Weniger Strip, mehr Tease? (Teil 2)
Peter Sloterdijk hat einen Roman geschrieben, ganz ohne Not, und auch nicht zum ersten Mal (siehe den Zauberbaum aus dem Jahr 1987, ein Auszug daraus war im übrigen sein letzter von zwei Auftritten im Merkur): Das Schelling-Projekt erzählt in E-Mail-Wechseln von einem (scheiternden) Projektantrag bei der DFG – es soll darum gehen, wie mit dem weiblichen Orgasmus der Geist in die Materie fuhr. Es ist im Roman allerdings so, dass sich für diese Frage vornehmlich forschende Männer (Peer Sloterdijk, Guido Mösenlechzner, Kurt Silbe) zuständig fühlen; ihre weiblichen Konterparts (Beatrice Freygel, Desiree zur Lippe) berichten beispielsweise von sexueller Erweckung mittels Gangbang. Für Eva Geulen und Hanna Engelmeier der Anlass, ihrerseits einen E-Mail-Wechsel zu beginnen, genau einen Monat lang, vom 8. Oktober bis zum 8. November, dem Tag der Trump-Wahl. Sloterdijks Roman war, wie sich zeigte, mehr Anlass für ein digressives Duett – einen schriftlichen Dialog darüber, welche Assoziationen zum Roman wie weit tragen. So geht es nun unter anderem um Autobiografien von (emeritierten) Professoren, um Machtpositionen im akademischen Betrieb, um Heinz Strunk, die Buchmesse und den Kritiker-Empfang des Suhrkamp Verlags bei der Frankfurter Buchmesse. Das Ganze war eine bei einer Zufallsbegegnung von Hanna Engelmeier und Eva Geulen spontan geborene Idee – da der Merkur (bzw. Ekkehard Knörer) dabei ebenfalls anwesend war, erscheint das Ergebnis nun hier, und zwar in drei Teilen. Den ersten Teil finden Sie hier, dies ist der zweite Teil. Der dritte ist hier.
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Eva Geulen <geulen@zfl-berlin.org> schrieb am 21. Oktober 2016 15:07:41 MESZ
Liebe Frau Engelmeier,
Sie sind ja wirklich schnell! Und das alles neben der Buchmesse, die ich ja leider nur aus zweiten literarischen Händen kenne (Streeruwitz im vergangenen Jahr und Götzens Loslabern fallen mir gleich ein).
Gerne möchte ich vorab (und ‚flink‘) das Totschlagargument von der Beamtin und der befristeten Nachwuchswissenschaftlerin auf die hinteren Plätze verweisen. Stimmen tut es natürlich immer und passt auch jederzeit. Wer wie ich in dieser Hinsicht längst auch schon zur old school zählt (und dass aus alternden Frauen auch alte Männer werden können, stelle ich nicht in Abrede), hat immer gut reden, kann sich Sympathien leisten und frei agieren oder mindestens so tun als ob. Ist das Ihr Punkt? Dem würde ich entgegnen, dass mir die Aversion gegen zu schnellen Konsensus lange vor Amt und Würden zur zweiten Natur geworden ist. Die Amerika-Erfahrung (Auslandsgermanistik) war prägend: Auf wohlfeilen Antiamerikanismus deutscher Provenienz habe ich immer so verlässlich genervt bis aggressiv reagiert, wie wenn Amerikaner am Demokratieverständnis Deutschlands zweifelten, weil die ja nicht mal ne Verfassung hätten. Nein, diese Reflexe – erst mal nicht dafür sein, erst mal eine andere Position testen, erst mal bocken, wenn sich was formiert – sind erworbene Eigenschaften: auch Erfahrung aus vielen Jahren Lehre, die ohne Agent Provocateur nicht auskommt. (Im Übrigen bin ich alt genug sagen zu dürfen, dass 89 auch angetan war, Verlässlichkeiten aller Art längerfristig auf den Prüfstand zu stellen.) Aber keine Sorge: Meine Memoiren sind nicht in der Mache. Ich kenne im Übrigen keine weibliche Professoren-Autobiographik, was freilich auch eine Frage der Statistik ist. Avital Ronell könnte man anführen, aber hierzulande? Jedenfalls nicht in der Generation derer, die jetzt 70 und drüber sind. Da gab es uns ja auch nur sehr vereinzelt auf meistens verlorenen Posten.
Und, mit Verlaub, das ZfL-Plenum ist kein Oberseminar, dem ich vorsitze! Die Einführung in den Lethen-Text mit Formulierung einiger leitenden Fragen wurde von einer Kollegin erledigt. Dann brachen wir, wie üblich, in 4 Gruppen auf. Den kleineren Rahmen habe ich in der Tat genutzt, hier und da nachzufragen. Aber nicht abzusehen war, dass der Erfahrungsbericht der anderen Gruppen ganz ähnlich ausfiel. Doch wurde auch in der großen Runde noch oder wieder gegen eine wohlwollende Lektüre hier und da votiert. Immerhin hatten alle kapiert, dass dieses Buch keine Foto-Theorie ist noch sein will. Und dann war eine Diskussion im Gange, an der ich mich gar nicht mehr groß beteiligen musste, weil alles auf dem Tisch war oder auf den Tisch kam. Ende offen. Konsensus schien aber zu sein: guter Auftakt, weil kontrovers und weil – für mich in allen Diskussionen das Entscheidende – sich was tat! (In der fraglichen Sitzung wurde auch die Bemerkung gemacht, dass Bohrer die Granatsplitter nicht fortsetzen würde. Ich war bereit, zu wetten, dass er schon dran säße, konnte aber am Dienstag noch nicht wissen, dass er bereits fertig ist.)
Da hätten wir ja die alten Herren und ihren Sound glücklich versammelt: Sloterdijk, flankiert von Raulff, Lethen und Bohrer. Es fehlt: Theweleit, der schon ganz früh immer auch biographisch gearbeitet und autobiographisch geschrieben hat. Gleichwohl ist das eine andere Nummer, meine ich.
Aber ich fürchte, ich habe noch nicht recht verstanden, worauf Sie mit Scham und Sex hinauswollen: Sex (bees do it, birds do it) kann jeder, tut jeder, aber Scham zulassen können die wenigsten. War es so gemeint? Schamlos wären sie alle, weil sie sich der Scham nicht aussetzen? So aussetzen, dass die Leserin was merkt? Des race-class-gender-Dogmas ungeachtet würde ich Sexualitätsscham nicht ohne weiteres mit Klassenscham gleichsetzen oder analogisieren. Nicht erst posttheologisch ist die Scham in der Sexualität ja gewissermaßen zu Hause. Klassenscham ist wahrscheinlich weit befremdlicher, schwieriger und abgründiger.
Ich will nicht ablenken, aber: Worüber wir noch gar nicht gesprochen haben, ist die These des Schelling-Projektes (nicht des gleichnamigen Email-Romans) zur luxurierenden weiblichen Sexualität, mit der evolutionsgeschichtlich der Geist in die Materie gefahren sein soll. Daran knüpft sich eine Reihe von Überlegungen, Ausführungen, die ich in Teilen sehr witzig und sehr interessant finde (bespielweise die Ausführungen zu den 700 Jungfrauen, die islamische Helden im Paradies erwarten). Vielleicht kann man die Frage nach der Form noch mal von dieser Seite her aufrollen? Gibt es Gründe, für diese These (sagen wir lieber: diesen spekulativen Höhenflug) gerade diese Form zu wählen? Oder verdankt die sich ganz anderen Logiken aus der Sphäre des Autobiographischen? Vorläufig würde ich sagen: das Schelling-Projekt wäre auch in anderer Form (meinetwegen: disziplinär verteilte Rollenprosa) möglich gewesen. Wenn das so ist, dann müssen wir die Form tatsächlich solo verhandeln, wären wieder bei der Autobiographik.
Vielleicht führt ja Ihr Hinweis auf die Liaisons und die Anthropologie weiter. Das Sphären-Projekt war: Anthropogenese. Aber Charakterkunde? Sie meinen, dass der Roman uns tief in diesen Charakter blicken lässt, oder dass Charakterstudien sein Anliegen gewesen wären?
Während Sie die Buchmesse unsicher machen (oder umgekehrt), bleibt die beamtete Professorin brav bei ihren Pflichten und versucht, ein paar Gedanken zu Fontanes erstem Gesellschaftsroman L’Adultera zu Papier zu bringen, erster der Mesaillance-Plots, mit denen Fontane dann bis Effi in Serie ging. Und der einzige Fall aus der Reihe, in dem die Sache gut ausgeht (jedenfalls scheint es zunächst mal so) mit zweitem Eheglück und neuerlicher Mutterschaft. Da gibt es eine einzige für Fontane-Verhältnisse schwüle Treibhaus-Verführungs-Szene („Unter Palmen“). Aber die Klassen-Scham und das Fremdschämen (sic!) take center-stage, denn diese Nora verlässt ihr Puppenheim mit dem Geliebten weniger um der Liebe oder des Sexes wegen, als weil sie sich der derben Späße des immer unpassenden Kommerzienrates furchtbar schämt, obwohl und weil sie, wie es in der Novelle heißt, „sich desselben Tons befleißigt“.
Schönes Wochenende und viel Spaß noch! Bitte lassen Sie es nicht an Messen-Beobachtungen fehlen!
Herzlich
Ihre
EG
„Engelmeier, Hanna“ <Engelmeier@em.uni-frankfurt.de> hat am 21. Oktober 2016 um 15:51 geschrieben:
Liebe Frau Geulen,
sehr gut, es hat funktioniert: Natürlich passt es immer zu sagen: Verbeamtet vs. (oder einfach /) angestellt. Das heißt nicht, DASS man es immer sagen muss. Wenn man es aber tut, passieren interessante Dinge, jetzt ja auch. Man erzählt sich dann etwas über die eigene Lektüreposition, im besten Fall. (Interessanz ist auch so eine Sache: für mich wird sie aber an solchen Stellen wach und trappelt mit den Füßchen).
Aber, nur schnell: ich muss tatsächlich direkt wieder los, moderiere eine Lesung, bei der es einmal um sehr gute Naturlyrik (von Maren Kames) und einen Heimatroman (verschweige Details dezent) geht. Passt ja irgendwie auch zum Thema.
Jedenfalls regt die Buchmesse nicht zum Verständlichwerden an, das Laptop auf dem Schoß ist auch nicht die beste Schreibszene (der musste jetzt sein, pardon). Deshalb nur ganz kurz, denn das ist mir wichtig:
Am 21.10.2016 um 15:07 schrieb Eva Geulen:
Sex (bees do it, birds do it) kann jeder, tut jeder, aber Scham zulassen können die wenigsten. War es so gemeint? Schamlos wären sie alle, weil sie sich der Scham nicht aussetzen? So aussetzen, dass die Leserin was merkt?
Ja, genau darum ging es mir. Und auch noch präzisiert: Hinsichtlich Eribon wollte ich darauf hinweisen, dass da eben etwas Schwieriges gelingt: Nämlich zu zeigen, wie verschiedene Formen von Scham zusammenwirken und einander verstärken. Nun, er hat die Scham überlebt. Because it’s 2016, vielleicht.
Und die Anthropologie + topos Schelling, ja, genau. Darauf komme ich noch zurück — schönen Freitag derweil,
herzlich
Ihre
HE
Am 22.10.2016 um 10:26 schrieb Eva Geulen <geulen@zfl-berlin.org>:
Liebe Frau Engelmeier,
kurz noch eine weitere Nachfrage zur Scham: sie fühlen oder nachfühlen zu können, sie beobachten, sie induzieren? Bei Eribon ging es wohl um die Darstellung, die sich dann von dem, was Sie Sloterdijks Zumutungen genannt haben (und ich als die fehlende Durchliterarisierung – alle sprechen ja denselben Sound – kompensierenden grotesken Zuspitzungen) unterscheiden lassen müsste in der Sache, nicht bloß qua subjektiver Rezeption?
Naturgedichte und Heimatnovelle waren literarisch auf der Höhe?
Herzliche Grüße aus einem vernebelten Berlin
Ihre
EG
P.S. Zu Ihrer ersten Bemerkung kann ich gar nichts sagen, denn unabhängig davon, wie ich es täte, liefe es jetzt immer nur darauf hinaus, unter Ihrer Regie die Füßchen munter zu regen. I’d prefer not to.
Hanna Engelmeier <engelmeier@em.uni-frankfurt.de> hat am 22. Oktober 2016 um 17:26 geschrieben:
Liebe Frau Geulen,
die Lyrik war auf der Höhe, ja, das hat mich gefreut – ist als Fach vielleicht ja noch schwieriger als ein erotischer Roman, wenn es dann glückt, ist das wunderbar.
Ansonsten auch ein Abend auf der Höhe, dementsprechend auch der Zustand heute. Ich versuche es trotzdem mal – ich bin mir allerdings nicht ganz sicher, ob ich Sie hier richtig verstehe; geht es um die Unterscheidung von Scham als Effekt der Lektüre (Sloterdijks) und Scham als Gegenstand einer Erzählung/der Autobiographie (Eribons)? Ich würde nicht sagen wollen: ersteres ist schlecht, letzteres gut, per se nicht und auch in diesem Fall nicht. (Dass der Einheitssound der fünf Typen im Roman sofort auffällt, hängt aber auch mit den Bemühungen zusammen, genau das zu vermeiden. Als Beatrice von Freygel zum ersten Mal schreibt, gibt es noch einen Versuch, einen munter-naiven Stil zu kreieren, das gerät dann aber schon bei ihrer nächsten Sendung in Vergessenheit. Wenn man Literaturpolizei-mäßig drauf ist, kann man sagen: dafür sollte man sich als Autor schämen, aber vor wem eigentlich –).
Ich frage mich, ob meine ersten Bemerkungen zum Thema nicht zu stark darauf setzen, dass autobiographische Texte dann gut sind, wenn sie den Autor in gewisser Weise erniedrigen, oder weniger pathetisch: klein machen, indem sie ihn (oder sie) in beschämenden Situationen und voller kleiner Gefühle zeigen. Das würde ich so nicht behaupten wollen, eben allein aus dem Grund, dass dadurch vor allem neue Möglichkeiten der Selbsterhöhung im Geständnismodus geschaffen werden. Vielleicht ist aber der Umgang mit dem, was man beschämend findet (und da ist ja neben dem, wofür sich die meisten Leute zu schämen lernen, ja auch noch jede Menge Platz für idiosynkratisches Schämen), der Teil an einem Text, bei dem besonders stark Authentizitätssehnsüchte getriggert werden: Durch die Idee, dass jemand, der besonders überzeugend davon berichtet, was ihn da umtreibt, eine besondere Ehrlichkeitsleistung vollbringt, weil er einen starken Widerstand zu überwinden hat. Das wäre allerdings eine sehr psychoanalytische Lesart, die scheint mir hier nicht zu tragen.
Ich hab jetzt gerade länger versucht, einen Absatz darüber zustande zu bringen, warum man kritisieren könnte, dass sich ein Autor (der eigenen) Scham nicht aussetzt und stattdessen wie Sloterdijk sein Übermaß an Ego auf fünf Positionen (Figuren sind es kaum) verteilt, die aneinander vor allem die Schamlosigkeit genießen, klappt nicht gut. Wohlfeil und abgezockt fallen mir dazu als einziges immer wieder ein. Schamlos zu sein kommt mir nur wie eine total abgenutzte Position vor, birds do it, wohlfeil ist es auch, gezeigt wird damit gar nichts. Dass ich das bemerke, liegt dann aber wohl vor allem daran, was ich von dem Medium erwarte, in dem das passiert, nämlich der Literatur, genauer, dem Roman, sei er nun autobiographisch oder wie auch immer grundiert. Vielleicht geht es dann also um die Erwartungserwartung, die ich Sloterdijk unterstelle, und die Art und Weise, wie dann rumgeaast wird.
Hier noch mal zum Interview von 2014, das Kollege Michaelsen geführt hat:
Haben Sie je daran gedacht, über Ihre Erlebnisse in Poona zu schreiben?
Natürlich. Ich habe damals Tagebuch geführt. Es liegt ganz unten in einer der verpönten Schubladen. Es zu publizieren würde mir nie in den Sinn kommen. Ich müsste ständig erröten, weil es grauenhaft naiv ist. Mein Stolz als Autor würde rundheraus abstreiten, dass jemand wie ich diese Sachen je geschrieben haben kann. Der Trick wäre vielleicht, alles neu zu verfassen, fiktiv authentisch oder als die Geschichte eines anderen. Eventuell würde das die Wiederannäherung erlauben. Ich denke sowieso seit ein paar Monaten darüber nach, die Gattung zu wechseln und nur noch erotische Romane zu produzieren. Das wäre endlich mal was Konkretes!
Gut, also Sprung ins Konkrete, ausgerechnet durch den Roman. Sich überhaupt mit Innerlichkeiten wie Scham oder was auch immer auseinanderzusetzen, ist vermutlich nie das Ziel gewesen. Gut, wenn wir darüber ins Gespräch kommen, aber ich glaube, man kommt dann doch auf der Anthropologie-Schiene weiter.
Jetzt aber loslabern – heute findet erst das Goetz-Reenactement statt, ich muss jetzt bügeln. Dann bald wieder in größerer Frische:
Ihre
HE
Am 24.10.2016 um 10:34 schrieb Eva Geulen <geulen@zfl-berlin.org>:
Liebe Frau Engelmeier,
ich glaube auch, dass wir die Autobiographik jetzt mal ad acta legen sollten. Allerdings wollte ich doch noch in Sachen Literaturpolizei hinzufügen, dass es jede Menge Autoren gibt, die sich die Mühe der Figurensprache nicht machen und dabei keineswegs schlecht fahren: der Thomas Bernhard-Sound wäre ein Beispiel. Fontane moduliert auch nicht groß.
Zur Anthropologie fällt mir aber auch nicht viel ein. Das liegt, fürchte ich, auch daran, dass ich nach dem Fontane gewidmeten Schreibtagen jetzt erst mal wieder auf die Höhe des Betriebs kommen muss …
Erholen Sie sich!
Herzlich
Ihre
EG
Hanna Engelmeier <engelmeier@em.uni-frankfurt.de> hat am 25. Oktober 2016 um 22:10 geschrieben:
Liebe Frau Geulen,
nein, Thomas Bernhard moduliert nicht groß, auch nicht in Der Stimmenimitator, wo man es doch erwarten könnte; groß war meine Enttäuschung, als ich nach Der Untergeher sofort zum nächsten Buch griff (Alte Meister? vergessen); ich kannte die ja alle schon. Was wäre denn da überhaupt eine Figur, im Vergleich zu den Figuren bei Sloterdijk oder meinethalben auch bei Fontane? Das unterscheidet sich sicherlich (bei Bernhard) auch von Text zu Text, in Wittgensteins Neffe kommen ganz andere Typen vor als in Der Untergeher, die dürfen viel mehr leben oder erleben, gehen in Szenen herum, verhalten sich so oder so (geben zum Entsetzen des Erzählers einem Bettler Geld bspw.). Die Modulation der jeweiligen Rede hinge für mich wohl am ehesten davon ab, ob sich der Autor die literarische Mimesis als eine Mimikry an gesprochenes Wort vorstellt (oder als Simulation einer Figur), oder als Mimesis, die vor allem auf Referenzialisierung setzt, die nicht (vorrangig) durch Natur, Mensch oder was immer sondern anderen Texten in Gang gesetzt wird (auch wenn es keinen Text ohne anderen Text gibt, ok).
Modulation ist ja auch ein Risiko, weil das die Möglichkeiten für Peinlichkeit erhöht (Nachahmen von Dialekt: fast immer schwierig; Slang nachschreiben: altert schon beim Tippen). Vielleicht sind ein Ausweg so eine Art Hapaxlegomena, die sind vielleicht vor allem dann interessant, wenn man real gelebt habende Wissenschaftler so ins Gespräch bringen wollte, wie das im Schelling-Projekt passiert. Dann müsste man halt deren Œuvre vorher sehr lange studieren. Und sich überlegen, ob man dann eben einen Roman draus macht, oder was auch immer (ich will auch nicht zur Autobiographik zurück, keine Sorge).
Zur Anthropologie ist mir übrigens noch Das Versprechen der Schönheit von Winfried Menninghaus eingefallen, das bestimmte ästhetische Präferenzen gewissermaßen anthropologisiert, dabei ist besonders das Kapitel zur Evolutionstheorie attraktiven Aussehens interessant, ich zitiere mal aus den einleitenden Seiten:
Zunächst jedoch einige generelle Bemerkungen zu neo-darwinistischen Theorien sexueller Strategien und ästhetischer Selektionsmerkmale. Von strengen empirischen Wissenschaften unterscheiden sich diese Theorien durch mindestens zwei generelle Merkmale. Das erste ist der Hang, nein: die Notwendigkeit zu spekulativer Theoriebildung, ja, zu oft wilden und phantasievollen Hypothesen. Ohne ein hohes Maß an Einbildungskraft, Interpolation fehlender Daten, maximaler Auslegung vorhandener Daten und narrativer Synthetisierung hätte Darwin keine einzige seiner bahnbrechenden Einsichten gewinnen und formulieren können. Das zweite Merkmal ist der prekäre Status aller empirischer Evidenzen, insbesondere für menschliche Verhältnisse.
Es geht dann in dem Kapitel relativ ausführlich um Babyfaces, die Hinten-Vorn-Mimikry-These und welche Brustform trotz geringem Nutzen in der Reproduktionsarbeit nun mal, tja, halt leider doch, am schönsten gefunden wird. Das ist natürlich unverschämt verkürzt, das Buch ist viel besser und klüger als diese Zusammenfassung, ich finde die Anmoderation von Theoriegeschichte hier aber interessant, weil man so eben dann wieder zurück zu dem Schelling-Projekt kommt, das ja letztlich so eine evolutionsbiologisch angereicherte Theoriegeschichte (der luxurierenden usw.) erzählen will. Oder? Vielleicht doch mal das ernster nehmen. (Darwin wäre vermutlich bei dieser Charakterisierung der nach ihm benannten Folgeprojekte aus der Abstammungslehre durchgedreht, ich glaube auch, „Theorie“ wie im Zitat angesprochen kannte er wohl auch nicht, Romane schon. Naturgeschichte – sowieso).
Abgefeimte Überleitung auch zum Ausstieg aus dieser Mail, Theoriegeschichte: Ich kann nächste Woche leider nicht kommen, ich bin bei einem Workshop in Münster (ich werd schön grüßen), das ist sehr schade. Abgefeimt auch ein gutes Stichwort, bekanntlich macht Fipps der Affe mit ebensolcher Seelenruh abends seine Augen zu.
Wenn man anfängt zu reimen, sollte man sich verabschieden, oder Rapper werden. Bei mir reichts nur für ein sehr herzliches YO!.
Bis bald,
Ihre
HE
Am 02.11.2016 um 10:07 schrieb Eva Geulen:
Liebe Frau Engelmeier,
auskuriert bin ich mittlerweile, aber arg eng getaktet durch eine hart gefügte Serie von Tagungen.
Deshalb nur ganz kurz ein Wort zu Menninghaus, dessen Buch ich auch sehr gut fand und das sich ja mit dem Schelling-Projekt in Sachen fehlender Daten und wilder Spekulation einigermaßen deckt. Es sind die Lücken, die aus Darwin einen Diskursivitätsstifter in Foucaults Sinne machen: mit der Folge, dass man immer zu diesen Figuren zurück kann.
Vielleicht könnte man auf dem Hintergrund sagen, dass Sloterdijks vorangegangene Bücher, vor allem die Sphären-Trilogie ja auch schon streckenweise romanhaften Zuschnitt hatten. Mir scheint, man muss den anderen Roman hinzunehmen, um ermessen zu können, ob da Dinge sagbar werden, die in den Texten nicht gesagt werden können. Es ist ja nun schon wieder eine Weile her, aber im Gedächtnis stehen geblieben ist nicht das Beiwerk, sondern die essayistisch diskursiven Passagen.
Herzliche Grüße
Ihre
EG
„Engelmeier, Hanna“ <Engelmeier@em.uni-frankfurt.de> hat am 2. November 2016 um 10:15 geschrieben:
Liebe Frau Geulen,
da ich gerade bei der Vorbereitung für mein Essay Seminar um 12h bin eine ganz kurze Antwort, verbunden mit einer Frage, die mich beschäftigt und die Sie im Prinzip hier ansprechen: Wie wird denn überhaupt eine Essay-Passage in einem Roman erinnernswert, liegt das an deren Brillanz oder an der Schwäche des Textes/des Plots in den sie eingebunden ist? An die Essaypassagen in den Knausgard-Büchern (man mag davon halten, was man will), erinnere ich mich bspw. kaum, wobei es auch nicht so ist, dass der Rest diesen sprachlich oder gedanklich sehr überlegen ist. Geht mir auch bei anderen Romanen so, die mit Essaypassagen arbeiten (woran genau erkennt man die eigentlich, wenn sie nicht deutlich durch Überschriften o.ä. Grenzen abgetrennt sind? Veränderung der Erzählhaltung o.ä.?). Und was ist mit einem Roman los (jetzt, 2016), der sich zwischendrin auf dieses „Behelfsgenre für Schönschreiber“ (Zitat Rembert Hüser) stützen muss? Ich mag Essays, einige meiner besten Freunde sind Essays – aber ich habe immer mehr den Eindruck, dass man das als Problem beschreiben müsste. Aber auch das ist Spekulation – auf Grund derer Essays/Essaypassagen für die Themen bei Menninghaus/Sloterdijk vorderhand geeignet scheinen. Auch dazu hätte ich noch Fragen. Aber ja, jetzt hart gefügte Serien von Aufgaben auch hier – wir vertagen uns.
Ihre
HE
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