Warum Lueger fallen muss

2020 war das Jahr der attackierten Statuen. Im Zuge eines neuen identitätspolitischen Antirassismus entdeckten Aktivisten die Schattenseiten der Heroen auf den Sockeln westlicher Städte. Das führte zu Szenen, wie sie der zeitgeschichtlichen Erinnerung aus Osteuropa nach dem Untergang der Sowjetunion oder aus dem Irak nach der US-Invasion geläufig sind: In Bristol brachten wütende Demonstranten die Statue des Philanthropen und Sklavenhändlers Edward Colston (1636 bis 1721) zu Fall und warfen sie ins Hafenbecken – der Auftakt zu europaweiten Appellen, auch unzähligen weiteren Rassisten und Kolonialisten aus Stein und Bronze den Garaus zu machen.

(Dieser Text ist im Maiheft 2023, Merkur # 888, erschienen.)

Dem stolzen Habitus der Statue des ebenso populären wie antisemitischen Bürgermeisters Karl Lueger (1844 bis 1910) konnten diese Anfechtungen nichts anhaben. Pikanterweise schützt ihn nicht Gott, auf den er sich stets berief, sondern seine einst größte Feindin, die Wiener Sozialdemokratie.

Der sichtbare Teil des Mycels

Heftige Diskussionen über den neuen Ikonoklasmus waberten durch die Feuilletons. Auffallend war, dass die Aktivisten oft das Richtige mit falschen, ihre Gegner das Falsche mit richtigen Argumenten behaupteten. Erstere hatten vom Poststrukturalismus gelernt, die Welt der Zeichen, Symbole und Repräsentanzen der Wirkmacht der materiellen Welt für ebenbürtig zu halten. Jedoch verschwand diese immer mehr aus ihrem Fokus, weshalb sie dem Irrtum anhingen, mit der Abschaffung der Symbole würden auch die Missstände aus der Welt geschafft. Aber die sichtbaren Pilze von der Waldoberfläche zu rasieren lässt das Mycelgeflecht unter der Erde nicht verdorren, sondern macht die Verpilzung bloß unsichtbar. Jene Denkmäler sind eben auch stets Male der einst dominanten Ideologien.

Der bilderstürmende Antirassismus indes erweist sich als ahistorisch, berücksichtigt doch sein bloß moralisches Raster nicht die Ambivalenzen und den zeitlichen Kontext der zu stürzenden Persönlichkeiten. Immanuel Kant, den Autor des Ewigen Friedens, als Rassisten zu verteufeln, ohne die Beschränkungen seiner Zeit mitzudenken, und Winston Churchill als den hartnäckigen Kolonialisten, der er gewiss war, dabei aber seine Rolle als führender Widersacher Hitlers zu bagatellisieren, trägt die problematische Tendenz in sich, hinter dem Slogan der »multidirektionalen Erinnerung« Aufklärung als westlichen Herrschaftsdiskurs und Antifaschismus als eurozentrische Erzählung zu delegitimieren.

Liberale und konservative Kritiker führen gegen die Denkmalstürmer gerne das Argument des historischen Kontexts ins Feld und versuchen damit nur zu oft die versteckten und offenen Kontinuitäten eines solchen Kontexts zu verwischen. Ich plädiere dafür, jeden Einzelfall gesondert zu betrachten, also zu diskutieren, wann der Denkmalsturm zu Recht geschieht, wann eine erläuternde Plakette oder eine künstlerische Intervention lehrreicher wären und wann der Mist einfach weggehört. Der Mist auf dem Wiener Karl-Lueger-Platz samt dem Namen des Platzes zum Beispiel gehört auf jeden Fall weg.

Nun ist der Ruf nach der Demontage des Denkmals ebenso wenig neu wie dessen Nichtbeachtung. Keine der bislang erfolgten Evaluierungen kommt in ihrem Sachgehalt so nahe an die Wahrheit heran wie das Graffito, das beständig den Sockel ziert: Schande.

 

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