Falsche Freunde

Eine Gruppe von Wissenschaftlern und Philosophen aus Deutschland, Österreich und der Schweiz hat Anfang Februar das Netzwerk Wissenschaftsfreiheit [1. https://www.netzwerk-wissenschaftsfreiheit.de] gegründet. Das Netzwerk möchte Verletzungen der Wissenschaftsfreiheit dokumentieren und kritisieren.

Hat dieses Netzwerk nicht ein hehres Ziel? Muss nicht jeder Wissenschaftler, jeder Bürger, aufschreien, wenn die Erforschung und Lehre bestimmter Fragen staatlich verboten wird oder Universitäten ihre Autonomie genommen wird (wie gegenwärtig in Ungarn, der Türkei oder Serbien)? Muss man sich nicht mit der Central European University solidarisch zeigen, die Budapest verlassen und nach Wien umziehen musste? Ja, man muss solche Missstände klar benennen und kritisieren. Aber muss man deswegen auch das neue Netzwerk unterstützen? Nein, das muss und sollte man keineswegs.

Warum? Weil es diesem Netzwerk nur dem Namen nach um Wissenschaftsfreiheit geht. Es geht diesem Netzwerk nicht darum, Vorfälle zu kritisieren, bei denen die freie Themenwahl in Forschung und Lehre durch den Staat – oder auch durch forschungsfördernde Unternehmen – eingeschränkt oder abgeschafft wird. Dies wären klare Fälle, in denen Wissenschaftsfreiheit durch wissenschaftsexterne Faktoren eingeschränkt oder gänzlich abgeschafft wird. Im Gegensatz dazu geht es dem Netzwerk offenbar um ein anders gelagertes Phänomen: um einzelne Wissenschaftler, die innerhalb der wissenschaftlichen Community von ihren Fachkollegen, Studierenden und Universitätsleitungen kritisiert wurden und werden – sowohl für ihre eigenen Aussagen als auch die Aussagen von Personen, die sie zu Vorträgen an Universitäten eingeladen hatten. Mit dieser Ausrichtung setzt das Netzwerk die Schönecker-Kontroverse inhaltlich und teils auch auf personeller Ebene fort.

Innerwissenschaftliche Kritik an Aussagen (oder auch an Forschungsvorhaben) von Wissenschaftlern und Personen, die sie einladen, ist in der wissenschaftlichen Gemeinschaft eine alltägliche und zu begrüßende Praxis. Diese Praxis ist nicht nur mit der Wissenschaftsfreiheit der Kritisierten vereinbar, sondern sie ist gleichzeitig ein lebendiger Ausdruck derselben Freiheit ihrer Kritiker – d.h. der Freiheit, weitgehend unabhängig von wissenschaftsexternen Instanzen (wie z.B. dem Staat) forschen und lehren zu können. Wenn Aussagen z.B. als rassistisch oder als Klimawandelleugnung (oder allgemeiner als Wissenschaftsskeptizismus) kritisiert werden, dann hat diese Kritik meist zwei verschiedene Dimensionen, die man auseinanderhalten sollte.

Manche Kritikpunkte sind im Bereich der wissenschaftlichen Qualitätskontrolle angesiedelt. Wissenschaftler (bzw. Personen, die sie an eine Universität einladen) werden z.B. dafür kritisiert, dass ihre Thesen und Argumente empirisch nicht fundiert sind, oder dass sie einen Mangel an einschlägigen Sachkenntnissen, an Vertrautheit mit dem aktuellen (inter)disziplinären Forschungsstand und/oder an methodischer Kompetenz aufweisen. Zudem wird einzelnen Wissenschaftlern und ihren Gästen vorgeworfen, dass sie die Normen guter Forschungspraxis unterlaufen, indem sie z.B. verfügbare, relevante Daten ignorieren. Es ist erstaunlich, dass Kritik, die auf wissenschaftlicher Qualitätskontrolle basiert, keinerlei Erwähnung im Manifest des Netzwerks findet.

Eine andere Art von innerwissenschaftlicher Kritik besteht in Argumenten, die auf innerwissenschaftliche Normen und Werten beruhen. Neben rechtlichen Regelungen zur Wissenschaftsfreiheit selbst, die das Netzwerk anerkennt, sind u.a. folgende zu nennen: ethische Leitlinien bei Experimenten, die Festsetzung von Förderschwerpunkten mit Gemeinwohlorientierung, verschiedenste Gleichstellungsmaßnahmen im Wissenschaftsbetrieb, Normen guter Förderpraxis, die Pflicht zur Offenlegung von Interessenkonflikten, und die Beschreibung und Bewertung von Risiken, die aus der Forschung für die Gesellschaft, die Umwelt und auch für die Wissenschaft selbst entstehen können. Diese Liste ließe sich leicht fortsetzen und spezifizieren. Wissenschaft ist kein moral-, rechts- und politikfreier Raum, in dem wertendende und normative Überlegungen lediglich wissenschaftsexterne, ideologische Störfaktoren sind, wie es das Netzwerk nahelegt. Wer wirklich verstehen möchte, wie Wissenschaft funktioniert, muss anerkennen, dass es diese normativen Dimensionen der Wissenschaft gibt. Diese stellen de facto eine weitere, legitime Quelle für innerwissenschaftliche Kritik dar.

Wie gut oder schlecht Kritikpunkte, die auf Qualitätskontrolle oder innerwissenschaftlichen Normen und Werten beruhen, im Einzelfall auch sein mögen, innerwissenschaftliche Kritik zu äußern, stellt keine Einschränkung von Wissenschaftsfreiheit dar. Man kann sicherlich die Frage stellen, in welcher Form solche Kritik geäußert werden sollte – eine Frage, die das Netzwerk aufwirft. Darf Kritik nur in den üblichen Bahnen der akademischen Diskussion vorgebracht werden? Oder darf sie auch als Protest artikuliert werden, der akademische Veranstaltung stört? Das ist ein diskussionswürdiges Thema. Aber – und dies ist entscheidend – es hat mit Wissenschaftsfreiheit nichts zu tun.

Verschiedene Formen der innerwissenschaftlichen Kritik als Angriff auf die Wissenschaftsfreiheit zu begreifen, ist also nicht nur falsch, sondern birgt auch mindestens zwei Gefahren. Erstens laufen die Mitglieder des Netzwerks Gefahr, die gravierenden Probleme ihrer Kollegen (z.B. in Ungarn) zu relativieren, deren Freiheit in Forschung und Lehre tatsächlich durch den Staat eingeschränkt wird. Damit leistet das Netzwerk der Wissenschaftsfreiheit sicherlich keinen Dienst. Dies steht im Widerspruch zum Hauptziel des Netzwerks, Wissenschaftsfreiheit befördern zu wollen. Zweitens ist die Gefahr zu groß, beliebige Gegenargumente als Angriff auf die eigene Wissenschaftsfreiheit pauschal abzutun und damit jede Debatte im Keim zu ersticken. Dies untergräbt ein weiteres, selbstgestecktes Ziel des Netzwerks, sachorientiere Debatten durch den Austausch von Argumenten zu unterstützen.

Das Netzwerk täte daher gut daran, seine Positionen zu Wissenschaftsfreiheit grundlegend zu überdenken oder sich einen anderen Namen zu geben.

Alexander Reutlinger forscht und lehrt – ganz frei – an der LMU München. Dort arbeitet er zu verschiedenen Themen der Wissenschaftsphilosophie.