Warum Lueger fallen muss
2020 war das Jahr der attackierten Statuen. Im Zuge eines neuen identitätspolitischen Antirassismus entdeckten Aktivisten die Schattenseiten der Heroen auf den Sockeln westlicher Städte. Das führte zu Szenen, wie sie der zeitgeschichtlichen Erinnerung aus Osteuropa nach dem Untergang der Sowjetunion oder aus dem Irak nach der US-Invasion geläufig sind: In Bristol brachten wütende Demonstranten die Statue des Philanthropen und Sklavenhändlers Edward Colston (1636 bis 1721) zu Fall und warfen sie ins Hafenbecken – der Auftakt zu europaweiten Appellen, auch unzähligen weiteren Rassisten und Kolonialisten aus Stein und Bronze den Garaus zu machen. (mehr …)
Unter Banditen
Beinahe gleichzeitig – in den Jahren 1855 und 1856 – erschienen zwei in verschiedenen Aspekten verblüffend ähnliche Romane, die nicht nur im jungen Staat Griechenland spielen, sondern dessen politische und gesellschaftliche Verhältnisse einer erbarmungslosen Kritik unterziehen. Der eine geschrieben von einem griechenlandkundigen Franzosen, der andere von einem Griechen. Ersterer weidet sich mit herablassendem Spott an einem korrupten Operettenstaat, Letzterer verzweifelt an ihm als Idealist. Der eine nimmt eine zynische Fremdperspektive ein, der andere hüllt seine Generalanklage in Fiktion. Jener verfasst ein launiges Abenteuerbuch mit beachtlicher politischer Expertise, dieser den ersten sozialkritischen Roman der neugriechischen Literatur.(Der Essay ist im Aprilheft 2019, Merkur # 839, erschienen.)
Beide aber, jeder nach seinen Möglichkeiten und Fähigkeiten, betrieben Aufklärung. Edmond About kontrastierte die romantischen Spleens eines zum Tourismus zurückgekehrten Philhellenismus mit einer prosaischen Realität, Pavlos Kalligas hielt dieser den Spiegel vor. Abouts Le Roi des montagnes (Der Bergkönig) trug seinem Autor seitens der politischen Klasse Griechenlands Hass und Ächtung ein. Schließlich hatte er Betriebsgeheimnisse ausgeplaudert und dem heroischen Image des Landes, das Sympathien, Investitionen, Kredite und Bildungsreisende sicherte, international geschadet. Mit Kalligas wurde man eher fertig, denn er hatte nur vor der eigenen Tür gekehrt; die Gefahr, dass sein Roman in eine Fremdsprache übersetzt würde, hielt sich in Grenzen. Sein Thanos Vlekas war in Fortsetzungen in der Athener Literaturzeitschrift Pandora erschienen, erst drei Jahre später als Buch. Er stieß zwar auf Kritik, doch als Staatsanwalt des Inkassationsgerichtshofs war der zweiundvierzigjährige Kalligas ein angesehenes Mitglied der Oberschicht (1854 war er für kurze Zeit sogar Justizminister gewesen), und es ist anzunehmen, dass eben jene, die für die im Roman dargestellten Missstände verantwortlich zeichneten oder daraus ihren Nutzen zogen, der beherzten Anklage des Autors beipflichteten – so sie lesen konnten und sich überhaupt für Literatur interessierten.
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