Spaß haben und blödes Zeug reden

Herbst 2009, Hildesheim: Mein erstes Semester hat gerade begonnen. Das Seminar trägt den Titel: Einführung ins dramatische Schreiben. Wir haben jede Woche die Hausaufgabe auf, zu einem bestimmten Aspekt einen kurzen szenischen Text zu verfassen. Die gelungensten werden vom Dozenten ausgewählt, für alle kopiert und in verteilten Rollen gelesen. Dabei obliegt den Autor*innen das  Recht, die Rollen den anderen Seminarteilnehmer*innen zuzuteilen. In der ersten Woche ist mein Text nicht unter den Auserwählten, aber ich bin die sexhungrige Lehrerin im Dialog eines Kommilitonen. In der nächsten Woche ist mein Text auch nicht dabei, aber ich lese die erotische Stimme eines Navigationsgeräts.

Offiziell ist mir das egal, ich lese, die Texte sind lustig, die anderen lachen. Aber insgeheim bin ich wütend, ein bisschen auf die Autoren der Texte, mehr auf mich. Vielleicht sollte ich keine kurzen Röcke mehr tragen, denke ich damals. Vielleicht sollte ich mir die Haare abschneiden und dunkler färben, mich nicht mehr schminken und mir eine riesige Brille mit Fensterglas aufsetzen.

Ich mache nichts von all dem. Was hat meine Rocklänge schon mit Literatur zu tun? Aber ich schwöre mir, alles daran zu setzen, möglichst schnell nicht mehr die Idealbesetzung für sexuell aufgeladene Frauenrollen zu sein. Mit meinen Texten will ich das ändern,  nicht mit meinen Haaren. Also schreibe ich. Und nachdem zum ersten Mal ein Dialog von mir ausgewählt wird und zwei Wochen später noch einer, nehmen mich alle ein bisschen ernster und ich muss nie wieder mit verführerischer Stimme zweideutige Sätze in den Blauen Salon hauchen.

Die Seminarsituationen sind ansonsten so, wie ich sie von anderen Universitäten schon kenne: Wenige männliche Studierende melden sich sehr viel öfter zu Wort als die Kommiliton*innen, dominieren die Diskussionen mit jeder Menge Namedropping, Filmwissen und Philosophen-Zitaten. Die Lehrenden sind fast ausschließlich männlich, lustig und viel unterwegs. Unter den Studierenden sind die Frauen, zumindest zu Beginn des Studiums, mit 70 bis 80 Prozent in der Überzahl, meist vorsichtig und weniger präsent.

Wir sind 32 Studierende in meinem Jahrgang, davon lediglich acht Männer. Im ersten Semester verlassen zwei Studentinnen den Studiengang, nach dem zweiten Semester sind zwei oder drei weitere weg, ein paar sind kaum noch in den Seminaren zu sehen, nach dem dritten Semester bin ich als einzige Frau in meiner Anfangsclique übrig geblieben. Während „die Jungs“ mit den jüngeren Dozenten Fußball spielen oder gucken, lege ich viel Wert darauf, wenigstens beim Biertrinken danach dabei zu sein. Außerdem bin ich Hiwi der Institutsleitung und so halte ich mich in den kommenden Jahren fast nur noch in Männergruppen auf, als einzige oder eine von wenigen Frauen, was ich natürlich bemerke, aber lange nicht reflektiere.

Michael Meuser hat auf der Basis von Reawyn Connels Theorie der hegemonialen Männlichkeit Zusammenkünfte untersucht, in denen Männer weitestgehend unter sich sein wollen, „homosoziale Männergemeinschaften“  [1. Der Begriff der Homosozialität liegt hier der Theorie von Jean Lipman-Blumen (1976) zugrunde. Lipman-Blumen, Jean: Toward a Homosocial Theorie of Sex Roles, in: Signs 1: 16.], die immer wieder entstehen, wenn Männer es – bezogen auf unterschiedlichste Kontexte –  als besonders angenehm empfinden, in Gesellschaft ihrer Geschlechtsgenossen Zeit zu verbringen. Dies verstärke nicht nur den Zusammenhalt der Gemeinschaft, es reproduziere auch die Dominanz gegenüber Frauen, die von diesen Zusammenkünften und damit oft auch „von wichtigen Bereichen der sozialen Welt ausgeschlossen werden.“ Männer würden dort Bestätigung finden, sich gegenseitig der „Angemessenheit der eigenen Weltsicht“ vergewissern, umso effektiver, je weniger ihnen genau diese Intention selbst bewusst ist. Eine typische Antwort auf die Frage nach der Absicht ihres Zusammentreffens, lautet dementsprechend auch einfach „‚Spaß haben‘ und ‚blödes Zeug reden‘.“ [2. Männerwelten. Zur kollektiven Konstruktion hegemonialer Männlichkeit. Von Michael Meuser, erschienen in: Schriften des Essener Kollegs für Geschlechterforschung hrsg. von: Doris Janshen, Michael Meuser I. Jg. 2001, Heft II, digitale Publikation. Hier: https://www.uni-due.de/imperia/md/content/ekfg/michael_meuser_maennerwelten.pdf, S. 14.]

Meuser geht davon aus, dass diese Männerrunden gerade im Zuge einer Verunsicherung durch feministische Forderungen innerhalb der Gesellschaft neue Popularität erlangen. Am ausgeprägtesten fänden sich diese Gemeinschaften im Sport, in Clubs oder an Stammtischen, aber auch an Arbeitsplätzen sowie in Seminaren an Hochschulen.

„Homosoziale Männergemeinschaften“ existieren zweifellos, auch an der Universität Hildesheim, aber der Begriff reicht nicht ganz aus, um die Strukturen am dortigen Literaturinstitut ausreichend zu beschreiben. Er evoziert  eine Homogenität, die es natürlich ab und zu gibt, aber nicht nur, und nicht so klar abgegrenzt, wie man denken könnte. Quantitativ sind die Männer in der Minderheit, zumindest unter den Studierenden. Treffender ist es, von einer männlich dominierten Gemeinschaft zu sprechen, Lehrende und Studierende eingeschlossen, in der Frauen zwar auch unterstützt, aber bewusst und unbewusst immer wieder von Schlüsselpositionen ferngehalten werden, oder eben aus Gruppen ausgeschlossen sind, in denen die wichtigen Entscheidungen getroffen werden. So entsteht ein Hierarchieverhältnis, in dem eine überwiegend weibliche Mehrheit abhängig ist von einer überwiegend männlichen Minderheit.  Macht- und Abhängigkeitsverhältnisse wie diese begünstigen die Reproduktion von Diskriminierung, unter anderem da sich die Betroffenen aus Angst vor Nachteilen im Studienverlauf oft nicht zur Wehr setzen. Das alles ist nichts Neues, nichts Literaturinstitutsspezifisches, es findet sich überall in unserer Gesellschaft, und darüber hinaus. Das macht es so unauffällig, aber noch lang nicht erhaltenswert.

Sommer 2011, Hildesheim: Ich wurde gerade in die Redaktion einer jungen Literaturzeitschrift gewählt. Mit mir kommen zwei weitere Kommilitoninnen neu in die Redaktion, um die ausscheidenden zu ersetzen. Drei Studierende aus den Jahrgängen über uns bleiben noch für ein, zwei Ausgaben, um uns alles zu erklären. Bei einer der ersten Textbesprechungen bemerkt einer von ihnen – natürlich nicht ernst gemeint – es sei kein Wunder, dass der vorliegende Text so schlecht ist, da die Autorin vor kurzem Mutter geworden sei. Aus unerfindlichen Gründen verlören Frauen mit der Geburt ihres ersten Kindes die Fähigkeit, gute Texte zu schreiben. Das hätten sie im Zuge ihrer Redaktionstätigkeit schon des Öfteren festgestellt.

Ich kenne damals keine Frau, die gleichzeitig Mutter und erfolgreiche Schriftstellerin ist  und die ich damit als Gegenbeweis hätte anführen können. Bei den Debatten um die eingereichten Texte bin ich sowieso relativ erfolglos darin, meine Favoriten durchzusetzen. Die Männer in unserer Redaktion sind rhetorisch deutlich versierter und schaffen es viel leichter, die anderen von ihren Argumenten zu überzeugen. Wenn die Redaktionssitzungen zu anstrengend werden, holen wir Bier vom Späti und essen Pizza auf dem warmen Asphalt vor dem Büro.

Elisabeth Hanzl und Sissi Luif haben sich, ausgehend von Connell und Meuser, in ihrem Essay „Das Biertrinken und die männliche Hegemonie“ [3. Das Biertrinken und die männliche Hegemonie von Elisabeth Hanzl und Sissi Luif, erschienen in Ausgabe 01/11 der UNIQUE. Zeitung der HochschülerInnenschaft an der Universität Wien. http://www.univie.ac.at/unique/uniquecms/?page_id=5.] mit hegemonialer Männlichkeit in linken, unipolitischen Gruppen auseinandergesetzt. Sie haben bemerkt, dass dort Männlichkeiten, die gesamtgesellschaftlich eher marginalisiert werden, mitunter hegemonialen Charakter bekommen (was nicht heißt, dass nicht auch Frauen* hegemoniale Rollen einnehmen). Dabei würden sich die Studierenden selbst als antisexistisch bezeichnen, jedoch trotzdem Strukturen reproduzieren, die Männer bevorzugen. Dies geschehe vor allem im informellen Bereich,  wenn sich nach den Sitzungen ein Teil der Gruppe noch zum Biertrinken in eine Kneipe zurückziehe. Unter den Biertrinkenden seien die Männer meist von Beginn an in der Überzahl, je später es werde, desto weiter verschiebe sich das Geschlechterverhältnis allerdings vollends zu Gunsten einer männlichen Dominanz.

Es geht Hanzl und Luif nicht darum, das Biertrinken zu verbieten, gerade den informellen Bereich halten sie sogar für besonders wichtig hinsichtlich Vernetzung und Motivation, sie stellen jedoch fest, dass diese Zusammenkünfte stark meinungsbildend wirken und sexistische Strukturen begünstigen. Die Autorinnen  bemerken einen Mangel an Reflexionsfähigkeit, wenn es um Sexismen innerhalb der eigenen Gruppe geht. Man grenze sich zwar schnell von einem gesamtgesellschaftlichen Sexismus ab, ohne jedoch das eigene Verhalten zu hinterfragen. Das müsse sich ändern. Antisexismus solle „radikal am eigenen Verhalten ansetzen“, fordern sie. Man müsse sich immer wieder bewusst machen, „wie sich auch innerhalb der eigenen Zusammenhänge hegemoniale Männlichkeit konstruiert,“ nur das führe schließlich zur Dekonstruktion sexistischer Strukturen.

Genau dieser Schritt des Bewusstmachens ist das Schwierige. Zum einen glauben Viele, entsprechende Gesetze hätten die Ungleichheit zwischen den Geschlechtern in unserer Gesellschaft längst beseitigt. Zum anderen ist die Sensibilisierung oft nicht da, subtilere Formen von Sexismus bei sich und anderen zu erkennen und zu reflektieren sowie Macht- und Abhängigkeitsverhältnisse in ihrer Tragweite wahrzunehmen.

Besonders wundert es mich, wenn das gerade an Schreibschulen nicht geschieht, sind das doch Orte, an denen besonders viel Wert auf Reflexionsfähigkeit gelegt wird. Das gilt aber eben nur, wenn es um das Reflektieren von Texten, von Schreibprozessen und Gegenwart geht.

In den ersten Semestern ist Hildesheim der einzige Literaturbetrieb, den ich habe. Ich bin so dankbar da sein zu können, so viel ausprobieren zu können und Verantwortung übertragen zu bekommen, dass ich mit wenigen Dingen ein Problem habe, und die Dinge, mit denen ich ein Problem habe, behalte ich für mich, schließlich will ich auch weiterhin Mentorate besuchen, gute Noten bekommen und meinen Abschluss machen, meinen Roman veröffentlichen und endlich Schriftstellerin sein. Also passe ich mich den Regeln an.

Irgendwann bekomme ich Werkstattstipendien, meine Kurzgeschichten werden für Preise nominiert. Ich lerne Lektor*innen kennen, Agent*innen und Autor*innen, die mich unterstützen, mein Literaturbetrieb wird immer größer, meine Abhängigkeit von den Hildesheimer Dozenten und Kommiliton*innen kleiner, bis sie irgendwann völlig verschwunden ist.

Frühling 2017, Stade: Ich habe gerade aus meinem Roman gelesen, die Veranstaltung ist zu Ende, und wie so oft kommt eine Frau an meinen Tisch, die mir sagt, wie sehr sie mich darum beneide, dass ich am Hildesheimer Literaturinstitut hätte studieren können. Sie fragt, wie es denn gewesen wäre und ich sage natürlich, dass es toll war und signiere schnell ihr Buch, damit die Leute hinter ihr in der Schlange nicht zu lange warten müssen. „Ich habe viel gelernt“, sage ich, aber eigentlich müsste ich auch sagen, dass das nicht alles was mit Literatur zu tun hatte, ich müsste sagen, dass Hildesheim mich zur Feministin gemacht hat und damit meine ich nicht, dass ich dort mit Gender-Studies in Berührung kam oder mit feministischen Theorien, stattdessen schlage ich den Roman zu und schiebe ihn zurück über den Tisch.

Alina Herbing studierte Kreatives Schreiben und Kulturjournalismus sowie Literarisches Schreiben in Hildesheim und lebt als Autorin in Berlin.

 

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