Schreibschultagebuch, transatlantisch

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2017

Das Forschungskolleg, in dem ich arbeite, hat Mark McGurl zu einem Gastvortrag eingeladen. Ich bin gemeinsam mit einem männlichen Kollegen für die Organisation zuständig und habe sie mir, weil die weibliche Spitze meines Kollegs sehr auf so etwas achtet, außergewöhnlich gerecht mit ihm geteilt. Ich bin außerdem aufgeregt wie ein kleines Kind, da ich unseren Gast seit Schreibschulzeiten kenne und akademisch verehre. Beim anschließenden Essen sitze ich ihm gegenüber, empfehle hessischen Apfelwein und bin extra laut und extra witzig, was gut geht mit McGurl, weil er selbst extra laut und extra witzig ist. Gegen Ende des Abends diskutieren wir die Beobachtung eines Frankfurter Kollegen, dass Studierende, die am Anfang des Studiums besonders viel Potenzial zeigen, oft auch diejenigen sind, die am Ende des Studiums besonders erfolgreich die Universität verlassen, was sich für mich anhört wie die Feststellung, dass die Universität unterschiedliche Startchancen nicht ausgleichen kann. Ein Thema, das uns in eine Diskussion über Privilegien und akademische Karrieren verheddert, aus der wir schließlich alle so traurig herausgehen, dass an ein Erinnerungsfoto nicht mehr zu denken ist. Auf dem Heimweg bereue ich, meinen Freunden das versprochene Selfie nicht liefern zu können, bereue, Mark McGurl nicht all die Fragen zu Schreibschulen und Gerechtigkeit gestellt zu haben, die ich mit mir herumtrage, und bereue weiterhin, meine Gedanken auf Englisch nicht elaboriert genug ausdrücken zu können und deswegen nicht überzeugend dargestellt zu haben, warum mir die Beobachtung meines Kollegen eine anhaltende Gänsehaut verursacht. Mein Handy vibriert: Mark McGurl folgt mir jetzt auf Twitter. Ich beschließe, nicht mehr zu bereuen und dem Stanforder Professor stattdessen eine Nachricht mit meinen Fragen zu schreiben, sollte meine Gänsehaut den Apfelweinrausch überdauern.

Zeitgleich bin ich Teil einer geheimen Facebook-Gruppe zu Sexismus an Schreibschulen. Diese Gruppe gründet sich, weil für dieses Dossier Schreibende gesucht werden, wächst binnen kürzester Zeit auf 157 Mitglieder an und explodiert in der ersten Woche vor Posts. Wir diskutieren nicht, ob es Sexismus an Schreibschulen gibt. Wir diskutieren stattdessen, wie wir am besten über den Sexismus an Schreibschulen schreiben können. Außerdem gründen wir Redaktionsteams, planen Hashtags und setzen Veröffentlichungstermine fest. Ab und an streut eine Person eine persönliche Anekdote in die Gruppe. Mir wird klar, dass jede von uns eine Anekdote besitzt und dass in jedem Post eine tiefe Erleichterung mitschwingt, diese endlich teilen zu können. Einige der Posts bringen mich zum Heulen. Vor Wut, aber auch vor Freude, weil endlich dieses Gespräch geführt wird, dieses längst überfällige Gespräch, dieses so wichtige Gespräch, das ich seit so vielen Jahren führen will.

2010

In den USA diskutiert die literaturwissenschaftliche Community ein Werk, das als bahnbrechend in der Gegenwartsforschung gehandelt wird. Der Stanforder Professor Mark McGurl hat ein 400-Seiten-Buch vorgelegt, in dem er alle bis dato über Schreibprogramme gehandelten Vorurteile – „nein, Schreiben kann nicht gelehrt werden. Ja, Schreibschulen lassen alle Schreibenden gleich klingen. Ja, sie nehmen die Schreibenden aus der echten Welt, wo die echten Geschichten sind, und binden ihre Blicke an ihren eigenen Bauchnabel.“ – in der Einleitung lakonisch zusammenfasst und dann behände über Bord wirft. Die restlichen 370 Seiten widmet der Literaturwissenschaftler der Frage, wie die mittlerweile über 350 Creative-Writing-Programme die US-amerikanische Literatur der Nachkriegszeit beeinflusst und bereichert haben. Er beschreibt, wie zahlreiche sozioökonomische Aufsteigerinnen wie Raymond Carver oder Sandra Cisneros durch die Programme in das literarische Feld eintreten und dort ihren spezifischen Stil und ihre spezifische Ästhetik entwickeln konnten, die die US-amerikanische Gegenwartsliteratur zu dem diversen, stimmreichen Feld machen, das sie bis heute ist. Er beschreibt, wie die Creative-Writing-Programme eine ambitionierte und enthusiastische Leserschaft stellen, die der medialen Konkurrenz bis heute einen festen Willen zum Lesen entgegenhält, und wie Creative-Writing-Programme Autorinnen Beschäftigungsmöglichkeiten bieten und so ihr Risiko, ins Prekariat abzurutschen, zumindest ein bisschen mindern. Und er beschreibt,  wie Absolventinnen dieser Programme nicht nur die literarische Produktion selbst, sondern auch ihren Markt auf einem ästhetisch anspruchsvollen Niveau halten, weil sie Lektorinnen, Veranstalterinnen und Kritikerinnen ausbilden, die ihr Handwerk verstehen. Damit markiert The Program Era in der US-amerikanischen Forschungslandschaft eine diskursive Kehrtwende. Bis dahin hat die Gegenwartsforschung den etwa 350 existierenden Schreibprogrammen in den USA nur ab und an einen vereinzelten Artikel gewidmet, was ein mehr als eindeutiges implizites Werturteil darstellt.

Zeitgleich erscheint im S. Fischer-Verlag eine Ausgabe der Neuen Rundschau, die unter dem Stichwort „Prosa Leipzig“ Texte des Deutschen Literaturinstituts versammelt. Im Editorial schreiben die Herausgeber: „Michael Lentz stellt für uns dieses Leipzig-Heft zusammen, das das Vorurteil gegen das Deutsche Literaturinstitut als solches zeigt und eins ums andere widerlegt. Denn einen Leipzig-Sound wird man nur schwerlich hören, einen platten Abbildrealismus kaum entdecken, diese Leipziger Schule zeichnet sich nicht durch einen vereinheitlichten Ton aus.“ Diese Sätze erinnern an die Vorwörter in Anthologien zum „weiblichen Schreiben“, in denen auch immer als erstes klargestellt werden muss, dass weibliche Autorinnen mindestens so ästhetisch versiert schreiben können wie ihre männlichen Kollegen, die keine Anthologien zum männlichen Schreiben und keinen vorauseilenden Vorurteilsabbau brauchen. 2010 ist das Nachwende-Literaturinstitut in Leipzig 17, das Literaturinstitut in Hildesheim 11 Jahre alt. Die beiden jungen Institute stehen im Kreuzfeuer genieästhetischer Vorbehalte, denen sie beharrlich entgegensetzen, dass Schreiben ein Handwerk sei und sehr wohl gelernt werden könne, ja sogar an Instituten gelehrt werden müsse, um motivierten und talentierten Anfängerinnen das kulturelle Kapital, den sozialen Austausch und die Technik zu bieten, für deren Erlangung sie sonst Jahrzehnte brauchen würden. Längst ist das Wort „Institutsprosa“ erfunden worden, das aus Schreibschulen kommende Texte als solche markiert und damit von der nicht markierten und folglich nicht rechtfertigungsbedürftigen Prosa abgrenzt.

Zeitgleich belege ich in Bogotá Kurse des Masters „Escrituras Creativas“. Der Studiengang ist keine fünf Jahre alt, zu dieser Zeit das einzige Schreibprogramm in ganz Südamerika und zieht trotz der ungewöhnlich hohen Studiengebühren Studierende aus ganz Kolumbien und seinen Nachbarländern an. In meinem Austauschjahr besuche ich, was für die kolumbianischen Studierenden obligatorische Einführungsveranstaltungen sind: einen Kurs zu James Joyces Ulysses, einen zu den Werken Samuel Becketts und einen zu sämtlichen Werken Shakespeares, gelehrt von je einem Professor der Literatur, einem freien Schriftsteller und einem Dramatiker. Außerdem belege ich Kurse der Soziologie und lerne von queerfeministischen Dozentinnen über die komplexen Verschränkungen von Patriarchat und Kolonialismus, die heute weiterleben als mehr oder minder subtile kulturelle Europagerichtetheit. Wenn ich die Gebäude wechsle, kommt es mir oft so vor, als sei der Kreatives-Schreiben-Master eine performative Bestätigung dessen, was im soziologischen Institut kritisiert wird.

2014

Ich studiere endlich auch in Deutschland an einer Schreibschule. In meinem Hildesheimer Master lehren fünf Männer und eine Frau, die bald in Elternzeit gehen und durch eine andere Frau ersetzt werden wird. Kurz zuvor wurde die ausgeschriebene Juniorprofessur entgegen dem ausdrücklichen Wunsch der Studierenden mit einem Mann besetzt. Ich lege mich mit einem Gastdozenten an, der meinen Einwand, der Text eines Kommilitonen schreibe sexistische und rassistische Stereotype fort, lapidar wegwischt mit „Fiktion darf alles.“ Ich beginne, aggressiv zu gendern, reagiere aber ansonsten mit Resignation, weil ich in den zwei Jahren, die ich am Institut studiere, vor allem lernen möchte, was Literatur mit großem L eigentlich beinhaltet und welche Techniken ich brauche, um mein eigenes Schreiben in die Nähe dessen zu rücken. Ich freue mich über Florian Kesslers Polemik und die anschließende Debatte darüber, ob von den Schreibschülerinnen nur die Oberschichtskinder erfolgreich sind, weil durch sie im Institut wenigstens über die sozioökonomische Herkunft der Studierenden diskutiert wird. Sie macht mich aber gleichzeitig traurig, weil sie außerhalb der Schreibschule schnell zu einem polemischen Bashing der „Institutsprosa“ verkommt, in dem fundierte soziologische Beiträge wie der von Caroline Amlinger nicht genug Gehör finden. Im Institut sind wir zu sehr damit beschäftigt, die Institution Schreibschule zu verteidigen; eine Diskussion über die Grundlagen der Debatte, die gar eine Verschränkung von sozioökonomischer Herkunft, Geschlecht und (Nicht-)Weißsein einschließt, findet nicht statt.

Zeitgleich bezeichnet der Autor Junot Díaz im New Yorker die US-amerikanischen Schreibprogramme als „zu weiß“. Díaz kritisiert nicht nur die Weißheit seiner Mitstudierenden, sondern auch die Weißheit der Lehrenden und des Lehrplans. Vor allem aber kritisiert er das Redeverbot über Identitäten in den Seminaren des Programms, das er durchlaufen hat: „In meinem Programm haben wir nie über ethnische Identitäten geredet oder darüber, wie sie unser Schreiben beeinflussten. Wir haben nie irgendwelche Ratschläge in dieser Hinsicht bekommen. Wir haben überhaupt nie über Hautfarbe geredet, außer bei den seltenen Gelegenheiten, in denen jemand klarstellen wollte, dass ‚Herkunftsdiskussionen‘ genau die Diskussionen sind, die ein erstzunehmender Schriftsteller nicht haben sollte.“ Auf Díaz‘ Artikel melden sich immer mehr Schreibende zu Wort, die neben der als selbstverständlich genommenen weißen Ideologie der Programme auch ihre als selbstverständlich genommene männliche Ideologie thematisieren. Deutlich werden in den Texten die Entfremdungserfahrungen, denen sich Schreibende so ausgesetzt sehen und die die Autorin Claire Vaye Watkins in ihrem Essay On Pandering treffend zusammenfasst: „Ich schreibe für einen kleinen weißen Mann in meinem Kopf.“ Womit Watkins nicht nur ihren Mentor, sondern auch den männlich dominierten Kanon und den männlich dominierten Literaturbetrieb meint, der als inkorporierte Figur ihre Produktion lenkt und verlangsamt.

2017

Sowohl am Leipziger als auch am Hildesheimer Literaturinstitut wird eine Professur frei. In den Antrittsvorlesungen sind außergewöhnlich viele Frauen vertreten, die formelle Konsequenz einer informellen Gewissheit, dass in beiden Instituten endlich eine Frau in die Chefetage muss. Diese Einstellung läuft der Machtverteilung in der Gesellschaft zuwider und ist gleichzeitig eine Antwort auf sie: Nicht nur sind immer noch nur knapp ein Viertel der Professuren in Deutschland weiblich besetzt. Die Studie „Frauen in Kultur und Medien“ zeigt auch, dass es in der Buchbranche einen Frauenanteil von 17 Prozent in leitenden Positionen gibt; einen Gender Pay Gap von 28 Prozent und eine ungleich verteilte Sichtbarkeit in Jurys und in den Feuilletons, in denen weniger als ein Viertel der Rezensionen von Frauen geschrieben werden und weniger als ein Viertel der rezensierten Bücher von Autorinnen stammen. Eine weiblich besetzte Literaturinstituts-Spitze wird diese Zahlen nicht ausgleichen. Eine männlich dominierte Spitze, die sich der Implikationen dieser Zahlen nicht bewusst ist, wäre eine wirklich bitter vertane Chance.

Zeitgleich sitzen etwa 30 Schreibschülerinnen und Schreibschul-Absolventinnen an ihren Laptops und fragen sich, welchen Teil ihrer spezifischen Erfahrungswelt sie auf ihr Geschlecht zurückführen müssen. Wir überprüfen Situationen in Seminaren und in informellen Zusammenkünften, fragen nach Redeanteilen, nach verschieden gewichtetem Lob bei als weiblich und als männlich konnotierten Schreibweisen, nach scheinbar harmlosen Flirtereien und scheinbar harmlosen Witzen in Machtgefällen, die bei Frauen Talent und Fuckability aneinander binden. Wir fragen nach gegenderten Arbeitsverteilungen in studentischen Projekten, nach einseitig zusammengestellten Lehrplänen und nach dem Umgang mit frauenfeindlichen Fiktionen. Mich stimmt dieser Zustand traurig und gleichzeitig euphorisch. Traurig, weil wir alle diese Zeit auch darauf verwenden könnten, unsere Texte hin zu der Literatur mit dem großen L zu verbessern, einen fetten Vorschuss auszuhandeln oder uns eine Führungsposition in der Buchbranche zu angeln, statt Entmutigungen, Empörungen und Übervorteilungen zu analysieren. Euphorisch, weil Entmutigungen, Übervorteilungen und Empörungen endlich Namen, Raum und Resonanz gegeben werden, erst in einer Facebook-Gruppe, und jetzt hier in diesem Dossier. Und, weil dies eine Möglichkeit ist, die Diskussion um Schreibschulen auf eine neue Ebene zu hieven, weg vom Bashing und hin zu einer konstruktiven Kritik, und damit weg von der Frage, ob Schreiben gelehrt werden kann, hin zu der Frage, wie wir uns diese Lehre wünschen. Die Sprache, in der ich diese Diskussion führen möchte, habe ich zu einem großen Teil in Hildesheim gelernt; die Position, in der ich sie führen muss, habe ich mir mühevoll außerhalb der Institution erarbeiten müssen. Wenn alles gut geht, geht in der Schreibschule irgendwann beides. Und wenn alles richtig gut geht, muss das irgendwann auch gar nicht mehr sein.

Lena Vöcklinghaus ist Absolventin des Masters „Literarisches Schreiben“ in Hildesheim und wissenschaftliche Mitarbeiterin des Forschungskollegs Schreibszene Frankfurt

 

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