Das erwachende Einhorn. Konstanten und Perspektiven für das China von heute

Es sind mehr als eineinhalb Jahrhunderte her, daß Hegel in seinen Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte China als »den ältesten Staat« bezeichnete, »der dennoch eigentlich gar keine Geschichte« habe. Dieses berühmte Verdikt hatte einen großen Einfluß nicht bloß auf spätere Historiker wie etwa Ranke, der China schlichtweg den Völkern »des ewigen Stillstandes« zurechnete. Entscheidender war seine Wirkung auf Marx, der China wie auch andere östliche Völker durch die sogenannte »asiatische Produktionsweise« charakterisiert sah: Große Arbeiten unter staatlicher Aufsicht, prinzipielles Gemeineigentum am Boden, Bürokratie, Dorfkommunen und Gewaltherrschaft sollten für sie typisch sein. Vor allem aber sollten sie einen statischen Charakter besitzen, im Gegensatz zu den europäischen Völkern, die sich stufenweise auf die klassenlose Gesellschaft zubewegten.

Diese Definition, für alle am Marxismus interessierten Nationen der Dritten Welt unannehmbar, wurde zwar seit Beginn der zwanziger Jahre innerhalb der sozialistisch-kommunistischen Bewegung dahingehend korrigiert, daß man die »asiatischen« Gesellschaften einfach als »feudalistische« einstufte. Aber war damit, was China anging, nun wirklich ein alter Irrtum korrigiert? Oder war die chinesische Geschichte vielleicht doch von einem anderen Stoff gemacht als die europäische? Gab es dort bis zur Berührung mit dem Westen tatsächlich immer nur Bewegung, aber nie eine Entwicklung?

 

  1. Ein Land des »ewigen Stillstands«?

Wenn man davon ausgeht, daß die Offenheit für Einflüsse von außen und das Vorhandensein von aufeinander wirkenden gegensätzlichen Kräften im Inneren gemeinsam über das Entwicklungstempo einer Zivilisation entscheiden, so verlief die Geschichte des traditionellen China sicherlich unter etwas anderen Bedingungen als die des vormodernen Europa. Weitgehend geschützt, aber auch isoliert durch die Meere im Osten und die Berge im Westen, führte das Land ein relativ abgelegenes Eigendasein am Ostrande Eurasiens. Von innen betrachtet war seine Welt trotz der zerteilenden Flüsse eher auf ein zentralistisch organisiertes Einheitsreich angelegt als das ums Mittelmeer herum geordnete Abendland, das charakteristischerweise den pluralistischen Begriff des Orbis terrarum, des »Erdkreises« oder genauer: des »Kreises der Länder« erfand. Einheitlichkeit und Isoliertheit und damit ein beträchtliches Verharrungsmoment bestimmten China aber auch auf kulturellem Gebiet — und zwar durch den Sondercharakter seiner Begriffsschrift. Sie entstand zunächst unter dem Einfluß bestimmter Eigentümlichkeiten der chinesischen Sprache, wirkte dann aber umgekehrt zurück auf die Entwicklung der Sprache, ja sogar des Denkens. Das gilt insbesondere für die Hemmnisse, die sie gegen die Übernahme von Fremdworten aufrichtete und damit die Adaption fremder Ideen erschwerte. Nichtchinesische Begriffe mußten nämlich stets entweder ganz übersetzt werden oder sie blieben in der Sprache merkwürdige Außenseiter. Für eine rein deduktive Beweisführung ungeeignet, war diese Sprache darüber hinaus mitverantwortlich für die Betonung des historischen Arguments, das bei allen geistigen Auseinandersetzungen in China eine so eminente Rolle spielte. Die Vergangenheit wurde dadurch ununterbrochen in einem Maße vergegenwärtigt, wie uns das zumindest heute kaum vorstellbar ist. Die chinesische Geschichte fand also in einer Art geschlossenem System statt, das äußerlich abgeschirmter und innerlich etwas homogener war als das Europas. Diese Tatsache trat anfangs aber noch keineswegs als stabilisierende Kraft in Erscheinung; sie mag zunächst sogar zu einer Akzeleration des Geschichtsablaufs geführt haben. Im 7. und 8. Jahrhundert z. B., unter der Dynastie der Tang, war die Höhe der chinesischen Zivilisation der des christlichen Abendlandes sicherlich gleichrangig, wenn nicht gar überlegen: In der Hauptstadt des Reiches entwickelte sich damals eine wahrhaft kosmopolitische Atmosphäre, die sich durchaus mit der Roms hätte messen können und noch nicht die geringsten Zeichen einer bewußten Abschließung erkennen ließ. Schon Max Weber hat ja die interessante, im ganzen zutreffende Beobachtung gemacht, daß »je weiter zurück man in der Geschichte gehe, desto ähnlicher die Chinesen und ihre Kultur dem erschienen, was man auch bei uns fände«.

 

  1. Dezentralisierung, Labilität, Bewegung

Die ernsteste und zugleich fruchtbarste Herausforderung, aber auch das wichtigste Antriebsmoment stellten immer die Nicht-Chinesen dar, die »Barbaren«. Ihre Unterscheidung von den Chinesen ist für die Frühzeit nicht so leicht, weil bis tief ins erste vorchristliche Jahrtausend hinein das chinesische Volk erst allmählich aus der Auseinandersetzung mit den »Barbaren« hervorging. Der Amalgamierungsprozeß setzte sich abgeschwächt noch viel länger fort, so namentlich in der ersten Hälfte des ersten nachchristlichen Jahrtausends, als ganz Nordchina an die Fremdvölker verlorenging. Sie gründeten Dynastien nach chinesischem Muster und nahmen auch bald die chinesische Zivilisation an, wurden also, wie man so sagt, »eingeschmolzen«. Aber es handelte sich dabei doch um einen wechselseitigen Vorgang. Viele der glänzendsten Erzeugnisse chinesischer Kultur wären ohne diese Impulse der nomadischen Kulturen aus dem Norden, Nordosten und Nordwesten gar nicht möglich gewesen. Das gilt für das Kunsthandwerk und die Kriegstechnik (wie z. B. die Reiterei) ebenso wie für die vielbewunderte Dichtung. Aber auch rein chinesische Dynastien wurden gelegentlich von Männern gegründet, die nichtchinesisches Blut in den Adern hatten. Die Kolonisierung im Süden und der Kampf im Norden, die sich beide wie ein roter Faden durch die chinesische Geschichte ziehen und die Chinesen im einen Falle immer als Sieger, im anderen oft genug als Besiegte entließen, brachten ständige Verschiebungen in das Sozialgefüge. Noch entscheidender aber war vielleicht die Beeinflussung durch fremde Weltanschauungen, denen es zumindest in einem Falle gelang, die hermetische Abgeschlossenheit Chinas zu überwinden: beim Buddhismus. Zwischen dem 3. und 9. Jahrhundert überschwemmte er das ganze Land mit einer fast »unchinesisch« anmutenden religiösen Begeisterung. Da und dort, vor allem in Geheimgesellschaften, kamen auch Endzeitideen auf, die der Geschichte in der Vorstellung zuweilen etwas Stromlinienförmiges aufgeprägten, das den Chinesen, im Gegensatz zu uns, sonst an sich nie sehr vertraut war.

In derselben Periode, ja eigentlich fast im ganzen ersten nachchristlichen Jahrtausend, spielte das Ausland auch indirekt eine bedeutsame Rolle. Vehemente zentrifugale Kräfte wurden dadurch freigesetzt. Die sehr aktive, um nicht zu sagen aggressive Verteidigung, die China damals betrieb — mit Kriegszügen bis weit nach Zentralasien hinein — verlegte nämlich die eigentlichen Machtzentren an die Ränder des Reiches. Das galt namentlich für die Kommandeure der riesigen Armeen, die fern von der Hauptstadt im Feindesland operierten. Nicht selten waren sie selbst gar nicht Chinesen, so daß sie stets in Versuchung standen, sich entweder selbständig zu machen oder gar gegen den Kaiser ins Feld zu ziehen und eigene Dynastien auszurufen. Wenn Revolten dieser Art ausbrachen, wurden sie oft ebenfalls von fremden Hilfstruppen niedergeschlagen, die sich dann ihrerseits recht hochmütig gebärdeten und einen Staat im Staate bildeten. Aber auch die zivile Führungsschicht zeigte in steigendem Maße die Neigung, sich von der Zentrale zu entfernen und auf seinen entlegenen Landgütern zu verschanzen. Bei jeder Gelegenheit drohte so die Gefahr, daß das Reich in Stücke zerfiel. Durch die häufigen inneren Auseinandersetzungen wurden darüber hinaus gewaltige Bevölkerungsverschiebungen in Gang gesetzt: Während die einen Landstriche, von Feldzügen heimgesucht, entvölkert dalagen, sahen sich andere von Flüchtlingsströmen überflutet und in wirtschaftliche Katastrophen gestürzt.

 

  1. Zentralisation, Stabilisierung, Fremdherrschaft

Die Mobilität der chinesischen Gesellschaft in der Geschichte war also stets mehr oder weniger eine Funktion der politischen Labilität, der »Unordnung«, wie die Konfuzianer sie mit Skepsis nannten. Und sie stand ihrerseits wiederum in enger Relation zu Expansion und Dezentralisierung. Die lange historische Erfahrung, über welche die Konfuzianer — oft Politiker und Geschichtsschreiberin einer Person — verfügten, ließ sie eines Tages jedoch auch die Ursachen dieser Labilität erkennen. Das geschah um die Wende vom ersten zum zweiten nachchristlichen Jahrtausend. Als nämlich das Zeitalter des Buddhismus zu Ende ging und der Konfuzianismus eine machtvolle Wiederbelebung erfuhr, entdeckte man plötzlich auf den verschiedensten Gebieten die konservierende Kraft der Zentrierung, der Konzentrierung. Die Philosophie beschäftigte sich plötzlich intensiv mit dem sogenannten »höchsten Letzten«, einer Art allesumfassendem Weltprinzip, das in mancher Hinsicht dem logos vergleichbar ist. In der Staatsethik propagierte man wie nie zuvor die »Loyalität« zu einem einzigen Herrscher, in der Moral die Treue zu einem einzigen Partner und hier namentlich die Keuschheit der Witwe als Treue zum Ehegatten über den Tod hinaus. In der Innenpolitik wiederum fand man ein neues Steuersystem, das den Adel des Landbesitzes beraubte und dadurch die führende Beamtenschicht wieder an die Zentrale fesselte. Und in der Außenpolitik schließlich nahm man mehr und mehr eine rein defensive Haltung an, die der zum Zentrum hin orientierten Grundeinstellung ganz und gar entsprach.

Die Eroberung erst der Nordhälfte des Landes durch die Nordvölker und dann erstmals des gesamten Reiches durch die Mongolen (1280) war sicherlich nicht zuletzt eine Folge dieser Stärkung nach innen und der damit verbundenen Schwächung nach außen. Aber auch die Ming-Dynastie, die knapp ein Jahrhundert später die Mongolen wieder aus China verjagte, hielt an diesem Prinzip fest: Während im Lande selbst ein höchst rigoroses, auf die Ruhe im Staat bedachtes Kontrollsystem aufgebaut wurde, ging jenseits der Grenzen die Initiative weitgehend an die Fremdvölker verloren. Die umfassende Renovierung der »Großen Mauer«, die ihre heutige Gestalt der Ming-Zeit verdankt, kann dafür als Symbol gelten. Der Wunsch, durch diese stabilisierenden Maßnahmen der Dynastie lange Dauer zu verleihen, erfüllte sich zwar: die Ming regierten über fast drei Jahrhunderte. Aber mit der Harmonisierung von Leben und Denken, der größtmöglichen Austilgung jeder Form von Extremismus war auch eine schleichende Verarmung des Geistes verbunden. Eine merkwürdige Form höheren Spießertums bildete sich heraus, die alle Entwicklungsmöglichkeiten verengte und verlangsamte.

In diesem System lagen freilich auch einige Momente verborgen, die geeignet waren, es auf die Dauer von innen her aufzulösen. So führte einmal die lange Periode relativer Ruhe zu einem bis dahin ungekannten Bevölkerungswachstum und in der Folge zu wirtschaftlichen Versorgungsschwierigkeiten, aus denen bedrohliche Bauernrevolten hervorgingen. Sie waren um so gefährlicher, als gleichzeitig durch eine Art Bildungsexplosion die Zahl unversorgter Intellektueller, die sich an die Spitze solcher Bewegungen stellen konnten, enorm anstieg. Weiterhin zeitigte die Umwendung nach innen nicht nur im nationalen, sondern auch im philosophisch-religiösen Bereich ungewollte Konsequenzen: Eine besondere Spielart des Konfuzianismus nämlich, die die menschliche Vollendung nicht mehr, wie bisher, in der Außenwelt, sondern in der Innenwelt des Ichs zu finden suchte. Sie gewann im 16. und noch mehr im 17. Jahrhundert bedeutenden Einfluß und ließ am Ende in vielen einflußreichen Zirkeln individualistische Tendenzen aufleben. Hier wurde gegen den autoritären Staat Front gemacht, und je mehr dieser durch Korruption und Cliquenwesen (zu dem vor allem die Eunuchenwirtschaft ihren Teil beitrug) an Macht und Ansehen verlor, desto mehr zeigten sich auch ausgesprochen liberalistische Bestrebungen. Sie hätten der chinesischen Kultur, die damals tatsächlich mit der europäischen noch viel eher vergleichbar war als später (»von unserer Art«, wie sich einer der portugiesischen Seefahrer ausdrückte, die China in dieser Zeit für die Moderne zu entdecken begannen), vielleicht eine ganz neue, dynamischere Richtung geben können. Nicht umsonst findet man in derselben Periode auch Frühformen der Industrialisierung, die auf wirtschaftlichem Gebiet eine bevorstehende Umwälzung anzukündigen schienen. Aber die Geschichte verlief gegenläufig. Das Tungusenvolk der Mandschu, von den letzten Ming-Herrschern selbst ins Land gerufen, um einen Aufstand niederzuschlagen, okkupierte 1644 den Thron und sollte ihn erst 1911 wieder abgeben, als das Kaiserreich als Ganzes im Staub versank.

Daß die Mandschu gerade in diesem entscheidenden Augenblick die Macht übernahmen und sich, eben weil ihnen die chinesische Kultur im Grunde neu und fremd war, zu deren Verteidigern aufwarfen, hatte zweifellos erheblichen Anteil an dieser merkwürdigen Mumifizierung. Denn was für die ursprünglich nomadischen Mandschu einen Fortschritt darstellte, bedeutete für die Chinesen einen Rückschritt; sie mußten unter dem Zwang der Fremdherrschaft ihre eigene Vergangenheit noch einmal durchackern. Das Abbremsen der chinesischen Geschichte seit dem 10. Jahrhundert vollzog sich also in zwei Schritten: Zuerst unter dem Vorzeichen des Konfuzianismus, der alle wesentlichen Gegensätze im Lande so wirksam zu neutralisieren verstand, daß am Ende nur noch die unaufhebbare Auseinandersetzung mit dem Ausland zu einem Regimewechsel führen konnte — in Gestalt der Eroberung durch die »Barbaren« oder der Vertreibung der »Barbaren«. Der zweite Schritt, die Fremdherrschaft der irgendwie anachronistischen Mandschu, wurde dann entscheidend. Die Trägheit in der Entwicklung war China demnach — trotz mancher daraufhin angelegter Grundbedingungen — nicht einfach in die Wiege gelegt; sie wurde ihm in dieser Avisprägung erst relativ spät angezüchtet und am Ende sogar direkt von außen aufgezwungen. Manche sensible Chinesen empfanden die wie tot verrinnende Zeit bald ebenso stark wie die von außen hineinblickenden Europäer. So schrieb beispielsweise der Philosoph und Dichter Kung Tzu-chen, ein Zeitgenosse Hegels, der vergeblich versuchte, mit seinen Gedanken und Gedichten dem Land neuen Schwung zu verleihen, die Verse: »… Laß Donnerkeile den Kosmos erwecken zu neuem Leben / Oh, daß zehntausend Pferde zusammenstehn wie stumm! / Ich will den Himmel zwingen, sich aufs neue zu drehen / und herbeizusenden begabte Männer jeder Art.«

Die »begabten Männer«, die den Himmel tatsächlich wieder zum Drehen brachten, kamen aber zunächst nicht aus China, sondern wiederum aus dem Ausland, diesmal aus Europa und Amerika, und sie kamen natürlich nicht ohne eigennützige Zwecke. Die von ihnen durchgesetzte »Öffnung« im 19. Jahrhundert war freilich von anderer Natur als die Eroberungen, die China bis dahin über sich hatte ergehen lassen müssen. Denn sie war verbunden mit der Demonstration einer wenn nicht kulturellen, so doch zumindest zivilisatorischen Überlegenheit. Diese Erfahrung brachte für China (ganz im Gegensatz zu Japan) eine absolut neue Situation, auf die es sich nur mit größter Mühe einzustellen wußte. Das Problem, mit dem sich das »Land der Mitte« seither auseinanderzusetzen hatte, war weniger ein politisches und militärisches als vielmehr eines der Selbstidentifikation angesichts der Erkenntnis, daß es in der Welt eben nicht mehr das Zentrum, sondern eher eine Art Randerscheinung darstellte. Es sah sich mehr und mehr in zwei unlösbare — und daher im Grunde immer noch nicht ganz gelöste — Gleichungen verstrickt, von denen die eine die Begriffe »neu«, »ausländisch« und »stark« enthielt, die andere die Begriffe »alt«, »chinesisch« und »schwach«. Beiden gegenüber empfand man eine Art Haßliebe. Kein Wunder, daß deshalb der Wechsel vom Mittelalter zur Neuzeit, den China in den jeweils bloß dreißig Jahren vor und nach der Jahrhundertwende durchmachen mußte, etwas zugleich Zwiespältiges und Hektisches an sich hatte; und daß die geistige Entwicklung selbst bis auf den heutigen Tag von dem Hin- und Herpendeln zwischen Extremen gekennzeichnet ist. Gerade hierin zeigt sich, daß China sich immer noch damit abmüht, seine neue Mitte zu finden.

 

  1. Theorien über die Entwicklung der Geschichte

Eines der irritierendsten Ergebnisse der Auseinandersetzung mit dem Westen, das die Lösung dieser Aufgabe erschwerte, war die Beurteilung der Geschichte des eigenen Landes. Anders als etwa in Indien besaß diese Selbstinterpretation immer eine entscheidende Bedeutung. Die traditionellen Geschichtstheorien waren praktisch ausnahmslos von zyklischen Grundvorstellungen geprägt gewesen. Einander ablösende Dynastien folgten einem festen Muster des Aufblühens und Vergehens; und sie bildeten auch untereinander wieder bestimmte ringförmige Figuren, die sich gemäß verschiedener Theorien nach einem Ablaufschema wiederholten. Das absolut Neue hatte in diesen Zyklen keinen Platz. Ein goldenes Zeitalter lag jeweils ebenso in der Vergangenheit wie in der Zukunft. Gerade aus dieser zumindest im Konfuzianismus nie infrage gestellten Hypothese erwuchs ein Großteil der Würde der Historiker, die China ja tatsächlich eine einzigartig geschlossene Geschichtsschreibung geschenkt und dadurch als Nation länger am Leben erhalten hatten als jede andere der Erde.

Je mehr nun westliche Vorstellungen eindrangen, desto stärker erhob sich das Mißtrauen gegenüber dieser zyklischen Geschichtsauffassung, in der offenbar nicht bloß Geschichte beschrieben, sondern fatalerweise selbst auch gemacht wurde. Seit dem Ende des 19. Jahrhunderts bemühten sich daher immer mehr chinesische Historiker (und auch Politiker) um ein neues Modell der chinesischen Geschichte, wobei ihre Intentionen zwiespältiger Natur waren: Einerseits suchten sie die Gründe für die Rückständigkeit gegenüber dem Westen aufzuspüren, andererseits bisher übersehene Entwicklungsmomente aufzuzeigen und China dadurch vom Stigma prinzipieller Entwicklungsfähigkeit zu befreien. Ihre Untersuchungen sind gerade deshalb so wichtig, weil sie nicht primär aus wissenschaftlichem Interesse durchgeführt wurden, sondern mit dem Seitenblick auf politische Entscheidungen; die Beschäftigung mit der Vergangenheit war für sie in Wirklichkeit eine Beschäftigung mit der Zukunft.

Unter diesen verschiedenen Deutungen verdienen zwei besonders hervorgehoben zu werden. Da ist zum einen die Analyse jener chinesischen Historiker, die noch eher der Tradition zuneigten und deshalb das Dynastiemuster genauer unter die Lupe nahmen. Sie glaubten zu entdecken, daß die Abfolge der Dynastien mit einem anderen Rhythmus parallel lief: Eine kurze, etwa dreißig Jahre dauernde Dynastieperiode von großer Dynamik ging offenbar stets einer längerwährenden, zwei bis drei Jahrhunderte umfassenden voraus, die ihrerseits dann durch das Eingreifen von Fremdvölkern ein Ende fand und wieder eine neue, abermals dynamische, aber kurzlebige Dynastie aus sich entließ. Die großen, jeweils etwa drei- bis vierhundert Jahre umfassenden Zyklen, die sich hieraus ergaben, schienen indirekt aber auch schon etwas über das künftige Schicksal des gegenwärtigen China auszusagen, da sie sich ja ohne weiteres in die Zukunft projizieren ließen. So würden beispielsweise heute, nach einer im wesentlichen bereits abgelaufenen Zeit der Unrast, die Geschehnisse wieder in ein ruhigeres Fahrwasser einmünden und sich so aufs neue in die uralten Gesetze der chinesischen Geschichte einfügen.

Völlig andere Gesetzmäßigkeiten versuchten dagegen seit den späten zwanziger Jahren linksgerichtete Historiker der chinesischen Geschichte abzugewinnen. Ihnen lag daran zu zeigen, daß China sich nicht als ein unter dem Joch der »asiatischen Produktionsweise« zum Stillstand verdammtes Land begreifen ließ, sondern genauso wie Europa die Stadien der Sklavenhaltergesellschaft, des Feudalismus und des Bürgertums bis an die Schwelle zur klassenlosen Gesellschaft durchlaufen habe. Auch bei dieser Interpretation ging es freilich weniger um die Bestimmung der Vergangenheit als um die Bestimmung der Zukunft. Denn jeder Beweis für das Vorhandensein bestimmter Stationen in der Geschichte bedeutete zugleich ja einen Beweis für die Weiterentwicklung auf den dazu passenden, dadurch bereits vorgezeichneten Bahnen. Hieraus erklärt sich die ungeheure Bedeutung, die der »Periodisierung« der chinesischen Geschichte nach marxistischem Muster in der VR China zugemessen wird: Sie ist eine Art Garantie auch für die Gewinnung der Zukunft.

Anscheinend läßt sich nun die Vorstellung, die offensichtlich Mao Tse-tung vom Wesen der Zukunft hatte, mit diesem heute oft zu Unrecht bloß auf Stalin zurückgeführten Schema nicht recht in Einklang bringen. Seiner Auffassung nach war die Zukunft sehr viel weniger prädestiniert, sehr viel offener für das bewußte Eingreifen des Menschen hier und jetzt. Aber sie war ebenso, was noch wichtiger ist, offen auch für »Rückfälle«, für das Wiederauftauchen scheinbar längst überlebter Zustände. In dieser Überzeugung finden sich sogar einige Ähnlichkeiten mit den eher traditionellen Vorstellungen von einem zyklischen Geschichtsverlauf (wie Mao Tse-tung überhaupt aus der Retrospektive sehr viel »chinesischer« wirkt als seine zu Lebzeiten von ihm bekämpften Gegner). Auch die vielzitierte »permanente Revolution«, die diesen gefährlichen Erscheinungen entgegenwirken sollte, hatte infolgedessen etwas Zyklisches an sich. Hieß es doch in einigen Andeutungen bei Mao, daß sie etwa alle acht Jahre eine Art Höhepunkt erreichen sollte, wie einst beim »Großen Sprung nach vorn« (1958) und bei der »Kulturrevolution« (1966), um für eine ständige Erneuerung der sozialistischen Gesellschaft Sorge zu tragen. Gerade dadurch bekam aber die Zukunft, trotz aller Offenheit für den Gestaltungswillen des Menschen, doch auch wieder etwas Festgelegtes; denn wenn ehedem die Rückkehr zum althergebrachten, langsamen Zeitmaß nach einer Generation der Dynamik ein unumstößliches zyklisches Gesetz zu sein schien, so jetzt das rhythmische Wiederauftauchen revolutionärer Bewegungen in ganz kurzen Abständen.

Es ist kaum zweifelhaft, daß es gerade die genaue Kenntnis der chinesischen Theorien über die Dynastienabfolge war, die Mao Tse-tung dazu veranlaßte, sein Konzept von der »permanenten Revolution« nicht nur zu verkünden, sondern Ende der sechziger Jahre auch in der Praxis auszuprobieren. Durch die besondere Situation, in der sich China damals jedoch (wie auch heute noch) befand, geriet dieser Versuch in der »Kulturrevolution« zwangsläufig zu etwas gleichzeitig extrem Progressiven und extrem Anachronistischen — progressiv in der Postulierung des neuen, zu steter Veränderung bereiten Menschen, anachronistisch in dem provokatorischen Rückzug auf China selbst, wobei unter dem Schlagwort »Aus eigener Kraft das Leben verändern« das »Reich unter dem Himmel« wie in alten Zeiten mit der ganzen Welt gleichgesetzt wurde. Das dramatische Ende dieses Versuchs mit all den hastigen Kehrtwendungen, die wir augenblicklich erleben, wurde ganz einfach durch die Realität erzwungen: vor ihr konnte sich China auf die Dauer nicht verschließen, ohne trotz emsigster Bewegung immer mehr hinter die Entwicklung der übrigen Welt zurückzufallen.

Das grundsätzliche Dilemma, entweder von seiner in Jahrtausenden gewachsenen Selbstidentifikation Abschied nehmen oder auf wirkliche Präsenz im Kräftespiel der großen Mächte verzichten zu müssen, ist damit freilich keineswegs gelöst, sondern heute bloß umgekehrt akzentuiert. Die Quadratur des Kreises, die hier zu leisten ist, kann den Zickzackkurs der vergangenen dreißig Jahre durchaus noch für eine Weile verlängern und für neue Überraschungen sorgen. Entscheidend werden zwei Bereiche sein, in denen die gesamte Problematik sich wie in einem Brennglas sammelt: erstens das Verhältnis zum Ausland und zweitens die Gewinnung eines ganz neuen Menschenbildes mit allen Konsequenzen, die der Übergang zur industriellen Gesellschaft unabweisbar fordert.

 

  1. Das Ausland und die Vergangenheit

Chinas Einstellung gegenüber dem Ausland war Zeit seiner Geschichte von der Tatsache bestimmt, daß keine Kultur vergleichbaren Ranges in seinem unmittelbaren Gesichtskreis lag. Diese Konstellation verhinderte bis in die Moderne hinein die Herausbildung eines eigentlichen Nationalismus, der ja in der Tat nur aus der Konkurrenz prinzipiell gleichgestellter Staaten entstehen kann. Sie ließ jedoch eine Art Kulturmessianismus entstehen, der den Wunsch anderer Länder, an der eigenen Kultur teilzuhaben, als Selbstverständlichkeit voraussetzt, und verbunden damit einen naturwüchsigen Hegemonialanspruch. Zentral für dieses Denken war die Überzeugung, daß alle echten Güter dieser Erde im eigenen Reich vollständig versammelt seien; daß, um es in der Formulierung eines Briefes Kaiser Ch’ien-lungs an König George III von England um die Mitte des 18. Jahrhunderts zu sagen, »China absolut nichts vom Ausland benötige«.

Dieser Glaube, daß das Land materiell wie geistig rundherum autark sei, bildete einen wesentlichen Teil der Reichsidee überhaupt. Es ist deshalb nur folgerichtig, daß man den Handel mit dem Ausland immer nur entweder positiv als Empfang von Tributgeschenken unter Gewährung von Gegengaben rubrizierte, oder negativ als die einschleichende Vorbereitung eines Angriffs auf das Reich von außen. Daß der Verkehr mit dem Westen im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert gerade die letztgenannte Auffassung zu bestätigen schien, sorgte dafür, daß sie sich auch heute nur sehr zögernd auflöst. Die neue, diesmal von innen eingeleitete Öffnung Chinas, die wir gegenwärtig erleben, darf uns durch den Enthusiasmus, mit dem sie betrieben wird, nicht den Blick dafür nehmen, daß man sich ihr in vieler Hinsicht mit zusammengebissenen Zähnen wie einer Roßkur unterwirft. Dem vielversprechenden Markt von 800 Millionen Menschen werden also vermutlich doch immer wieder allerlei schwer kalkulierbare Grenzen gesetzt sein. Denn parallel mit seiner möglichen Ausdehnung wird sich unmerklich stets auch das bittere Gefühl der Abhängigkeit verstärken, das dann wiederum zu jenen scheinbar irrationalen Kehrtwendungen führen kann, von denen die jüngere Geschichte Chinas voll ist.

Auch der Bruch mit der Sowjetunion seit etwa 1958 stand unter diesem Zeichen. Er war aber, wie es scheint, noch durch einen anderen Umstand vorprogrammiert: das schon erwähnte besondere historische Verhältnis Chinas zu seinen Nachbarn im Norden. Das Ausland hatte für das China der vormodernen Zeit in den verschiedenen Himmelsrichtungen eben verschiedene Gesichter: Während im Osten das Meer und im Westen die Gebirge absolute Grenzen bildeten, war das Gebiet im Süden mit seinen weitgehend ungefährlichen, isoliert lebenden Völkern eine gewissermaßen »weiche« Grenze, eine »Frontier«, die Chinas Bevölkerung gestattete, sich im Laufe vieler Jahrhunderte immer weiter auszudehnen. Die Grenze im Norden dagegen stellte eine beängstigend »harte« Grenze dar, hinter der mit den Nomadenvölkern, etwas überspitzt ausgedrückt, geradezu eine Art »Gegen-China« lag. Hier war der Kriegszustand permanent — es sei denn, China lebte ohnehin unter der Herrschaft der Nordvölker wie in der Zeit der »Pax Mongolica« im späten 13. und frühen 14. Jahrhundert. Die gigantische »Große Mauer« erscheint demnach wie der Versuch, eine absolute Grenze dort nachzubauen, wo die Natur sie offenbar vergessen hatte.

Die unablässige Auseinandersetzung mit dem Norden hatte aber merkwürdigerweise auch etwas Positives. Denn sie erlaubte es, die eigenen Wertvorstellungen klarer zu erkennen und zu schätzen. Das »Anti-China« im Norden wurde Teil der Eigendefinition Chinas selbst, und es war gerade das tiefsitzende Trauma des Zopf tragenden Mandschu-China, daß ihm diese Selbstdefinition durch die mit chinesischen Morallehren auftretende Mandschu-Dynastie geraubt worden war. Aus der Sicht des heutigen China hat nun aber, gewollt oder nicht, die Sowjetunion nach einem kurzen brüderlichen Zwischenspiel das Erbe jener Naturvölker angetreten, deren bloße Existenz die Existenz Chinas zugleich festigt und infrage stellt.

Wenn daher überhaupt etwas für die Zukunft vorausgesagt werden kann, so das eine: Es wird kaum je von China her zu einem dauernden Bündnis mit dem Norden kommen; denn damit wäre psychologisch die Selbstaufgabe Chinas verbunden. Eine andere Frage ist, ob sich daraus eine kriegerische Auseinandersetzung ergeben könnte. Ein Angriff Chinas dürfte außerordentlich unwahrscheinlich sein, schon wegen der unleugbaren militärischen Unterlegenheit. Wohl aber wird China versuchen, wie es das Jahrtausende lang tat, »die Barbaren durch Barbaren bekämpfen zu lassen« und sich zu diesem Zweck nach alter Regel mit den entfernter gelegenen gegen die näher gelegenen zu verbünden. China ist, entgegen einer Legende, in der Vergangenheit ebenso wenig pazifistisch gewesen wie irgendein anderer Staat in der Geschichte. Aber es verbrauchte immer sehr viel von seiner Kraft, um die Spannungen im Innern auszugleichen, und es vertraute dafür nach außen hin stets darauf, daß die natürliche Überlegenheit der eigenen Kultur sich auf die Dauer auch ohne besonderes Zutun durchsetzen würde.

 

  1. Der Mensch in der Gesellschaft und die Zukunft

Das wesentliche Element dieser Kultur war und ist in der Selbsteinschätzung die besonders betonte Stellung des Menschen, bei Konfuzius ebenso wie bei Mao Tse-tung. Sie scheint auf den ersten Blick schlecht zu der ausgeprägten Einordnungsbereitschaft des einzelnen zu passen, die der Westen immer schon, und nicht etwa erst seit der Gründung der Volksrepublik, entweder bewundernd oder schaudernd feststellte. In Wirklichkeit macht gerade sie das Wesen des chinesischen Menschenbildes aus. Während der abendländische Humanismus unter dem Eindruck der jüdisch-christlichen Vorstellung von einem persönlichen, jedem einzelnen sich als ein Du zuwendenden Gott immer das Individuum im Auge hatte, war es für den chinesischen Humanismus der Mensch als Teil einer Gruppe — sei es der Familie, der Dorfgemeinschaft oder des Staates. Individualismus wurde immer als Egoismus empfunden, und zwar interessanterweise auch von den Individualisten selbst, die es in China ja durchaus gegeben hat. Analog existierte auch keine Unterscheidung zwischen individueller Freiheit und Zügellosigkeit; und so hieß frei letzten Endes immer auch vogelfrei.

Unter dem Zeichen des Marxismus haben diese Grundauffassungen zwar eine andere Legitimation, aber wenig Veränderung erfahren. Die Menschenrechte werden als Gruppenrechte (Klassenrechte) aufgefaßt, die von dazugehörigen Pflichten untrennbar sind, nicht aber als Rechte von Einzelpersonen gegenüber der Gesellschaft. Das »Recht« im Sinne eines individuellen Rechts auf etwas dagegen war im alten China ebenso unbekannt wie im heutigen. Die Durchsetzung derartiger Rechte würde aus chinesischer Sicht anmuten wie die Erhebung der Eigensucht zum Grundwert einer neuen Weltanschauung. Und es ist schwer denkbar, daß China dieses »kollektivistische« Menschenbild in absehbarer Zukunft aufgeben wird. Im Gegenteil. Es wird darin den Inbegriff seiner Mission in der Welt sehen, und ein Ideal, das dem Kapitalismus und seiner Maschinenwelt diametral gegenübersteht.

Gerade dieses Menschenbild, das letztlich in der gewachsenen bäuerlichen Solidarität gegenüber großen, nur gemeinsam zu bewältigenden Aufgaben wurzelt, ist jedoch auch in China nicht ungefährdet. In dem Jahrzehnt nach der Kulturrevolution wurde es zwar noch einmal in seiner ganzen Fülle herausgestellt, indem gleichzeitig und nicht aus Zufall das Land im Gegensatz zur Stadt eine fast mystische Betonung erfuhr. Heute hingegen sieht sich der Beobachter nahezu wieder in das China der zehner und zwanziger Jahre zurückversetzt, als man Technik und Naturwissenschaft buchstäblich zu einer Heilsgestalt mit dem Namen »Mr. Science« emporstilisierte und von ihr eine wundersame Veränderung des ganzen Landes erhoffte. Diese Veränderung wird aber nicht vollziehbar sein, ohne die Grundfesten Chinas, die immer in der bäuerlichen Landschaft lagen, aufzuzehren — und zwar im städtereichen Osten schneller als im ländlichen Westen. Derart kann also nicht nur die von Mao Tse-tung immer schon gefürchtete gesellschaftliche Auseinanderentwicklung zwischen Stadt und Land, sondern auch die zwischen Küstenregion und Landesinnerem zumindest zeitweilig durchaus Wirklichkeit werden.

Die jetzt mit so viel Emphase angesteuerte Industrialisierung Chinas wird jedenfalls zwangsläufig Hand in Hand gehen mit einer grundlegenden Veränderung der Bevölkerungsstruktur. Die Auswirkungen sind heute überhaupt noch nicht abzuschätzen. Gemeint ist hier nicht das Auftauchen einer »neuen Klasse«, die für die sozialistischen und kommunistischen Länder Osteuropas erkannt worden ist. Denn gerade diese neue Klasse von Parteikadern ist für China gar nichts so Neues. Erfüllten doch hier von je die »Beamten«, die in der Regel nicht einer festen privilegierten Schicht angehörten, sondern sich durch Prüfungen qualifizieren mußten, eine ganz ähnliche Funktion. Neu vielmehr wird, so eigentümlich sich das für ein auf den Kommunismus eingeschworenes Land anhört, die Klasse der Industriearbeiter sein. Sie hat es zwar schon seit mehr als einem Jahrhundert gegeben, aber doch nur in sehr geringer Zahl, und konzentriert auf wenige Gebiete im Osten und Nordosten. Die Klasse, die in streng marxistischem Sinn der Träger des Sozialismus sein sollte, wächst also erst heran; und man darf sich fragen, ob sie die Eigentümlichkeiten des chinesischen Kommunismus, der für viele Länder der Dritten Welt so attraktiv ist, wieder zum Verschwinden bringen oder ihm nur eine etwas andere Färbung geben wird.

Entscheidender noch wird aber mit Sicherheit die Rolle der Armee sein, die schon in den vergangenen Jahren diskret aber unübersehbar ihren Einfluß geltend gemacht hat. Sie ist in ihrer Bedeutung deshalb so schwer zu bestimmen, weil sie ebenso im neuen wie im alten China irgendwie aus dem Gesellschaftsaufbau herausfällt. Das gilt nicht für die Bauernmiliz, die eine lange eigenchinesische Tradition besitzt, wohl aber für die Berufsarmee, die, in der Vergangenheit oft stark von Fremdvölkern durchsetzt, immer schon ein erratisches Element darstellte. Die hat China oft genug, zuletzt in den zwanziger Jahren während der Zeit der »Warlords«, in Stücke zerbrechen lassen. Die Miliz, der Mao Tse-tungs ganze Liebe galt, ist in der modernen Kriegführung letztlich ein Anachronismus bzw. nur unter anachronistischen Umständen noch von Bedeutung. Je mehr nun aber die chinesische Armee sich zum Schrittmacher von Modernisierung und Technisierung entwickelt, desto größerer Aufmerksamkeit wird es bedürfen, um sie davor zu bewahren, ein Staat im Staate zu werden und gleichsam »südamerikanische« Verhältnisse heraufzubeschwören. Bisher ist das zweifellos gelungen. Aber es könnte durchaus sein, daß der Einfluß der Armee, den schon manche Beobachter hinter dem Sturz der »Viererbande« vermuteten, sich künftig noch viel mehr bemerkbar machen wird.

 

  1. Das schwierige Erwachen

Alle Prognosen sind, wie man sieht, durch einen einzigen grundlegenden Umstand bestimmt, der vielleicht für sämtliche Länder der Dritten Welt, für China aber in besonderem Maße gilt: Erstens durch die Tatsache, daß die Vergangenheit noch viel gegenwärtiger und gewichtiger ist, als wir sie erleben; und zweitens durch das damit erzeugte Dilemma zwischen nationaler Selbstbewahrung und technisch-gesellschaftlicher Modernisierung. Dieses Dilemma ist dafür verantwortlich, daß alle Entwicklungsprozesse gerade in China, das schwer an seiner unglaublich langen Geschichte trägt, doch keineswegs so schnell und geradlinig laufen, wie das rein theoretisch möglich wäre. Das mag sich allerdings schon in wenigen Jahren bis zu einem gewissen Grade ändern. Denn der Generationswechsel, der in der ungemein überalterten chinesischen Führungsschicht bevorsteht, wird Personen an die Macht bringen, die einfach nicht mehr so viel von der Vergangenheit wissen. Die Beschleunigung der gesamten gesellschaftlichen und kulturellen Entwicklung, so typisch für alle Industrienationen, wird China also eines Tages ebenfalls erfassen — gewiß aber mit Verzögerungen und Rückfällen, die nur von außen betrachtet ein wenig rätselhaft erscheinen werden.

Dieser etwas langsamere Schritt wäre freilich nicht nur einem Lande von dieser Größe und Vergangenheit angemessen, er würde auch hoffen lassen, daß die unendlich schwierige Verschmelzung von Alt und Neu, von Eigenem und Fremden nicht einfach bloß dadurch zustande kommt, daß die eigene Überlieferung verdrängt und vergessen wird. Im letzten Jahrzehnt haben sich manche Kreise im Westen geradezu berauscht an den Heilslehren, die aus China kamen und so etwas wie eine hellere Menschheit zu verkünden schienen. Manche von ihnen fühlen sich heute desillusioniert, nicht zuletzt durch die Kritik, die in China selbst an diesen Lehren laut geworden ist. Über die geistespolitische Rolle Chinas in der Zukunft ist heute aber noch nicht entschieden. Kein Zweifel, der »schlafende Riese«, von dem Napoleon einst redete, ist erwacht. Ein chinesischer Philosoph unseres Jahrhunderts, Li Tsung-wu (1879—1943), formulierte einmal in Kenntnis dieses Ausspruchs, daß China mehr sei als ein schlafender Riese: nämlich eher ein schlafendes Einhorn. Ein Geistertier also, dessen Auftauchen in der Welt nach der chinesischen Legende den Anbruch einer friedvolleren Zeit ankündige. Wer Chinas Kultur schätzt, kann nur hoffen, daß er rechtbehalten möge.