1993. Eine deutlich gekürzte Fassung ist im Märzheft erschienen. Sie ist, ebenso wie zwei frühere Folgen – nämlich aus dem August 2010 (1990) und dem Juli 2011 (1991) -, im Onlinearchiv abrufbar.

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Freitag, 1. Januar, Berlin. – Alle haben zum Jahreswechsel geschrieben, erzählt meine Mutter am Telefon. Mit Ausnahme von „Fischer“, wie sie früher hieß, Gerda Peus, eine Mitschülerin im Berliner Lettehaus, aus der Prähistorie. Vor kurzer Zeit behauptete sie, meine Mutter werde sie gewiss überleben. „Da macht man sich doch Sorgen.“

In ihrem letzten Brief erzählte Gerda Peus, ihr Sohn Jochen habe ihr eine Gardinenpredigt gehalten, und sie habe sich anstrengen müssen, um nicht zurückzuschlagen. Warum Gardinenpredigt? „Na, vermutlich weil sie dauernd klagt über ihr Befinden. Sie soll sich ein bisschen zusammennehmen.“

Irgendwann habe sie sogar mal gestanden, es sei wohl ein Fehler gewesen, nach Amerika auszuwandern. „Sie fühlt sich regelrecht entwurzelt.“ Das Ehepaar Peus ging um 1950 hinüber, als man dachte, Deutschland bleibe auf ewig am Boden. – Sie fühlt sich entwurzelt, weil sie außerhalb der Familie keine Freunde hat, und die Familie lebt weit verstreut in den Staaten. Der Sohn Jochen, Arzt wie sein Vater, kommt einmal in der Woche und führt seine Mutter zum Essen aus…

Dem Söhnchen geht es glänzend, erzählt Wackwitz am Telefon. Er sei ohne Frage das schönste und höchstbegabte Kind auf Gottes weiter Erde… Er, Wackwitz, werde übrigens im Sommer nach Deutschland zurückkehren, nach München. Er werde Redenschreiber von Präsident Harnischfeger. Und seine Frau strebe gleichfalls fort aus Japan, obwohl das Leben hier (dort) sich gerade sehr angenehm gestalte.

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Samstag, 2. Januar, a. a. O. – Niemand weiß, was das eigentlich soll. Eine Abschiedsvorstellung, weil das Etablissement in andere Hände übergeht?

In einem genau durch Verstrebungen markierten Quadrat sollen wir uns splitternackt in Formation aufstellen. Ein Diener weist mir beflissen meinen Platz zu, und ich betrete das gut ausgeleuchtete Geviert. Von oben soll jetzt Wasser herabfallen auf uns versammelte Nackte – aber da scheinen sich die Traumgedanken allzu geschmacklos aus dem KZ-Fundus bedienen zu wollen (das ist der Punkt: Geschmacklosigkeit), und ich wache auf.

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Montag, 4., a. a. O. – Frau Werner ist eine kleine, dicke Person von Anfang 50, missmutiges Puddinggesicht – aber gut gelaunt und ansprechbar. Sie trägt eine Art Strickanzug, aus dem Joggingdress entwickelt, pink-anthrazit.

Vor allem aber habe ich zu bemerken, dass sie hinkt. Und eine Zeitlang meine ich zu wissen, dass es um ein künstliches Bein geht. Bis ich auf ihren ausgeschnittenen Schuh und das sichtbare Stück Fuß schaue: Nein, das ist nicht Kunst, sondern Natur.

Sie will uns einen Kaffee kochen. Sie zückt zwei Tütchen, „Capuccino“, ein Pulver,  das schon Milch(-pulver) und Zucker enthält. Lieber nicht, sage ich und gehe hinunter in die Cafeteria, uns zwei Becher richtigen Kaffee holen. Aber die Cafeteria ist geschlossen; das Personal, informiert ein Anschlag, gönnt sich einen Weihnachtsurlaub, der bis morgen dauert.

Also greife ich auf das Angebot von Frau Werner zurück. (Hoffentlich ist sie nicht bildschön, phantasierte Kathrin gestern Abend, sodass du eine Liebschaft mit ihr anfangen musst.)

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Dienstag, 5., a. a. O. – Es geschah im vergangenen März, Ferien in Portugal. Frau Werner rutschte auf dem glatten Pflaster einer Straße aus, stürzte über ihren eigenen Fuß und brach sich mehrfach auf denkbar komplizierte Weise das linke Sprunggelenk.

Das portugiesische Krankenhaus versorgte sie nur bescheiden; so gipste man den Bruch ein, obwohl er draußen zu blutenden Wunden geführt hatte. Der Fuß schwoll unmäßig an.

Obwohl Frau Werner der entsprechenden Gesellschaft angehört, die kranke Urlauber nach Hause fliegt, entstanden Schwierigkeiten. Die Gesellschaft pflegt nämlich nur Fälle von Lebensgefahr zu berücksichtigen, und so stand es nicht um sie. Also blieb sie eine Woche liegen (Anschwellen der Wunde unter dem Gips), bis eine Lufthansamaschine einen Platz frei hatte; nicht nur einen, eine ganze Reihe in der ersten Klasse, in der sie sich ausstrecken konnte.

Sie musste warten mit der Operation, wegen der Schwellung. Das Sprunggelenk wurde rechts wie links geöffnet: Sie zeigt die Narbe auf der Innenseite. Ehe ich die äußere richtig erkenne, sagt sie: „Seitdem trage ich immer Strümpfe mit Schnickschnack“ – dies gestickte Ornament über der Narbe.

Verschiedene Schrauben, Platten und Nägel. „Bleiben sie drin?“ Für ungefähr ein Jahr; dann müssen sie raus, weil der lebendige Körper arbeitet, und man weiß nicht, wohin er die Fremdkörper verräumt. Sie könnten plötzlich einen Nerv abdrücken.

Mehrere Monate konnte Frau Werner nicht arbeiten; sie lag zu Hause fest. „Was man lernt: kommandieren.“ – Für morgen kündigt der Wetterbericht Regen und Eisglätte an, und Frau Werner erklärt mir genau, weshalb sie morgen, als Fußgängerin äußerst vorsichtig unterwegs, zu spät in den Schneideraum kommt.

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Donnerstag, 11. Februar,  a. a. O. – Es handelt sich um ein Spiel, bei dem es um Tiere geht, die auf den Feldern des magischen Quadrats, das senkrecht im Raum steht, ausharren. Wir sollen sie töten; die Einsätze und Gewinne liegen in Massen „Silbergeld“ bereit, ich erkenne vor allem Zwei- und Fünfmarkstücke.

Jetzt ist mein Freund dran (ich wäre der nächste). Er greift sich aus dem äußersten linken Feld der unteren Reihe eine Art Hund mit dichtem schwarzen Fell (wie mein Cocker), packt denselben am hinteren Teil des Rückens, wo sich das Fell bauscht, und reißt es entzwei (wie Felix Graf Luckner die Telefonbücher). Das Tier lebt weiter, es knirscht nur mit den Zähnen und trollt sich wieder auf sein Planquadrat; durch die Öffnung im Fell sieht man blankes weißes Fleisch.

Das Kleingeld rauscht wie aus einem Automaten heraus, und ich erwache in schwerer Angst.

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Samstag, 10. April, a. a. O. – Irgendein rätselhafter Bedienungsfehler ließ den Musiksender MTV aus dem Apparat verschwinden, und ich arbeite unruhig an seiner Wiederentdeckung. Die Programmzeitschrift macht mir Hoffnung auf einen Platz hinter einer ganzen Strecke mir völlig unbekannter Sender, die ich langsam, während Kathrin Unmut kundgibt, durcharbeite. Dieser eben hieß, wie das kleine Signet in der linken unteren Ecke mitteilt, „Optivision“, und wir bekommen ein Kind zu sehen, das die Innenseite seines linken Handgelenks „anklagend“ in die Kamera hält: eine Schnittwunde wie nach einem Selbstmordversuch.

Dann bekommen wir Eberhard Diepgen zu sehen, wie er mit dem CDU-Vorstand berät. Extreme Untersicht, wie bei einem Kind, das nicht einmal bis zur Tischplatte reicht. Der Schauspieler, der Diepgen gibt, sieht ihm zum Verwechseln ähnlich; dass es sich um seine Spielszene handelt, macht erst Heinrich Lummer deutlich, der sich gar nicht ähnelt.

Dann kommt Kathrin aus ihrem Arbeitszimmer ins Berliner Zimmer zurück, mit einem dicken Stapel Kuverts in der Hand, die sie drüben adressiert hatte: Sie fährt ja morgen nach Japan, und hier überreicht sie mir die Briefe, die sie diversen Leuten zum Abschied schreibt. Ich bin außer mir vor Empörung und wache auf.

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Montag, 12. April, a. a. O. – Nein, sagt Jutta, die Freundin von Hartmut Eggert, sie sei niemals sexuell belästigt worden am Arbeitsplatz (sie ist Sprechstundenhilfe).

Einmal schwamm sie quer über den Schlachtensee und freute sich auf die Ruhepause am anderen Ufer – wäre sie gleich zurückgekehrt, hätte sie ihren Kindern, die drüben lagerten, schwer was vorschnaufen müssen, und das wollte sie vermeiden.

Als die am Ufer hochkletterte, stand da aber ein Mann, der sich, als er sie sah, die Badehose abstreifte und ihr seinen Schwanz hinhielt: „Hilf mir!“

Nein, habe sie einfach geantwortet, hilf dir selbst. Und musste halt unausgeruht zurückschwimmen.

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Dienstag, 13. April, a. a. O. – Also, die Thomas-Pynchon-Tagung in Nordhausen. Es geht ja, erzählt Scheel am Telefon, um das Gelände von „Dora 2“, wo die V 2 gebaut wurde; das spielt in „Gravity’s Rainbow“ eine Hauptrolle: Deshalb kam man hierher.

Ein komisches Gefühl, der ehemalige Sozialismus, das ehemalige KZ. Am ersten Abend versuchten sie über die dunkelste Straße in die Stadt zu gelangen, was trinken. Aber auch um das Rathaus herum nichts. „Dann sind wir in einer solchen >Pilsbar< gelandet – schaurig.“

Am nächsten Tag das erste Referat, von Thomas Piltz: prima. Aber beim zweiten brach der Referent nach wenigen Sätzen ab: Er sei ohnedies der Meinung, dass Pynchons lachhafte Darstellung des KZ bei weitem in den Schatten gestellt werde durch – Primo Levi. Und dann zwei Soziologen aus Gießen, die immer wieder auf dies Buch zu sprechen kamen, das die Deutschen halt nicht ordentlich lesen, Alexander und Margarete Mitscherlich, „Die Unfähigkeit zu trauern“.

25 Prozent der Teilnehmer Pynchon-Fans, die schweigen. Denn die kamen nur, um die unterirdische Anlage zu besichtigen, in die man so ohne weiteres nicht reinkommt. 

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Mittwoch, 14. April, a. a. O. – Zwei junge Mütter, Anfang 30, alternativ vergammelt, spazieren mit ihren Kindern durch den Viktoriapark. Die eine ist einheimisch, die andere Gast. Man kommt zu der großen Liegewiese unterhalb des Denkmals, wo ein erster Nackerter auf seiner Luftmatratze in der Sonne liegt.

Ja, erklärt die einheimische Mutter, hier liegt man im Sommer so herum. „So ohne Badehose – als hätten sie noch nie etwas vom Ozonloch gehört.“

Das also das männliche Genitale in besonderer Weise bedroht.

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Donnerstag, 15. April, a. a. O. – „Bauchgrößen“, sagt die Verkäuferin, eine junge Frau, mit der typischen DDR-Verkäuferinnen-Stimme, „haben wir bei diesen Anzügen nur ganz selten im Angebot.“ Der Kaufhof, das ehemalige Kaufhaus Centrum am Alexanderplatz.

Sie sagt es zu Mutti, die der Operation Anzugkauf vorsteht. Mutti schaut besorgt und zweifelnd. Vati ist eine Ruine. Der Mund steht ihm offen; die dicke Hornbrille sorgt zwar mechanisch dafür, dass die Dinge in seine Augen hineingelangen, aber die tief durchfurchte Stirn zeigt an, dass ihm zu verstehen misslingt, was auch nur im engsten Umkreis vorgeht.

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Freitag, 16. April, a. a. O. – Jetzt zeige ich Ihnen mal, sage ich zu Inge Krupp, wie ein richtiger Mann das Schloss aufsperrt. Wir kommen vom Abendbrot im Etoile, Großbeerenstraße. Wenn sie die vergangenen Tage von ihren Ausflügen in die Stadt zurückkehrte, musste ich ihr von innen stets beim Aufschließen beispringen.

Also öffne ich das neue Stangenschloss; sowie das Sicherheitsschloss, das wir hatten einbauen lassen, als das andere nächtens zerbrach (Schlüsseldienst; Genia Schulz und Thies Lehmann waren zu Besuch in ihrer ehemaligen Wohnung und amüsierten sich: sie hatten das Sicherheitsschloss nie benutzt).

Dann will ich mit dem Schnepper die Tür öffnen.

Aber das misslingt.

Es geht nicht, sage ich fassungslos und wiederhole den ganzen Vorgang, nachdem ich die Sicherheitsschlösser noch einmal verriegelt hatte. Es geht wieder nicht.

Es geht wieder nicht, sage ich, und Kathrin nimmt mir den Schlüssel aus der Hand, um es ihrerseits mit dem Schnepper zu versuchen. Zwar kann sie den Schlüssel gänzlich in dem Schloss herumdrehen, aber das bewirkt nichts.

Ich bin schon dabei, über die Nachbarn Müller wiederum den Schlüsseldienst zu mobilisieren – habe bereits bei ihnen geklingelt – als das Schloss bei einem letzten Versuch aufgeht. Später stellt sich heraus, dass man den Schlüssel leicht ankanten muss, damit der Schnepper sich vollständig in seine Höhlung zurückzieht (er hatte mit einem ganz kleinen Teil blockiert).

Müllers stehen in ihrer Wohnungstür und klagen über die Verwirrung und die Schlaflosigkeit, die der Jet Lag einbringt: Sie sind eben aus den USA zurück.

Wenn man an Ihren Eingangssatz denkt, sagt Inge Krupp heiter, während wir uns in unserem Berliner Zimmer vor unseren Weingläsern versammeln, kommt eine richtige Komödienszene heraus.

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Samstag, 17. April, a. a. O. – Er werde versetzt, erzählt der Leiter der Meyer-Filiale in der Yorckstraße. Ergebnis der Inventur: Im letzten Jahr kamen Waren im Wert von 100 000 Mark abhanden, so erfolglos war er beim Eindämmen der Diebstähle. „Jetzt muss ein neuer Besen her.“

Ich beobachtete, in der Schlange vor der Kasse wartend, wie er einem alten Säufer, der für eine große Flasche Weißwein zahlte, den Rasierapparat aus der Tasche zog, den der Trinker von dem Ständer rechts hatte mitgehen lassen. Heiteres Lächeln des grauhaarigen, schon sonnengebräunten Mannes, Lächeln des Dauerrauschs; der Filialleiter zuckt die Achseln.

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Sonntag, 18. April, a. a. O. – „Nun flötet sie wieder.“ Die junge Frau, die allein ein Kind aufzieht und sich einmal mühsam beschwerte, dass das Gebell unseres Cockers gegen 20 Uhr das Einschlafen der Kleinen so schwer behindere.

Seitdem stehe ich mit ihr freundlich auf Grußfuß, während Kathrin sie hasst.

Ich habe sie mal, gemeinsam mit ihr im Reisebüro wartend, exploriert. Sie lebt von Soziahilfe, um  das Kind betreuen zu können. „Ich habe 16 Jahre lang gearbeitet“ (deshalb darf sie sich jetzt diesen Lebensurlaub leisten). Natürlich belaufen sich die Zuwendungen seitens Vater Staats auf bei weitem zu geringe Summen („das ist ein echter Loser!“ erklärte Kathrin hasserfüllt, als ich die Geschichte weitergab). Und jetzt sollen diese Summen sogar noch gekürzt werden, angeblich, um dem Osten aufzuhelfen…

Immer am Nachmittag beginnt die junge Frau Flöte zu blasen. Am Anfang dachte ich, ein Kind übt blindlings, um das Instrument beherrschen zu lernen. Denn es entsteht keine Melodie, nicht einmal eine fehlerhafte. Die Bläserin improvisiert, oft stundenlang, sinnlose Abläufe, deren Zweck vor allem sein dürfte, ihr vorzuspiegeln, sie mache Musik, sei praktisch Musikerin.

Ich denke mir, das hat ihr eine Therapeutin geraten. Sie ging hin, weil sich ihr Leben so leer anfühle, trotz des Kindes, das sie sich so heftig gewünscht habe, damit ihr Leben sich endlich mit Sinn erfülle. Ich habe so ein Gefühl, erklärte sie der Therapeutin, als wäre in mir Künstlertum vergraben. Wie bringe ich es zutage?

Die Therapeutin ermittelte, dass die junge Frau als kleines Mädchen den Musikunterricht in Blockflöte abgebrochen hat („wurde echt Stress“); sie rät zur zwanglosen Wiederaufnahme des Musizierens, „lassen Sie es einfach fließen, wenn die Spannung zu stark wird.“

Einmal hörte ich, wie sie zu singen versuchte. Ausgiebiges Flöten hatte sie zum Äußersten ermutigt. Ein gehemmtes Krächzen, das sich endlich, was sie sehr glücklich macht, zu einem einzigen Ton reinigt. Sie kann ihn ein paar Augenblicke halten.

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Mittwoch, 21. April, a. a. O. – Das Telefon klingelt, und ich nehme ab. Jane Gerhardt. Sie möchte wissen, ob sich Kathrin während ihres München-Besuchs (heute fährt sie hin) mit ihr verabreden könne? Ich übergebe den Hörer.

Kathrin verhandelt über Termin und Ort. Am besten morgen im Stadtcafé, wo sie sich schon mit Michael Sebastian Honig trifft. Nein, nicht in der Davidstraße, in der Wohnung von Jane Gerhardt, die Fahrt wäre zu kompliziert. Und wie geht es sonst?

Aus den Oh- und Ah-Lauten schließe ich, dass die Ehe in einer schweren Krise ist.

Sogar beendet. Seit einem Jahr. Der sehr viel jüngere und schwer verträumte Franz hatte sich mit seinen diversen Unternehmungen – Weinhandel, Ökosoftware etc. – einen Schuldenberg von siebenhunderttausend angefressen und daraufhin mit seiner Sekretärin und diversen Praktikantinnen Liebschaften angefangen, um, wie er sich gegenüber seiner Frau rechtfertigte, „mein Ego wieder aufzubauen.“ Er trug gern bayerische Tracht und sprach ein immer durchdringend fröhliches Bayerisch („des muaß i oich verzäln“).

Die letzte Begegnung mit den beiden, bevor wir nach Berlin flohen, gehört ins Sagenhafte. Wiewohl schon betrunken, aber in meiner Verzweiflung durch den Alkohol nicht gedämpft sondern weiter aufgeregt, verließ ich im Leopold die fröhliche Runde und suchte Schutz auf dem Klo. Ich ließ mich, ohne die Hose herunterzulassen, auf die Klobrille nieder – ich stürzte mich geradezu darauf, „wenn ich mich doch mal hinsetzen und mich richtig ausruhen könnte.“

Die Klobrille zerbrach.

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Donnerstag, 22. April, a. a. O. – Dr. Blenck, blauer Pullover, Goldrandbrille, wird seitens Frau Wiegand, Leiterin des Hauses der Kulturen der Welt, dafür gedankt, dass er seine Sammlung für diese Ausstellung zur Verfügung gestellt habe.

Er will uns eine Einführung in das Schaffen Tsummas geben. Diese Holzfigur, er hebt sie hoch, heißt „The Ox-Man“, also ein kastrierter Mann, was diese beiden Schlangen darstellen, die die Arme des Mannes bis zum Ellenbogen verschluckt haben. – Und diese Figur hier habe er, Dr. Blenck, zunächst für eine aus der Reihe der Kindsmörderinnen gehalten, die wir nachher dort drüben besichtigen können, eine stehende Frau, die ein Kind auf ihrer Brust umklammert hält.

Da kam eines Tages der Künstler in Dr. Blencks Haus in Harare, sah die beiden Figuren beieinander stehen und grinste: „Ah! The Holy Family.“ – Stimmt, auch Joseph ist ja ein Ox-Man, Maria empfing das Kind von einem höheren Herrn.

Daran erkennt man, schließt Dr. Blenck, dass diese Plastiken sich nie in einer einzigen Interpretation erschöpfen.

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Samstag, 24. April, a. a. O. – Wir sitzen uns im Speiseraum gegenüber, wir müssen warten. Einer der hübschen Jungmenschen tritt zu uns und erklärt: Der Koch steckt mit seinem Auto irgendwo im Stau; Wochenendausflugsverkehr an den Wannsee, unverändert.

Die Wohnung in der Balzacstraße, erzählt Angela Krauß, und ich schaue in ihr großes Gesicht, befindet sich in Auflösung. Den größten Teil der Zeit lebt sie bei ihrem Freund, einem Theaterregisseur. Aber dann hat sie halt diese Wohnung im ehemaligen Russenviertel vor Augen, von der es die ganze Zeit so aussah, als werde sie ihr zufallen…

„Du hast Recht, Leipzig ist schön. Wird immer schöner. Aber wenn ich die Wohnung nicht bekomme, heißt das: Ich muss weg.“

Geschnetzeltes gibt es zu essen, mit Reis; dazu gemischter Salat mit amerikanischer Cocktailsauce. Hinterher Fruchtsalat. – Mit 17, werde ich in den nächsten Tagen erzählen, wäre mir bei dem Gedanken das Wasser im Mund zusammengelaufen: Du nimmst als geschätzter Herr Rutschky teil an einer LCB-Tagung am Wannsee… Sonnensschein, wir treten auf die Terrasse. Frühlingsgrün überall, nur mitten im Durchblick auf den See steht ein kahler Winterbaum.

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Montag, 26. April, a. a. O. – Wieder einmal das Salzmannsche Haus am Markt. In der obersten Etage, wo einst Rutschkys wohnten. Das soll unglaublich lange her sein, es finden sich nur noch wertlose Restmöbel (wie die blaue Etagere, die jetzt im Badezimmer steht).

Aber wie ist zu erklären, dass auf dem Campingtisch in der Mitte des Raumes ein Teelicht offenbar wenige Augenblicke, bevor wir den verlassenen Raum wieder betraten, seinen Geist aufgegeben hat? Eine Rauchfahne steigt aus dem dünnwandigen Blechnäpfchen. Soll es all die Jahre der Verlassenheit ununterbrochen gebrannt haben, um gerade jetzt zu verlöschen?

Wieder auf dem nachtdunklen Marktplatz von Spangenberg, Blick auf das Salzmannsche Haus, unbeleuchtet. Aber die Fenster stehen offen, und man erkennt in der Dunkelheit Handwerker, die in einem der Zimmer ein Gerüst hochziehen – die Tante werde zurückkehren, heißt es, vorher werde alles renoviert. Ich wache auf.

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Mittwoch, 28. April, a. a. O. – Nacht über dem Grundstück am Oberhain in Spangenberg, Sommernacht. Im Gras vor dem Holzhäuschen sitzen Ulla Wittig und ich, splitternackt. Kindlich-ernsthaftes Reden; Berührungen von Händen mit nacktem Fleisch, ohne dass es aber zur Verwicklung kommt. Ulla Wittig zeichnet sich durch eine sahnig-marmorne Üppigkeit aus, die mich mit tiefem Respekt erfüllt.

Da unterbricht unser Reden ein winziger schwarzer Punkt, der sich aus dem Nachthimmel löst und unser nacktes Fleisch attackiert. Höchste Gefahr! Eben wollte er sich auf dem Oberschenkel von Ulla Wittig niederlassen – jetzt geht es um meinen Bauch. Dabei bleibt es unverkennbar ein unausgedehnter, wie auf Papier gemalter Fleck. Als wollte er sich gar nicht auf unsere Haut brennen, sondern befände sich auf einer Zellophanfolie, die zwischen uns und die Kamera gehalten wird.

Dann sind wir wieder in der Schule, dick in den Vorbereitungen aufs Abitur.

Allerdings unterbricht uns ein Skandal. Bei einer unklaren, lange zurückliegenden Gelegenheit soll ich das Andenken Goethes geschmäht haben, und das bringt jetzt meine Klassenlehrerin aus der Fassung. Sie wisse nicht, wie ich das Abitur schaffen wolle – jedenfalls habe sich das Kollegium als meine Bestrafung ausgedacht, dass ich diesen Stapel Bücher, sie trommelt darauf, neu zu binden habe. Aber das ist doch sinnlos, rufe ich, dafür müsste ich sie erst zerstören! Die Wut der Klassenlehrerin schlägt in Verzweiflung um.

Später verraten mir Klassenkameraden als besonders bedrohlich, dass das Kollegium mit zwei Deutel, ja zwei Deutel Mehrheit gegen mich gestimmt habe, da holt mich der Wecker aus dem Schlaf.

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Donnerstag, 29. April, a. a. O. – Mit dem Sommerwetter teilt sich die Grünanlage in der Yorckstraße – hier fuhr einst die Straßenbahn – wieder vom Alltagsleben ab. Ihre Bänke besetzten Tag und Nacht Trinker, die hier ihr festes Quartier nehmen oder sich bloß zu einem überschwänglich dröhnenden Schwatz versammeln oder einfach rasten.

Wir waren einkaufen, und ich bekomme einen jungen Mann zu Gesicht, der sich auf der Holzbank sonnt, damit sich das Dosenbier rascher und gründlicher auswirkt. Sein rötliches Haar zeigt noch die Form, die ein Friseur vor nicht allzu langer Zeit geschaffen hat.

Der junge Mann hat das Hemd abgelegt, und ich kann seinen weißen, irgendwie rührend-kindlichen Oberkörper betrachten, der sich vorn in einem Bäuchlein staut. Auf den Oberarmen erkennt man die ungeschlachten Tattoos, wie sie der Knast hervorbringt.

Der junge Mann trägt Jeans mit abgeschnittenen Beinen. Neben ihm lehnen zwei violette Unterarmkrücken an der Holzbank, und ich erkenne, dass seine weißlichen Beine ausschauen wie verkürzte und kraftlose Würste.

Er räkelt sich behaglich im Sonnenschein.

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Montag, 3. Mai, a. a. O. – Ja, Martin Schröder sei jetzt bei ihr, auch Thomas Günther, erzählt die Steuerberaterin. Sie beriefen sich auf Rutschkys bei der Anmeldung. Um viel Geld gehe es ja noch nicht – aber es macht Spaß, zuzuschauen, wie es im Lauf der Jahre mehr wird.

Wie bei mir.

Ja, wie bei Ihnen.

Es muss 1975 gewesen sein, dass ich sie als Steuerberaterin konsultierte. Die selbstgemachten Steuererklärungen hatten zu unangenehmen Nachzahlungsforderungen geführt. Nachdem sie die Sache in die Hand genommen hatte, erhielt ich Rückerstattung.

Am heftigsten, erzählt sie, entwickelt sich die Einnahmenexplosion bei Ärzten. Eben waren sie noch Angestellte in irgendeinem Krankenhaus, bezahlt nach BAT, dann kommt die eigene Praxis, und damit geht es richtig los…

Stets weitet sich die Abgabe meiner Unterlagen zu einer Plauderstunde aus, die zu beenden mir schwerfällt, weil das unhöflich erscheinen könnte („die Steuerberaterin: noch so ein dienstbarer Geist“). Wie geht es Markus?

Danke. Er hat endlich das Physikum abgeschlossen und fühlt sich grandios. Den ganzen letzten Wundersommer verbrachte er mit Pauken, jeden Tag über den Büchern. „Isst du auch ordentlich?“ Sie wusste genau, wie tödlich ihn die Frage kränken musste, konnte sie aber trotzdem nicht unterdrücken. Also hin und wieder Tabletts mit gesunden, nahrhaften Leckereien schweigend ins Zimmer geschoben.

Da bekam er eine höchst schmerzhafte Angina. Penicillin!, sagte der Arzt und verabreichte ordentliche Portionen. Ohne Wirkung. Pausenlos lernend, konnte Markus bald nicht mehr sprechen. Die Sorge überwältigt sie, und sie transportiert ihn ins Klinikum.

Gleich kommt er an diverse Tropfs und in die Intensivstation. Das Pfeiffersche Drüsenfieber, eine Viruserkrankung. Darf sie lange genug wüten, schädigt sie Milz und Leber gründlich. „Warum ich?“ klagt ihr Kind, der junge Mann. Ja, warum?

Als ich gehe, steht eine ältere Dame vor der Tür. „Ich bin, wie immer, zu früh.“ Die nächste Klientin.

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Dienstag, 4. Mai, a. a. O. – Während wir mit dem Hund seinen kleinen Nachmittagsspaziergang um den Block absolvieren und Kathrin mit den neuesten Missbrauchsgeschichten auf mich einredet, bildet sich in meinem Kopf geschwind die folgende Phantasie.

Kathrins Feindinnen spionieren unsere Lebensverhältnisse aus und erkennen als für ihre Zwecke am besten geeignet Frau Friedemann aus dem Hinterhaus, eine einsame, unglückliche Person voll ranschmeißerischer Zutraulichkeit. „So alt wie ich“, pflegt Kathrin zu betonen, aber sich, wenn man ihr auf der Straße begegnet, mittels Seufzen, halbem Hinken, Selbstgesprächen schon auf abständige Großmutter stilisierend. Ihre Tochter, vielleicht 20, die wir vor zwei Jahren als „Zuckerpüppchen“ belobigten, hat das Verfallsdatum inzwischen überschritten, ein blasser Pudding mit traurigen Augenbällen.

Frau Friedemann arbeitet im Kindergarten. Kathrins Feindinnen klären sie noch einmal über die Verbreitung und die Gefährlichkeit des sexuellen Kindesmissbrauchs auf und halten sie zur Wachsamkeit an. Inbesondere gegenüber den beiden kleinen Mädchen des Ehepaars Müller, unseren neuen Nachbarn.

Bald wird Frau Friedemann fündig. Wobei sich der Verdacht nicht auf den Vater Müller richtet, sondern auf mich. Das „Aufdeckungsgespräch“, das Frau Becker von Wildwasser mit Laura führt, ergibt widerliche Einzelheiten, und ich komme sofort in Untersuchungshaft.

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Donnerstag, 6. Mai, a. a. O. – Bei der ersten Runde stand ich ebenso hinter dem dicken, grünen Gebüsch und staunte, aber jetzt darf ich einen Staunenden bestaunen, junger Mann mit Rucksack, Scheitel und Koteletten.

Er schaut auf den eingegitterten Sportplatz hinunter, von dem man leicht vergisst, dass eine der künstlichen Schluchten des Kreuzbergs ihn beherbergt. Weil er normalerweise öde und unbespielt daliegt. Heute aber. Eben staunte ich, jetzt staunt er: In zwei säuberlich geordneten Reihen werden an Spießen Hammel gebraten, umstanden von jungen Männern, aber auch Müttern, Kindern und Familienvorständen. Die trübe Luft, das dicke Grün, das gelbe Fleisch der enthäuteten Tiere, wie sie sich am Spieß drehen. Vor allem beschäftigt der leckere Bratenduft die Staunenden.

Manchmal bricht Jungmännergesang los. Als ich vorhin, bevor ich das Fest sah, herauf kam, hörte ich vor allem den Gesang, der mich beunruhigte. Dann ermahnte ich mich zu Courage und marschierte drauflos. Als erste sehe ich ein sehr junges türkisches Paar mit seinem kleinen Kind. Vater trägt eine Kunststoffflasche mit graugrünem Tee. Sie mustern mich aufmerksam.

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Samstag, 8. Mai, a. a. O. – Angst müsse es sein, sagt Freyermuth, was die Ostdeutschen riechen macht, Angstschweiß. Er selber rieche normalerweise nach gar nichts. Aber neulich, beim Anflug auf Wien, als seiner Maschine, die landen wollte, eine andere die Bahn wegnahm und der Pilot noch einmal durchstarten musste – danach habe auch er nach Angstschweiß gerochen.

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Montag, 10. Mai, a. a .O. – Immer noch in dem Salzmannschen Haus am Markt. Flüchtlinge haben hier Unterkunft gefunden (stimmt, 1945 waren es die Rutschkys, heute sind es, nach dem Verkauf des Hauses, Asylbewerber), präzise drei, die ich aber nicht klassifizieren kann.

Draußen, auf dem von der Sommersonne schön erhellten Marktplatz, braut sich die Gefahr zusammen (vor der wir in kluger Voraussicht geflüchtet sind). Ein Paar und eine Einzelperson, die getrennt von vollkommener Harmlosigkeit sind, aber wenn sie sich konstellieren…

Eben dies geschieht. Deshalb schließe ich, irgendwie der für das Salzmannsche Haus Verantwortliche, eilig die Fenster gegen den sommerlichen Marktplatz. Die Einzelperson ist es, die sich in Bewegung setzt, wobei sie einen Glasbehälter in Händen hält, der, sobald er mit den Attributen des Paars ein bestimmtes geometrisches Muster bildet, einen Giftgaskrieg auslöst. Angsterregenderweise hat die Einzelperson nicht die geringste Ahnung davon. Überhaupt fehlt ihr der Realitätskontakt. Wie ein Crackhead folgt sie nur ihren inneren Impulsen.

Aber ich muss, bevor es jetzt losgeht, doch noch die Hintertür sichern!

Sie geht auf den Hof; früher erklang ein schepperndes Glockensignal, wenn man öffnete, ein Geräusch, das jetzt fehlt. Stattdessen gibt es einen zusätzlichen Sicherheitsriegel, den ich jetzt aus der Nähe inspiziere. Ich muss sehr groß sein, denn er ist an der obersten linken Kante der Tür befestigt, und ich sehe ihn in Augenhöhe.

Er verschafft keine Sicherheit, weil Riegel und Schloss auf das Holz der Tür montiert sind statt auf die Tür und den Rahmen. Schimmerndes Aluminium, irgendwelche ausgesägten Rädchen. Ich beuge mich nach unten und erinnere mich beruhigt des Hauptschlosses, das ordentlich zu verriegeln war – aber jetzt ist es ein ganz einfaches Riegelwerk, das man kinderleicht öffnet, indem man von außen ein Blatt Papier hineinschiebt… Ich bin aufgewacht, es ist vier Uhr früh, und ich weiß genau, dass ich bis 6.45 Uhr, da ich zum ehemaligen Rundfunkhaus der DDR aufbrechen muss, schlaflos bleiben werde.

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Dienstag, 11. Mai, a. a. O. – Kathrin Passig ist am Telefon. Sie bittet um Adresse und Telefonnummer der MTV-Filiale in Berlin, von der ich neulich erzählt habe. Augenblick, sage ich und hole meinen Briefordner.

Aber darin zu finden ist nicht, wie ich erwarte, die Einladung zu der Party in Berlin, damals, sondern ein Brief von Debbie Woodcock aus London, mit dem sie mir ein MTV-Shirt schickte. Sie solle doch dort anrufen, rate ich Kathrin Passig. Aber sie möchte lieber die Adresse, und ich gebe sie ihr. „Mein Englisch möchte ich lieber nicht mündlich ausprobieren. Nur schriftlich.“

Noch besser als die Briefadresse – Mandela Street – oder die Telefonnummer wäre freilich die Faxnummer. Ich gebe sie ihr.

Was will sie überhaupt von MTV? Ich frage nicht. Neulich bei Gerhard Henschels Party erzählte sie, ein deutscher Musiksender mit einem programmatisch hohen Anteil von Deutschmusik drohe den Kanal von MTV zu besetzen; sie habe sich deshalb bereits an die Medienanstalt Berlin-Brandenburg gewandt, aber keine Antwort erhalten.

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Sonntag, 11. Juli, a. a. O. – Ein Großstadtbahnhof in Russland. Wir kommen einen jungen Mann abholen. Der tatsächlich unter den Reisenden daherkommt, blond, mit leicht geschlitzten Augen, mit einem Hut auf dem Kopf, um den Hals verwegen ein Tuch geschlungen: So genau können wir ihn mustern, weil auf russischen Bahnhöfen, wie es heißt, die Reisenden sich den Abholern auf einer Art Bühne präsentieren, von der sie dann sukzessive abtreten, um die Sperre zu durchqueren.

So auch unser junge Mann (er schaut aus wie Morten Harket, Leadsänger der norwegischen Gruppe A-ha). Dabei stößt er heftig mit einem anderen jungen Mann zusammen, so heftig, dass wir anschließende Feindseligkeiten befürchten.

Doch fasst unser junger Mann mit seiner linken Hand nach der rechten des anderen, drückt sie fest und sagt mit tiefempfundenem Ausdruck „Skargek“, was, wie es heißt, auf Russisch „Entschuldigung“ bedeutet. Sie wird angenommen, und die beiden jungen Männer küssen sich – „typisch russisch!“ – gegenseitig die Wangen.

Wir eilen um ein paar Säulen herum, ein paar Treppenstufen hinunter, um unseren Gast hinter der Sperre korrekt in Empfang zu nehmen.

Hierbei müssen wir das Bahnhofsrestaurant durchqueren. Schmutzige Menschen hocken zeitunglesend an schmutzigen Tischen; das Essen wurde in großen runden Trögen serviert, die jetzt geleert neben den Tischen stehen. Eine graue Mehlsoße überzog die Speisen und bleibt nach dem Essen in dem Trog zurück. Noch ekelhafter, dass zuweilen ein sackgelbes Tuch das Fleisch – oder was es war – bedeckt hatte und jetzt, von der Soße durchtränkt, in dem Trog herumliegt.

Aber was mich so erschreckt, dass ich aufwache, ist dieser Trog, der noch nicht geleert ist. Das grau-nasse Tuch verhüllt einen Brocken, der mühsam atmet. Ich starre darauf. Gemütlich wendet sich der Esser, offenbar schon gesättigt, seiner Zeitung zu, während der Schmorbraten nach Luft ringt. „Auch in Russland essen sie also Tiere lebend!“ Mein Herz schlägt rasch und heftig, und ich weiß, dass ich so bald nicht wieder einschlafe. Also das Licht einschalten (draußen wird es gleichfalls hell) und weiter mit Turgenjew, „Aufzeichnungen eines Jägers“.

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Dienstag, 13. Juli, a. a. O. – Zum Frühstückskaffee liest Kathrin keine der Zeitungen (SZ, taz, Berliner Zeitung), sondern eine dicke Akte, die Frau Koch gestern in den Postkasten gesteckt hat. Kathrin wird davon verschluckt. Kurz nach zehn klingelt das Telefon, ich nehme ab, eine hochmütige Stimme fragt „Frau Rutschky?“, ich sage nein und gebe weiter. Es ist Frau Koch. Das Gespräch dauert eine halbe Stunde. Immer wieder kommt Kathrin im Lauf des Tages auf die Akte und das Telefongespräch zurück. Die Erzählung klärt nichts.

Niemand weiß, wo Susanne, 16, sich jetzt aufhält, vielleicht in einem Heim, vielleicht auf Trebe. Susanne lebte mit ihrer Schwester Kerstin und deren Ehemann zusammen, das sind Herr und Frau Koch. Die Herkunftsfamilie von Susanne und Kerstin umfasste neben Vater und Mutter zehn Kinder, wobei Susanne das letzte war, Ergebnis eines Seitensprungs der Mutter. Ihre Eltern scheinen jedes Interesse an ihr verloren zu haben. Zwar taucht in der Akte kurz der Verdacht auf, nicht Herr Koch sondern ihr Vater sei der Missbraucher, doch hat man das wohl bloß  pflichtgemäß registriert und nicht weiter verfolgt.

Kathrin versucht die Geschichte so zu verstehen. Susanne hat sich schwer in Wilfried Koch verliebt (Jahrgang 1944). Sie ist eine Pseudologia phantastica, die nur in einem Punkt stets die Wahrheit sagen konnte, dass sie sich nämlich für Sex und Jungs interessiert. Dies Interesse hat sie während der Befragungen durch die Psychologen auf Herrn Koch übertragen, detaillierte Geständnisse über Geschlechtsverkehr seit ihrem elften Lebensjahr, hocherfreulicher Geschlechtsverkehr, sie liebt Wilfried Koch und er sie.

Wahrscheinlich begann das Unglück, als Kerstin und Wilfried Koch sie loswerden wollten, weil sie mit ihrem Schuleschwänzen und ihrer Promiskuität nicht mehr zurechtkamen. Susanne sollte in ein Heim. Zwar legte sie immer wieder Besserungsgelübde ab, befolgte sie aber nie. Vor irgendein Ultimatum gestellt, ich habe vergessen welches, riss sie endgültig aus.

Dafür die Liebesbeschuldigungen. Wilfried Koch wurde festgenommen, verbrachte mehrere Monate in Untersuchungshaft, riss aus, lebte illegal und wird nicht weiter verfolgt, weil die Behörde die Undurchsichtigkeit des Falles zu verstehen scheint. Er ist selber ein undurchsichtiger Mensch. Viel Geld verdiente er mit einer Kette von Blumenläden, dann eine Detektei. Ursprünglich lebte das Ehepaar in Berlin, dann in Spandau. Jetzt heißt die Postanschrift Eschede. Der gemeinsame Sohn heißt Percy.

Wie geht es weiter? Man müsste einen Gutachter finden, der für das Gericht verbindlich Susannes Erzählungen entwertet. Dieser Gutachter wird unauffindbar bleiben. So muss Wilfried Koch als eine Art juristischer Zombie überleben, Kathrin kennt schon mehrere solcher Fälle. Es kommt einfach zu keinem klaren Gerichtsurteil; die Richter trauen es sich nicht zu, weil die Aktenlage komplett verworren ist.

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Sonntag, 18. Juli, a. a. O. – Stell dir vor, erzählt meine Mutter am Telefon. Gestern beim Mittagessen. Ein alter Herr wird plötzlich ohnmächtig, man musste ihn wegtragen, um ihn zu versorgen. Er war aber tot, Herzschlag. Dabei ist er mit seiner Frau erst vor einer Woche in das Altersheim eingezogen…

Vielleicht war es der Umzug, zuviel Anstrengung, beginnt sie zu grübeln. Vielleicht denkt sie an meinen Herzinfarkt, der direkt nach dem Umzug stattfand. Sie grübelt nicht weiter. Es genügt ihr der Schreck, den der plötzliche Tod auslöste, sowie die Befriedigung, dass sie noch zu den Empfängern der Todesnachricht gehörte.

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Montag, 19. Juli, a. a. O. – „Schwester Erika“, meldet sie sich am Telefon, und ich antworte aufatmend: „Schwester Erika!“

Rutschky sei mein Name, und meinetwegen habe Frau Dr. Steiner neulich mit ihr verhandelt, ein Termin in der Lipidsprechstunde des Klinikum Steglitz… Nein, sie erinnere sich nicht, antwortet Schwester Erika freundlich. Ich solle doch am Mittwoch Dr. Aziz anrufen, bis elf Uhr.

Ich habe meinerseits den Anruf bei Schwester Erika um 14 Tage verzögert. Was werden sie mir sagen? Dass mein Cholesterinspiegel anhaltend zu hoch bleibt, dass seltsamerweise die Medikamente nicht richtig anschlagen. Sie werden raten, dass ich strenger Diät halte.

Frau Dr. Steiner neulich räumte diesen Verdacht aus, nein, das erwarte sie nicht von mir. So gründlich könne man sein Leben nicht umstellen. – Wie wäre es denn, schlug ich vor, wenn ich von Mevinacord auf Cedur retard zurückginge, aber täglich zwei Tabletten davon nähme? Ja, sagt Frau Steiner, das haben wir noch nicht versucht. In der Rehaklinik, setzte ich eifrig nach, damals am Wannsee funktionierte das sehr gut.

Ursprünglich hatte ich gleich den Überweisungsschein und die Labordaten abgeholt. Aber den Anruf im Klinikum zögerte ich immer wieder hinaus. „Und als ich dann anrief, geriet ich an eine unglaublich arrogante Arzthelferin.“ Sie ließ sich die Labordaten durchsagen, gab sie augenscheinlich an einen Arzt weiter und teilte mir schließlich mit, ich solle in ihrer Poliklinik nochmals Labordaten ermitteln lassen; der Arzt werde dann mit meiner Hausärztin Kontakt aufnehmen und beraten, ob es notwendig sei, dass ich die Lipidsprechstunde aufsuche… Nein danke, sagte ich, das ist mir zu kompliziert.

Die sind manchmal so zu Privatpatienten, sagte Frau Dr. Steiner. Wer sich außerhalb des Krankenkassensystems stellt, verdient eine strengere Behandlung.

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Samstag, 14. August, a. a. O. – Unter die halbnackt in den Sonnenschein Gebreiteten tritt jetzt ein junger Mann mit milchweißer Haut und schwarzem Kopfhaar. Seine Wangen sind gerötet („gesunde Bäckchen“), seine mageren hellen Glieder überzieht gleichfalls schwärzliches Haar. Sogleich beginnt er sich die Haut einzucremen.

„Das ist kein einheimisches Fleisch“: die Weiße, das Haar, die Bäckchen. Wobei zum einheimischen Fleisch auch das türkische rechnet, „das sind doch Kreuzberger“, sagt Kathrin. „Vielleicht ein Bulgare.“

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Montag, 16. August, a. a. O. – Eine Taufe, erzählt Frau Dr. Gieseking, der Enkel lieber alter Freunde. Die Mutter, der das Kind zu bekommen viel Mühe gemacht hat – ein „Frühchen“ – steckte es, jetzt sieben Monate alt und ein Junge, in ein extra geschneidertes Smokinghemd, Perlen statt Knöpfe. Sowie eine schwarze Hose mit Reißverschluss, „die wird er natürlich nie brauchen. Wenn er laufen kann und selber pinkeln, hat er die Hose längst ausgewachsen.“ Während die Erwachsenen feierten, lag er erschöpft in seinem Wagen. Mutter hatte ihm Hemd und Hose geöffnet. „Ich musste an Sie denken.“

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Sonntag, 7. November, a. a. O. – Na, es geht so, sagt meine Mutter am Telefon.

Mit dem Arm, den sie sich bei einem Sturz verstaucht hat. Anfangs dachte man sogar, er sei gebrochen; aber das Röntgenbild zeigte nur die Knochennarbe von einem anderen Bruch. Die ganze Schulter wurde fest und kompliziert verbunden, was ihre Bewegungsfreiheit stark einschränkte. Dankbar ließ sie sich vom nächsten Arzt bescheinigen, „dass man das natürlich schon lange nicht mehr so macht.“

Insgesamt dauerte es drei Wochen. Meine Mutter führt Beschwerde bei mir. „Ich  konnte mich drei Wochen nicht richtig anziehen; immer nur im Morgenmantel!“ Sie wirbt um meine Zustimmung bei dieser Beschwerde. Es handelt sich offensichtlich nicht um einen Unfall, sondern um eine Ungerechtigkeit.

Gut erinnere ich mich, in welche Verwirrung mich während der Kindheit dieser Gestus der Beschwerde stürzte. Denn selbstverständlich ging ich davon aus, ich sei es, der einen Fehler gemacht hat.

Aber heute geht sie zum ersten Mal wieder zum Mittagessen nach unten in den Speisesaal. Sie ist mit Frau Soundso verabredet. Ihr Freund Augustin Müller liegt im Krankenhaus; sein Melanom muss erneut abgeschliffen werden, verschiedene Stellen, die man dann bepflastert. „Ich weiß noch, wie ich das damals bei der Tante zum ersten Mal gesehen habe und wie drollig ich das fand, all die alten Leute mit den Flecken im Gesicht.“

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Dienstag, 9. November, Hamburg. – Frau Jahn ist eine schmucke dunkle Person von 50, „plietsch“, wie Anna Kreon sagt, fix und intelligent. Wir kamen auf Grußfuß, als ich mit Karen Klamroth arbeitete, auch mit ihrem Mann, dicklich, vollbärtig, schick gekleidet, ein Dr. Schaff, den, so Anna Kreon, Horst Königstein hasst. Er interessierte sich in den Achtzigern sehr für Zeitgeist, wollte ein entsprechendes Magazin aufmachen.

Gestern Abend aßen wir zusammen in der Kantine. Herr Dr. Schaff ruft eine neue Talkshow ins Leben. Frau Jahn gab die intelligente, aber selbständige Ehefrau, die teils assistiert, teils entschieden mit ihren eigenen Dingen befasst ist. Was spricht dagegen? Das Ehepaar verabredete sich auf später, den Wein, den man noch zusammen trinken würde.

Heute erfahre ich von Frau Jahn, dass sie gern liest. Zuletzt etwas von Uwe Timm,  „Die Erfindung der Currywurst“, ein dünnes Buch, aber ganz wunderbar (ich glaube, das Modewort „wunderbar“ habe ich von Karen Klamroth übernommen). Gegen 9.30 Uhr lässt sie sich eine neue Brille anmessen. Die jetzige ist „bifokal“, für nah und halbnah (die Bildschirme, die zu erkennen ich ebenfalls Mühe habe). Nie wieder, sie schüttelt ihr Köpfchen, werde sie eine solche Brille nehmen.

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Mittwoch, 10. November, a. a. O. – Ruhig glosendes Selbstgefühl im Café Marinehof. Bei dem „indischen Kartoffelsalat (scharf)“ liegt ein Blatt Chicoree, das einen Batzen Schmand sowie Mango Chutney beherbergt. Zuerst wurden Gabeln mit Kartoffelsalat dort hineingetaucht, das Chutney mit dem Schmand vermischend. Dann aber den Rest des Breis über den Lollo rosso schütten, auf dem der Kartoffelsalat lagert.

Das Glosen leitet von den Kunstbuchkäufen sich her, nebenan, bei Sautter + Lackmann („da kannst du froh sein, wenn du unter DM 500 wieder rauskommst“). Wer Kunstbücher kauft, ist selber einer geworden, von dem sie handeln. Hinzu kommt das Viertel weißer Landwein, der aus einem tonnenförmigen, ornamentfreien Glas getrunken wird; der blanke Holztisch stammt aus der Welt der Arbeit (statt der bäuerlichen).

Vom Café Marinehof in den Kaufhof, vom Kaufhof  in den Hauptbahnhof. Im Eingang („Wandelhalle“) versammelt sich das Publikum um einen jungen Mann, von dem schon ein Haufen Blut auf dem Steinboden liegt. Blutverschmiert ist die linke Seite seines Kopfes, den er unter Gestöhn immer wieder auf den Stein schlagen möchte, wovon sie ihn aber abhalten („beherzt“). Ein Epileptiker? Ein Junkie auf einem schlechten Trip? Später kommt der Rettungswagen, der Mann erhält eine Infusion und mustert neugierig, klar bei Sinnen, die Flasche, die zu seinen Häupten hängt. Man hebt ihn auf eine Trage.

Vom Hauptbahnhof zum Hotel in der Johnsallee. Auf dem Esplanade bleibt der Blick in dem Bart eines großen, schweren Mannes von Mitte 60 hängen. Das dichte graue Haar überwuchert nur das Kinn und die Backen, keine Koteletten und kein Schnauzer. Als hätte der Mann das Kinn in den Schaum auf einem Krug Bier tief hineingetaucht. Als hätte er im Urwald geschlafen, bäuchlings, und eine Pilzkultur hätte ihn als Heimstatt auserwählt.

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Donnerstag, 11. November, a. a. O. – Frau Jahn beschreibt ihrer sehr viel jüngeren Kollegin Bettina (groß, fleischig, niedlich) ein bestimmtes Hotel auf Gran Canaria: Gut sei es nur für Langschläfer und Verliebte; vorzügliche Ausstattung, glänzender Service – aber es liege zu weit ab von irgendeinem interessanten Geschehen.

Ihr Freund, hatte Bettina erzählt, sucht die ganze Zeit nach einem erschwinglichen Hotel im Süden, wo sie die Zeit zwischen den Jahren verbringen können, und da sei ihr das Hotel in Gran Canaria eingefallen, von dem Dagmar so geschwärmt habe… Kurze Einblendung mit der großen jungen Frau, wie sie nackt einen großen jungen Mann umfängt.

Wie gesagt, erklärt Dagmar Jahn, nur für Verliebte. „Ich bin immer verliebt.“

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Freitag, 12. November, a. a. O. – Sie kam ja nach Hamburg, erzählt Gesa Mayrle, weil ihr Lebensgefährte in Berlin sie nach elf Jahren verließ. Ihr Gesicht schaut kalkig aus, knallrot gefärbtes Haar, violette Pinkelpünktchen: „Schlechte Haut.“ Strahlendes Sonnenlicht kommt von der Elbseite über den Flur in ihr Büro.

Aber nach der Trennung ging die Geschichte weiter, auf die Wochenenden beschränkt. Stets bemüht sie sich am Freitag, so früh wie möglich den Zug nach Berlin zu kriegen, stets verpasst sie ihn. Mitternachts treffen sie dann in der Wohngemeinschaft, wo Gesa Mayrle haust, zusammen, trinken noch eine Flasche Wein und fallen todmüde ins Bett (kein Geschlechtsverkehr, lehrt die knappe Einblendung in meinem Kopf).

Am anderen Morgen verfügt sich der Lover wieder in seine Rechtsanwaltskanzlei, die praktischerweise um die Ecke, in der Kantstraße, residiert, wahrend sie ordentlich einkauft und ein ordentliches Essen kocht – „ist das nicht wahnsinnig!?“

Einmal die Woche geht sie zum Bodybuilding, ja, hier in Hamburg. Nein, nur bei den ersten Übungen tut es weh, vor allem hinterher, wegen des Muskelkaters. Dann läuft alles prima.

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Samstag, 13. November, Berlin. – Gestern Nacht, irgendwo zwischen Groß Ziethen und Kremmen, drängte sich hinter den Laster und vor mich ein Jetta aus NF, Nordfriesland, ein junger blonder Fahrer, allein in seinem Auto, und ich hupte wütend: Statt sich stoisch in das Schicksal einer Umleitung über die Dörfer zu fügen, das uns der auf der Autobahn, Höhe Fehrbellin, umgestürzte Laster bescherte: Vollsperrung – stattdessen suchte der Jungmann durch riskante Überholmanöver seine Position in der unendlichen Schlange zu verbessern.

Ich machte ihm keinen Platz, und so musste er mühsam quer einen finden, weil aus der Gegenrichtung schwere Laster kamen, denen er im Weg stand. Die Laster hatten zu verlangsamen und ihn höchst vorsichtig zu passieren, um ihn nicht zu rammen (keine Ungeduldsäußerungen ihrerseits).

Dann bewegte sich zwar unsere Schlange wieder weiter. Aber doch nur für ein paar Meter. Der Jungmann knipste das Innenlicht an und studierte seinen Berliner Stadtplan, wie er hineinkäme in die große, leuchtende Stadt, von der draußen in der mitternächtlichen Landschaft keine Vorahnung zu spüren war.

Wieder ein paar Meter voran, vielleicht sogar hundert. Der Jungmann zeigt Ungeduld und Verzweiflung, „er raufte sich die Haare.“ Und wieder ein Stückchen voran. Wir stehen jetzt auf einem Hügel und können in die Ferne schauen, wo die Leuchtschlange der Autos bis an den Horizont reicht.

Da fasst der Jungmann einen Entschluss. Er wendet auf der engen Straße und macht sich auf der weit weniger frequentierten Gegenfahrbahn davon.

Wohin? Dem Roman in meinem Kopf zufolge nach Husum, wo er am frühen Abend aufgebrochen war, um endlich das Mädchen in Prenzlauer Berg zu besuchen, das er kürzlich bei Karstadt kennengelernt hatte. Gleich lud sie ihn ein nach seinem Geständnis, er sei noch niemals in Berlin gewesen.

Die Fahrt in der Dunkelheit verlief glatt und geschwind. Bis Neuruppin, wo sich der Verkehr aufstaute, um in kleinen Portionen an der Ausfahrt Fehrbellin auf das Landsträßchen abzufließen. Hatte ihn während des ungehemmten Dahinsausens glosend das Selbstgefühl erfreut, welches ihm der Beischlaf mit dem Berliner Mädchen schenken würde  – so verwandelt sich während des Wartens der Film in ein flackerndes Gehäcksel, das ihn mit Ohnmacht und Ungeduld erfüllt.

Nach Husum zurückgekehrt, wird er sie nicht anrufen, sondern einen ungelenken Brief schreiben, wie ihn auf der nächtlichen Straße, stop and go, angesichts des Berliner Stadtplans glühend die Angst überfiel, niemals werde er den Weg zu ihr finden, durch die nächtliche Stadt hindurch. Lange Jahre wird er lauthals behaupten, wenn die Rede darauf kommt, nein, ihn ziehe nichts nach Berlin, kein Interesse. Und ebenso lange hegt und pflegt er die schmerzliche Überzeugung, das Mädchen aus Prenzlauer Berg wäre die große Liebe geworden.

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Dienstag, 16. November, Hamburg. – Konrad Figlarek schenkt mir nachträglich zum Geburtstag eine Flasche Slivowitz, der laut Etikett aus Zagreb, Kroatien, stammt, Marke Badel.

In Jugoslawien war er im Krieg, als Funker. So konnte er, was verboten war, die alliierten Soldatensender abhören. Unvergesslich der 30. April 1945, da meldete der Großdeutsche Rundfunk mit dem gehörigen musikalischen Brimborium, Adolf Hitler, der Führer, sei mit der Waffe in der Hand gefallen, bei der Verteidigung der Reichshauptstadt gegen den slawischen Untermenschen. Gleich darauf hörte Konrad Figlarek einen italienischen Partisanensender ab, aus dem eine enthusiastische Stimme rief: „Hitler e morto! Hitler e morto!“

Er eilte nach draußen, ein heißer Frühlingstag. Aus den blühenden Wiesen schwärmten Maikäfermassen in die blühenden Wälder. Konrad Figlarek stiefelte einen Weg zwischen Wiese und Waldrand entlang, Maikäfer fingen sich auf seiner rechten Körperhälfte. Leise sang er vor sich hin: „Hitler e morto! Hitler e morto!“

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Mittwoch, 17. November, Darmstadt. – Aus dem ICE gesehen erscheint die vertraute Landschaft zwischen Kassel und Fulda unbekannt. Die Trasse, die für ihn gebaut wurde, verleiht ihre eine neue Konstruktion: Zahllose Tunnel durch das nordhessische Mittelgebirge, zwischen denen immer nur augenblicksweise die heimatlichen Täler erscheinen. War das also gerade Adelshausen im Vordergrund? Im Hintergrund, muss ich folgern, Spangenberg? Nein, hier erst kommt das Tal, linkerhand der Hügel, auf dessen Stirn der Wald wie hochgekämmtes Haar zurückweicht.

Mildes goldenes Nachmittagslicht. „Dort wohnt das Glück.“ You can’t go home again, es existiert auch keine Wohnung mehr, die die elterliche wenigstens in Erinnerung rufen könnte, nur noch Gräber, der Vater, Fräulein Salzmann, der Hund N. – Gleichzeitig erfüllt mich der Gedanke, dass unsere kleine Stadt jetzt in ganz anderen Händen liegt, mit einer seltsamen Beruhigung.

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Donnerstag, 18. November, a. a. O. – Beim Lunch – „deftig“: Leberwurst, Blutwurst, Senf, Graubrot – nimmt mich ein alter Herr beiseite, einer aus der Unternehmerfraktion des Symposions, zu dem sich hier Kapital und Dichtung versammeln: double breasted Blazer mit Goldknöpfen, blaues Hemd, korrekt geknoteter Schlips, unverwirrbarer Scheitel.

Er wolle doch meine Frage, was nach der „lean production“ komme, beantworten: Das wisse man nicht. Das Konzept reagiere auf die Krise, die sich bei uns wegen des Vereinigungsbooms um zwei Jahre verzögert habe, alle Nebenkosten so weit wie möglich abhungern. (Der niedersächsische Ministerpräsident Gerhard Schröder stellte es September so dar, als entstünden dabei Formen von Arbeitsdemokratie: Das Management lässt sich vor Ort von den Arbeitsgruppen das Fett zeigen, das weg soll – schließlich wissen die Arbeiter an besten, wo es sich breit macht.)

Eins aber wisse er sicher. Wenn Herr Professor Weidemann vorhin behauptet habe, es werde nie wieder wie früher sein, keine sieben, sondern siebzig magere Jahre: Das sei Unfug, „das kriegen wir wieder hin.“ Er habe weit schlimmere Krisen erlebt, und die wurden schließlich ebenso überstanden.

Er wird, werde ich die Geschichte weitererzählen, ungefähr selber 70 Jahre zählen. Während Herr Professor Weidemann und die anderen, grau im Gesicht vor Sorgen, um die 50 sind und die erste große Krise erleben.

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Samstag, 20. November, Berlin. – Das Hilton am Gendarmenmarkt unterhält seinen Barbetrieb an verschiedenen, inselhaft vereinzelten Stellen der großen Eingangshalle. Wir sitzen halblinks vorn, Jörg Lau, Alke Wierth, ihr Freund Niels Werber, Kathrin und ich. Die Herren trinken Radeberger, die Damen Weißwein aus kleinen Gläsern („daraus trinkt man eigentlich >Dessertwein<!“).

Wir witzeln über die domhohe Halle. „Das ist der Salon der >Titanic<. Gleich bricht dort drüben das Nordmeer durch die Spiegelwand.“ – „Aber man wird in der >Titanic<  keine Autos auf der Straße gesehen haben.“

Jörg Lau wird ausgefragt, wie er das Abendessen bei Sartorius ertragen hat, inmitten von lauter Prominenz? Ich, trompetet Kathrin, wäre von einem Schweißausbruch in den nächsten gestürzt. Ganz einfach, erklärt Jörg Lau, er habe sich selbst schlicht zum „jungen Mann von der taz“ ernannt und zugewartet, bis man ihn als solchen outete: „Ach, Sie sind also der junge Mann von der taz…“

Sie habe ihn beobachtet, erzählt Kathrin später, „wie er es macht.“ Einmal sei das Gespräch über Luhmann an einem Punkt gewesen, wo ihm einzugreifen wichtig war, aber Dr. Werber war schneller. Lau zieht sich melancholisch ein wenig zurück, resignierend – aber da ergibt sich eine neue Gelegenheit, er ergreift sie sofort und macht doch noch seinen Punkt.

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Montag, 21. November, Hamburg. – Die Szene wiederholte sich an jeder Tankstelle entlang der Autobahn: Die Männer standen rätselnd vor den Regalen, auf dem die blauen Flaschen mit dem Waschmittel hätten stehen sollen in Batterie, und fanden sie nicht.

Ein träumerisches Rätseln. Ich fragte mich nämlich angesichts all der anderen Flaschen, ob man sie nicht irgendwie… Maschinenöl; destilliertes Wasser; Kühlflüssigkeit. Aber keinem von uns wollte der geniale Einfall, wie sich diese Flüssigkeiten zu Waschmittel umfunktionieren lassen, kommen.

Also reinigen wir eingehend die Frontscheibe. Ich mit meinem Schwamm, andere mit dem Wasser, das an jeder Tanksäule herumsteht. Froh fahren wir wieder los, mit dem klaren Blick durch die klare Scheibe (man versteht gar nicht mehr, wie man sie so lange halbblind ertrug).

Aber schon nach ein paar hundert Metern zeichnen die ersten Spritzer Schneematsch sich drauf ab, von den Vordermännern aufgewirbelt. Hoffnungsvoll betätigst du den Wischer (schließlich ist er es, der ein solches Problem beseitigen soll, that’s the idea) – aber er verteilt bloß den Schmutz gleichmäßig auf der Scheibe.

Einmal, während eines Staus, habe ich die geniale Idee. Ich kurble mir das linke Seitenfenster herunter und wische im Sitzen, mit weit ausgestrecktem Arm draußen eine Stelle oben links frei, durch die ich ausgezeichnet hindurchschauen kann. Tiefe Befriedigung. Bloß dass auch diese Stelle, kaum hat sich der Stau aufgelöst und wir fahren flott dahin, wieder verklebt.

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Dienstag, 22. November, a. a. O. – Das Telefon klingelt, Anna Kreon mit einer ganz dünnen Stimme. Sie hocke unten in Horst Königsteins Zimmer, habe sich noch knapp dorthin flüchten können. Ein schwerer Angstanfall.

Ich denke an Herz und Kreislauf. Ob es im Haus oder in der Nähe einen Arzt gibt?

Das hilft doch nichts.

Ob ich runterkommen solle?

Ja, bitte.

Sie sitzt an Königsteins Schreibtisch, das Gesicht in die Hände gestützt, zittrig. „Das sind die Ängste.“ Wir einigen uns darauf, dass Alkohol helfen würde, kein Schnaps sondern Weißwein. Ich fülle in der Kantine auch ein Glas für mich ab und trage die beiden vorsichtig zurück, wobei mir ein junger dunkler Mann die Türen aufhält, Ausländer.

Anna Kreon erleidet solche Anfälle seit ihrem 15. Lebensjahr. Manchmal bleiben sie unter Kontrolle; ein andermal treten sie jeden Tag überwältigend auf: So wie heute. Sie parkte ihr Auto, trat durch den Haupteingang, Leute kamen auf sie zu, wollten sie sprechen – da brach die Angst aus.

Lange Jahre ging sie deswegen in Therapie. Die aber kaum gefruchtet hat (sie meinte die Therapie abgeschlossen zu haben, kehrte aber wegen neuerlicher Anfälle jetzt in sie zurück). Als sie ihren Wein ausgetrunken hat und die Beruhigungstablette zu wirken beginnt, betreten wir den Fahrstuhl und fahren zum Schneideraum hinauf. „Haben Sie denn eine Ahnung, was die Angst zu bedeuten hat?“ – „Doch, doch, es ist die Wut.“

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Donnerstag, 25. November, a. a. O. – Beim Verzehr des Brötchens mit Fleischsalat, schon gar des Brötchens mit Lachs und Meerrettich, Sahnemeerretich, beschmaddere ich mich fürchterlich. Sie waren zu reichlich belegt; ich war zu gierig. Das Brötchen am Gänsemarkt, ein außerordentlich beliebter Stehimbiss, wo feine Damen ebenso wie kleine Angestellte diese unwiderstehliche Art von Heißhunger stillen.

Ich brauche mehrere Papierservietten, um die ärgste Schmiererei an Mund und Händen zu beseitigen. Da entwickelt sich eine Genreszene.

Neben mich platziert sich ein kleiner Mann in missfarbener Joppe, er nickt mir grüßend zu bei meinen Wischarbeiten. Er kann sich nur eines der kleinen Tässchen Kaffee leisten, mit Milch und Zucker, die der Laden kostenlos ausschenkt. Er nickt noch einmal grüßend und hat eine Frage.

Ob ich ihm einen deutschen Text erkläre? Er spreche Deutsch, ohne es lesen zu können. Ein Schreiben des Arbeitsamtes. Man könne ihm in puncto Arbeitslosenhilfe noch keinen Bescheid erteilen, es fehle die Sozialversicherungsbescheinigung. Man werde ihm einen weiteren Einvernahmetermin mitteilen.

Dankbar nimmt er die Sache mit der Sozialversicherung zur Kenntnis, er hat verstanden. Seine Selbstachtung sitzt in seinem Schnurrbärtchen, einem grauen Bürstchen im Stil von Clark Gable. Er wird so alt sein wie ich; wegen meiner gegenwärtigen Dostojewskilektüre weiß ich genau, dass ich einen Russen vor mir habe.

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Samstag, 27. November, Berlin. – Ein Labyrinth von schlecht ausgeleuchteten Räumen, Werkstätten; die Ateliergemeinschaft, zu der Julia Ziegler gehört, feiert ein Fest. Ich weiß erst später, wie wir hineingelangten, ihr Atelier, wo um eine improvisierte Tafel Gäste im Kerzenschein hocken und die Obstkuchen verzehren, von denen so viele auf dem Tisch prangen. (Allerdings macht es Schwierigkeiten, eine Ecke Obstkuchen auf den Pappteller zu hebeln: Zuviel Pudding unter der Obstschicht; er weicht den Teigboden auf, weshalb das Kuchenstück zerfällt.)

Kathrin unterhält sich mit Ingrid Meyer, einer Künstlerin, der ich es nie verzeihen werde, dass wir eine ihrer Arbeiten abzudrucken uns geweigert haben. Ich stehe herum, nippe an meinem Weißwein und lächle verbindlich. Da kommt Julia Ziegler, küsst mich, wie immer, zur Begrüßung. „Du siehst aus wie die Mädchen früher.“ Sie trägt eine schwarze Hose „mit Schlag“ und erzählt, die habe einst ihrer Mutter gehört. „Sie wusste nie, wozu sie die Hose aufhob – jetzt hat es sich geklärt: für mich.“

Ich forsche die anderen Räume aus. Es gibt noch einen größeren, wo Gäste sitzen, und hier besteht das Speisenangebot statt aus Obstkuchen aus Tomatensalat mit Schafskäse, Weißbrot mit Butter. Der gestaltlose Hunger, die Gier steigt auf, doch weise ich sie zurück. Fraß wäre Geselligkeit, und die will ich vermeiden.

Kathrin sitzt unterdessen in dem Obstkuchenraum neben einer jungen Frau, die uns die ganze Zeit mit neugierig-sehnsüchtigen Blicken verfolgte. Es gibt aber Streit.

Nietzsche! sagt die junge Frau, sei ja so aktuell! Und heute so gut wie vergessen.

Na, hören Sie mal, sagt Kathrin. Die neuere französische Philosophie wurzelt in Nietzsche: Foucault, Derrida, Deleuze.

„Ich meine: jetzt und hier!“ antwortet die junge Frau, schon an der Grenze.

Studieren Sie Philosophie? fragt Kathrin.

„Ja. Ich schließe gerade meine Dissertation über Philosophie als Homosexualität ab.“ Das ist erfunden und soll impertinent wirken und zugleich einen philosophischen Akt darstellen.

Ach, sagt Kathrin kalt, Philosophie als Homosexualität.

Aber die junge Frau möchte in Kontakt bleiben. „Studieren“, sagt sie versuchsweise hochmütig, „étudier. Wer Philosophie liest, studiert sie auch…“

Aber Kathrin schweigt.

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Montag, 29. November, Hamburg. – Klaus Wildenhahn möchte mir in Gestalt dieses Restaurants Portugal näher bringen, das er seit neuestem liebt. Dienstags geht er abends mit seiner Freundin Franziska in die Volkshochschule, Portugiesisch lernen.

Was er essen wird, weiß er schon genau, „eine Art Bauernfrühstück, Kartoffeln, Ei – aber statt des Schinkens Stockfisch.“ Ich soll eins der Tontopfgerichte probieren, Huhn oder Fasan.

Aber als der Kellner kommt, Portugiese, klein, dick, mit Glatze und Brille: durchaus appetitlich – da muss er mich vor den Tontopfgerichten warnen. Die Zubereitung dauert über eine Stunde. Denn das Gesellschaftszimmer, er weist hinüber, besetzen 15 Gäste, und die beschäftigen die Küchenkräfte intensiv. Wenn ich nicht allzu lange warten will, sollte ich so etwas wie die Fleischplatte nehmen, verschiedene Koteletts und Filets und Pommes frites und Salat. Da ich unter dem Einfluss meines Vaters stehe und das nehme, was er auf Geschäftsreisen gern aß, sage ich ja. Es wird ein langweiliges Gericht sein.

Ernst geben sich die Portugiesen, tiefernst, erzählt Klaus Wildenhahn. Er entwickelt eine ganze Mythologie. Er hat ein Fotobuch mitgebracht, Cafés und Kneipen in Lissabon, wie die ernsten Portugiesen ernsthaft trinken, Dokumentaraufnahmen ohne Zusatzlicht, „wie Sie es mögen.“

Er sei da nicht allein, andere haben es ebenfalls bemerkt: Portugal ähnelt der DDR… Er lässt mich von seinem Stockfischgericht probieren: Vorzüglich. „So was hätte die DDR als Standard einführen sollen. Statt Schweinesteak überkrustet mit Geflügelleberragout.“

 hand

Mittwoch, 1. Dezember, Berlin. – Glänzend läuft die Sache, denke ich behaglich. Gleich komme ich dran, weil die Schlange sich für reguläre Tickets bildet, während ich eine Pauschalreise buchen will.

Wer mich bedient, das ist eine ganz junge Frau, genau besehen ein Mädchen. Mitleidig betrachte ich ihre billige Strickjacke, die Knuddeln, die sich darauf gebildet haben; das ungeschminkte Gesichtchen – „mit mir soll sie es gut haben.“

„Sie stehen davor“, sage ich gönnerhaft, als sie den Unger-Katalog nicht findet. „So haben wir alle mal angefangen“, als sie eine Kollegin rufen muss, weil sie sich, wie sie erklärt, in Pauschalreisen noch nicht auskennt.

Aber dann bin ich es, der in Fassungslosigkeit verfällt. Sie ruft bei Unger an und lässt mich wissen, dass für den 23. wie für den 24. Dezember schon alle Flüge nach Rom ausgebucht seien, von den Hotels zu schweigen. „Aber Sie könnten eine Parisreise buchen.“

Nein, danke, stammle ich, da muss ich noch mal drüber nachdenken, vielen Dank, trotzdem.

 hand

Donnerstag, 2. Dezember, a. a. O. – Fette Schneeflocken beginnen da die Einkaufszone in der Wilmersdorfer zu berieseln, dicht genug, dass manche ihren Regenschirm öffnen, andere den Schutz der Fassaden für das Weitergehen suchen. „Schnee!“, grölt der Berber im Rollstuhl und nimmt noch einen Schluck, „Schnee! Davon ist doch überhaupt nicht die Rede gewesen. Keine Voraussage!“ Es begeistert ihn, dass die gesellschaftlichen Apparate schon wieder ihre Pflichten verletzt haben.

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Sonntag, 5. Dezember, a. a. O. – Lewis Coser trägt unter dem Sakko, über dem gestreiften Geschäftshemd (mit Schlips) eine dicke graue Strickjacke. Sie ist in seine Hose gestopft und will immer wieder herausrutschen, weshalb er sie immer wieder zurückstopfen muss.

Er lächelt freundlich zu allen Wendungen, die das Gespräch nimmt. Aber auch mechanisch, das Babylächeln, Identifikation mit dem Aggressor, damit wir ruhig bleiben. Er ist 80 und sehr müde; das Flugzeug von Boston nach New York hatte Verspätung, das von Frankfurt nach Berlin ebenfalls. Er war 24 Stunden ununterbrochen unterwegs; seine Frau, Rose, auf die wegen der Dialyse, der sie sich morgen früh unterziehen muss, öfter die Rede kommt, legte sich gleich schlafen.

Er ist in Berlin geboren, die Familie wohnte in der Knesebeckstraße, Charlottenburg. Sein Vater hieß Kohn und betrieb eine bekannte Börsenmaklerfirma,

Kohn & Bernstein. Den Namen Coser hat er aus dem Telefonbuch; er sollte seinen Kindern nützen.

Ludwig Kohn studiert in Paris und will über die Darstellung der Sozialstruktur im europäischen Roman des 19. Jahrhunderts promovieren. Aber sein Professor sagt, c’est sociologie, und so kam er dazu. – In die USA exiliert, schlägt er sich zunächst als Garderobenmann durch, dann als Angestellter einer Speditionsfirma. Es dauerte, bis die Universitätskarriere weiterging.

Rose, wird nach seiner Verabschiedung weitererzählt, stammt aus der kommunistischen Familie Laub, Pankow, die am Alexanderplatz eine berühmte Buchhandlung betrieb. Dazu einen Verlag, der Rosa Luxemburg veröffentlichte.

Tagelang ergehen Kathrin und ich uns in Triumphgefühlen, dass er die Ehrendoktorwürde der Humboldt-Universität erhält. Nach der Verleihung wird Professor Müller, der zu dem Abendessen gestern eingeladen hatte – Brühe mit Gemüsejulienne, Lammkeule, Beerensalat – erzählen: nach der Verleihung habe Lewis Coser sich dahingehend bedankt, dass er ja von beinahe jeder Universität auf der Welt so geehrt werde, aber dieser Ehrendoktor jetzt bereite ihm, „nach 60 Jahren Vertreibung“, eine unvergleichliche Freude.

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Dienstag, 7. Dezember, a. a. O. – Er rufe an, erzählt Höge mit Haschisch-Heiterkeit, um rechtzeitig bekannt zu machen, dass er dies Jahr zwischen Weihnachten und Neujahr den Hund nicht als Logiergast beherbergen könne, ja.

Er fahre in die Tschechoslowakei (Tschechien, Slowakei), auf Recherche. Die Erdgasleitung, die seinerzeit mithilfe der Bruderländer gelegt wurde wegen des westlichen Röhrenembargos, du erinnerst dich? Die Röhren hätte die SU in der Raketenproduktion verwenden können. Er wolle wissen, wie die Arbeiter an der Gasleitung inzwischen die Geschichte sehen.

Vielleicht könne Sabine Vogel, die heute aus Chicago zurückkehrt, den Hund beherbergen. Er werde schon mal fragen.

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Freitag, 10. Dezember, Amsterdam. – In dem Eetcafé, als wir auf die mit Lachsmousse gefüllte Hühnerbrust warten, wendet sich Claus Ridder mir zu, als böte sich hiermit die letztmögliche Gelegenheit.

Er ist ein Jahr jünger als ich, ein magerer Mann mit grauen Locken, kupiert, so dass sie federhaft abstehen. Der Schnauzer ist noch schwarz – Goldrandbrille, dunkle Augen von quälender Traurigkeit, wenn er nicht in Aktion, wenn er nicht unter Beobachtung sich befindet. Nach Szondi, Habermas, Knödler-Bunte: noch einer als  Walter-Benjamin-Verkörperung (was er über B. sagt, erkennt man leicht als kalte Abweisung seiner Magie).

„Ich  verstehe mich nicht als Professor, sondern als Autor.“ Seine sehr viel jüngere Frau sitzt ein paar Plätze weiter, kleingelocktes, ultralanges Haar – „sie macht jetzt Abitur“, wird Scheel erzählen. Aber der alternde Mann empfängt keinen neuen Lebensmut von ihr, so scheint es. Und die Zeiten, die Verhältnisse haben sich dahingehend geändert, dass ihm als Fünfzigjährigen kein automatischer Beifall zukommt wegen der Eroberung.

Dann muss er mir gleich noch seine Familienverhältnisse erklären, dass ihm sein Vater keinen Ödipuskomplex zumutete. Danach hatte ich doch gar nicht gefragt.

Ein Studienrat, der 99 Jahre alt wurde und bis 79 unterrichtete. Die Mutter litt immer an Eifersucht seinen Schreibtisch betreffend. Neben der Arbeit nur einfache Freuden, kaum mal von der Buchseite in den Fernseher hineingelugt. Sehr deutlich eine Erinnerung aus der Nachkriegszeit: Der Vater aß drei Scheiben Brot ohne die Butter, von der ihm eine kleine Portion zustand; die Marmelade oder was ohne jedes Schmiermittel auf dem trockenen Backwerk – dafür aber patschte er die ganze Butterladung auf die vierte Brotscheibe. Immer mit dem Fahrrad unterwegs.

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Samstag, 11. Dezember, a. a. O. – W. Martin Lüdke hat einen Prozess angestrengt, der ihn mit unwiderstehlicher Macht in den Besitz der Zeitschrift Merkur bringen wird, ich habe keine Ahnung, was wir noch gegen ihn mobilisieren könnten. Die Sitzungen finden im Freien statt, vor dem U-Bahnhof Hallerstraße in Hamburg-Rothenbaum, ein helles Winterlicht, sogar Sonnenschein. Eben erklärt eine junge Frau als Zeugin oder als Schöffin, sie sei – als Mitglied der Redaktion? – viel zu sehr Punk gewesen, um der Generallinie der Zeitschrift zu entsprechen…

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Sonntag, 12. Dezember, Hamburg

Als sie Helmut Salzinger kennenlernte, erzählt Anna Kreon, war sie 24, er 27, eine lange eingelöste, uneingelöste Liebesgeschichte. Denn er war ja bald verheiratet. Sie versuchten eine ménage à trois, es funktionierte aber nicht.

Aus dem Betrieb konnte er sich nur zurückziehen, weil er etwas Geld besaß, Mietshäuser in Berlin. „Er hat die Anpassung verweigert.“ (Dass sie ihm darin nicht folgte, wird sie sich stets vorwerfen.) Er habe sich aufs Land zurückgezogen, in die Nähe von Cuxhaven; mit seiner Rock-Theorie, dem Haschisch, den Gedichten konnte sie nur wenig anfangen. Zuletzt das Gartenbuch – „ich bin eben Städterin.“

Seit Mitte 20 war er schwer zuckerkrank, drei Injektionen am Tag. Die Ärzte prophezeiten, eines Tages würden seine Nieren kaputt gehen. Zum Schluss hatte er zu Hause  ein Gerät für die Dialyse. – Er starb an einem Infarkt, als sie ihm nach der Katheteruntersuchung die Kontrastflüssigkeit wieder aus dem Körper pumpten. Doch Anna Kreon schließt keine Tirade gegen die Ärzte als solche an.

Er war ein ungemein ansehnlicher Mann, von Anfang bis Ende. Einmal traf sie ihn unerwartet in Hamburg, in seinem Parka und den Jeans: Ganz unverändert, als wäre er noch der junge Mann. Bloß dass seine Haare weiß geworden waren. Tränen traten ihr in die Augen.

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Sonntag, 26. Dezember, Rom. – Signor Walter stellt uns, als wir die Via Tomacelli hinunter zur Piazza di Spagna eilen, ein älterer Herr mit Pepitahut und Pepitamantel, schlank, freundlich, intensiv blaue Augen. Ob wir Deutsche seien, vielleicht – ach, wie gut sich das trifft! Ob wir ihm sagen können, wo der Bus 81 abfahre? Er müsse ins Krankenhaus, zu seiner Frau…

Wir bleiben stehen, um ihm zuzuhören, teilnahmsvoll. Dabei erleichtert mir der Sonnenschein das besorgte Zusammenkneifen der Augen. Signor Walter strahlt uns mit Vertrauen an während seiner Erzählung.

Letztes Jahr fuhr seine Tochter samt Mann nach Spanien in die Ferien – „ich brauche nicht weiterzureden.“ Signor Walter klemmt die Augen zusammen, als müsse er Tränen zurückdämmen. „Tödlicher Unfall mit dem Auto.“ So habe er die beiden Kinder aufgenommen, Zwillinge, die jetzt bereits am Krankenbett der Oma weilen.

Signor Walter betreibt in Düsseldorf eine Gaststätte, Zum guten Tropfen. Aber sie wollten Weinachten mit den beiden Siebenjährigen nicht zu Hause verbringen, „stille Nacht, heilige Nacht“ und die tränenreichen Erinnerungen an die toten Eltern. So beschlossen die Großeltern mit den Enkeln, „es sind ja jetzt meine Kinder“, nach Italien zu reisen, am Heiligen Abend Mittenachtsmesse im Petersdom.

Wir erreichen die Kreuzung Via del Corso. Woher wir denn kommen aus Deutschland? fragt Signor Walter. „Ach, aus Berlin! Erlauben Sie, dass ich Ihnen die Hand drücke. Putbusser Straße, Humboldthain, das ist meine alte Gegend! Merken Sie, wie kalt meine Hände sind?“

Das italienische Geld ging ihm aus, als sie in Rom eintrafen, und er hielt am Straßenrand, damit Oma in der Bank einen Euroscheck einlösen könne, „wir wollten die kleinen Mädchen nicht allein im Auto lassen.“ Als Oma aus der Bank auf die Straße trat, rissen ihr zwei Mopedfahrer die Handtasche mit dem Geld (und den Euroschecks) weg, Oma stürzte und brach sich die Schulter.

„Ich habe mir eine ganz billige Pension genommen. Ich habe das Auto in der Großgarage am Bahnhof abgestellt. Ich habe ja keinen Pfennig Geld. Bei der Botschaft meldet sich bloß der Anrufbeantworter. Mit dem Bus muss ich schwarzfahren. Meine Frau und die beiden Enkel erwarten mich dringend.“

Wir wünschen ihm Glück und verabschieden uns. Wir marschieren fassungslos weiter in Richtung Piazza di Spagna, als wir hinter uns seine Schritte trappeln hören. „Vielleicht glauben Sie mir nicht…“ – „Es klingt alles so unwahrscheinlich, eine solche Häufung von Unglück“, sagt Kathrin dankbar. – „Hier“, er zückt seine Brieftasche, „mein Personalausweis mit dem Geburtsort Berlin.“ Ohne Brille kann ich nichts lesen. „Und hier der Parkausweis von Florenz und der Parkausweis vom Bahnhof.“ Dochdoch, wir glauben ihm und verabschieden uns nochmal, alles Gute.

Wir gehen weiter und hören erneut die trappelnden Schritte. Ob wir etwas zu schreiben haben, er möchte uns unbedingt seine Adresse geben, damit wir uns mal melden. Zum guten Tropfen, in Düsseldorf. Gut, Kathrin fingert ein weißes Blatt aus ihrer Handtasche, Signor Walter aus seiner Brieftasche einen Patentstempel, den er darauf presst, „Paul Fr. Walter/ Werstener Dorfstr. 160/ 4000 Düsseldorf/ Tel. 203346“. So erfahre ich, dass wir mit Signor Walter befasst sind. „Schreiben Sie mir mal.“ Wiederum Abschied und Segenswünsche.

Beim dritten Trappeln wird klar, dass Signor Walter das Spiel verloren hat. Ich sehe, wie Kathrin sich, verlegen lächelnd, halb nach ihm umwendet. „Verzeihen Sie.“ Er bleibt in der Entfernung stehen. „Verzeihen Sie, wollen Sie mir nicht wenigstens eine Cola kaufen?“ Weder Kathrin noch ich sagen was. „Verzeihen Sie. Und fröhliche Weihnachten.“

Beim U-Bahnhof angekommen, haben wir das Ergebnis erarbeitet, ein klassischer Schnorrer, wie sie so leicht in Italien hängen bleiben, „der Baron Corvo.“ Trotzdem werde ich den ganzen Tag das Bild nicht los, wie er im Krankenzimmer eintrifft, wo die beiden Mädchen Oma umschweben wie die Putten Mutter Maria. „Dabei gibt es kein Krankenzimmer“, resümiert Kathrin kalt, „von den beiden Mädchen zu schweigen. Er hat einen entscheidenden Fehler gemacht. Mit der Erweiterung der Geschichte wurde sie immer unwahrscheinlicher.“ – „Ein interessanter Fall für die Narratologen.“