Die Dozentin

„Die Wahrheit ist ein fettes Baby ohne Knochen, das seine Form fortwährend ändert“, liest die Dozentin und fügt hinzu: „Die Erinnerung ist ein Blätterteig. Je öfter man ihn faltet und wieder festklopft, desto höher steigt er beim Backen. Zwischen den Schichten bleibt Luft.“

Im Gegensatz zu natur- und fachwissenschaftlichen Studien, die nach der sogenannten Wahrheit streben, wobei Gefühle tabu sind, Voreinstellungen ausgeblendet werden, um Sachlichkeit zu garantieren, erfordert kreatives Arbeiten den Einsatz aller menschlichen Komponenten. Auch die Lehrenden bringen sich als Persönlichkeiten ein; das Wissen ums Schreiben ist auch im Körper, seiner Sprache, in Emotionen gespeichert. Ist der Dozent ein Mann, bringt er zwangsläufig das Bewusstsein eines derart sozialisierten Wesens in einer weitgehend männlich strukturierten Gesellschaft in die Lehre ein. Da dies meist unbewusst geschieht, wird unvermeidlich dieses System als einzig gültiges gesehen. Wahrnehmungen und Erforschungen der davon nicht abgedeckten Felder werden als unpassend ausgesondert, oft auch aus Gewohnheit und Bequemlichkeit. Dazu kommen noch Unterschiede zwischen den Generationen, zwischen den Klassen sowieso. An den meisten Instituten für kreatives Schreiben tummeln sich außerdem eine Menge an uneingestandenen und unausgesprochenen Ängsten. Literatur wird von Subjekten geschrieben und gelehrt, welche auch geprägt sind durch ihre Kränkungen. Strukturelle Probleme werden durch diese Gegebenheiten unmäßig verkompliziert. Umgekehrt werden persönliche Probleme in die Strukturen projiziert. Nichts ist einfach so und nicht anders.

An dieser Stelle könnten nun Beispiele und Erfahrungen angeführt werden, wovon die Dozentin jedoch Abstand nimmt, um nicht bitter zu erscheinen. Als sie zu schreiben und zu unterrichten begann, gab es noch keine universitären Einrichtungen für Kreatives Schreiben. Die Entwicklung der Lehre steht also verglichen zum englischsprachigen Raum am Anfang. Diese Prozesse werden in Hinkunft hoffentlich von einer jüngeren Generation und immer besser geleitet. Immerhin geht es in dieser Diskussion vor allem um die Wahrnehmungen der Studierenden, um damit bestenfalls ein rascheres Vorankommen zu ermöglichen.

Was aber soll getan werden, damit es nicht beim Abwarten und Nachgeben bleibt?
Professionalität im Unterricht, Diversität in der Lehre, klare Regeln und Transparenz helfen.

Sorgt für Kanon-Revisionen und mehr Fluktuation der Dozierenden!

Sorgt für eine verstärkte Präsenz von weiblichen Lehrenden auch auf höherer Ebene! Dort wo die tatsächlich wichtigen Entscheidungen getroffen werden!

Gebt der Frauenbeauftragten Stimmrecht bei Berufungen, nicht nur beratende Funktion!

Schließlich sollten die komplizierten Verfahren bei der Bestellung von Professoren vereinfacht werden! Fakt ist, dass das Ergebnis der langen Prozesse mit vielen Beteiligten bloß ein Vorschlag ist, den der Rektor annehmen kann oder nicht.

Beschleunigt würden diese Prozesse durch eine verbindliche Frauenquote!

Außerdem wünscht sich die Dozentin den gezielten Austausch von Wahrnehmungen, um das Bewusstsein für genderbedingtes Verhalten zu erhöhen. Hierbei geht es nicht um Anschuldigungen oder das Festklopfen einer einzigen Wahrheit, sondern um das Sammeln von Versionen von Wahrnehmung. Das Lesen von körperlichen Zeichen ist Teil der weiblichen Sozialisation, bestimmt von der Frage: Wie schütze ich mich, wo lauert Gefahr etc. oder umgekehrt, wo erlange ich Bestätigung über meinen Körper, meine Sexualität. Als weibliche am Literaturbetrieb Teilnehmende hat man weiterhin nur die Entscheidung, sich entweder dem Spiel anzupassen, bzw. zu versuchen die Disparität für sich zu nützen oder das alles zu leugnen. Nur Aussteigen ist leider nicht möglich. So kann die eine Person, je nach bisheriger Erfahrung, „verräterische Mikrobewegungen“ wahrnehmen, eine andere eben nicht (Darja Stocker und Anne Rabe mit ihren Texten zum Thema). Interessant wäre es, die jeweiligen Vorbedingungen für derartige Variationen zu erfahren. Denn Wahrnehmung ist immer auch Intentionalität. Jedenfalls wird angreifbar, wer anfängt, in dieser Brühe herumzurühren. Und sollte derartiges in (literarischen) Texten anklingen, werden diese gern als wunderlich und überzogen angesehen, wobei auch weibliche Dozenten und Kritiker und Agenten sich nicht selten auf diese Weise äußern.

Positive Vorbilder sind entscheidend: Vor einigen Jahren berief die neue Rektorin der Wiener Universität der Künste ein reines Frauenteam. Dass dies überhaupt erstaunte, ist bezeichnend für die derzeitige Situation.

Sabine Scholl hat sowohl in Leipzig als auch in Wien als auch in Berlin Schreiben unterrichtet. In ihrem Roman „Die Füchsin spricht“, Secession Berlin 2016, thematisiert sie Konflikte einer Dozentin mit Kollegen und universitären Machtstrukturen.

 

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