Corona – die Unfähigkeit zu lernen?

Alle Gesellschaften – reich oder arm werden mit dem Diktum ‚lernen oder untergehen‘ konfrontiert, auch wenn vielleicht einzelne sich nicht unmittelbar bedroht fühlen. Innovatives Lernen ist für eine Gruppe ganz besonders unerläßlich geworden – für diejenigen, die über die Macht verfügen, die menschliche Rasse auszulöschen.“

Dieser martialische Satz steht in einem Buch aus dem Jahr 1979, herausgegeben von Aurelio Peccei, dem damaligen Präsidenten des Club of Rome. Es hatte den Titel „Club of Rome – Zukunftschance lernen – Bericht für die achtziger Jahre.“ Es ist leider weit weniger bekannt als der erste Bericht des Club of Rome vom Ehepaar Meadows, welcher „Grenzen des Wachstums“ hieß und heute sehr modern für ein Gleichgewicht von wirtschaftlichem Wachstum und ökologischen Bedingungen plädierte. Heute, genauso intensiv wie damals, zeigt dieser zweite Bericht des Club of Rome jedoch eine weitere Facette des Versagens politischen Denkens jenseits des ungebremsten Wachstumsdenkens auf.

Wenn man heute das Gefühl hat, Regierungen hätten früher auf die Krise durch das Corona-Virus reagieren müssen; glaubt, mehr Vorsorge wäre nötig gewesen; wenn man sich vor technologischen „Lösungen“ wie Corona-Apps fürchtet, hierdurch die Freiheit bedroht sieht; beschwört, dass dieser Schock einer weltweiten Epidemie zum Umdenken führe oder andersherum glaubt, auch ein noch so großer Schock werde nicht zu einer Veränderung des Denkens führen, der ist bei diesem mehr als vierzig Jahre alten Buch gut aufgehoben. Die damals angebotene Lösungsidee, unser Lernen radikal zu verändern, um in einer sich schnell verändernden komplexen Realität zurechtzukommen, ist heute noch bedenkenswert.

Das menschliche Dilemma

Ausgangsthese dieses Berichts ist das menschliche Dilemma, „die Diskrepanz zwischen der zunehmenden Komplexität aller Verhältnisse und unserer Fähigkeit ihr wirksam zu begegnen“. Auf die gegenwärtige Situation übertragen, bedeutet dies: Wir leben nicht mehr in traditionellen, nationalen „border power containern“ (Giddens), die sich zentral regulieren lassen. Unsere global vernetzte Welt mit ihrer großen Mobilität, ihren vielfältigen Verflechtungen und in den Demokratien ebenso vielfältigen Partizipationsansprüchen entzieht sich traditionellen Denkmustern und traditionellem Problemlösungsverhalten, wo man nach eher einfachen Kausalitäten sucht und man eher reagiert als proaktiv agiert. Hier trifft sich Peccei mit modernen Kognitionspsychologen wie etwa Daniel Kahneman. Wenn wir nicht lernen, diese Denkmuster zu verändern, so Peccei, kann unsere Welt untergehen. Die Veränderung dieser Muster ist eine radikale Veränderung unseres Lernens und Lernen wird in diesem Bericht als „eine Angelegenheit auf Leben und Tod bezeichnet“. Mehr Drama findet sich in kaum einer Theorie des Lernens.

Das falsche Lernen

Traditionelles Lernen ist, folgt man diesem zweiten Bericht des Club of Rome, ein Lernen nach dem Schock. Ein furchtbares Ereignis tritt ein, ein Unglück in einem Atomkraftwerk, der Zusammenbruch eines Bankensystems oder eine Pandemie, und man beschließt im Schockzustand, Dinge zu verändern, damit dieses Unglück nicht eintritt. Das ist ein allzu menschliches Verhalten. Damit kann man möglicherweise Erfolg haben, wenn dieses Unglück lokal begrenzt ist und Grenzüberschreitungen nicht oder nur schwer möglich sind. Das Reaktorunglück in Fukushima hat in Deutschland zu einer Energiewende geführt. Damit ist Atomkraft zwar als unmittelbare Bedrohung verschwunden, aber selbstverständlich können Reaktorunglücke in Frankreich, in Osteuropa zu radioaktivem Niederschlag in Deutschland führen.

Drei große Nachteile traditionellen Lernens lassen sich in diesem kleinen Beispiel ablesen: 1.Nicht jeder Schock führt zu großen Veränderungen – siehe Tschernobyl. 2. Nicht jede lokale Lösung schützt uns tatsächlich. 3. Prävention ist besser als Intervention, mit anderen Worten, es sollte gar nicht erst zum großen Unglück kommen.

Die Coronakrise spiegelt genau diese Elemente wider. Große aber nicht ganz so große Epidemien wie SARS haben zu keiner substanziellen Veränderung politischen Handelns geführt. Es gibt keine Vorräte an Masken, Schutzkleidung oder Beatmungsgeräten. Lokal begrenzte Maßnahmen schützen nicht. Dieses Credo der gegenwärtigen Krisenbewältigung gilt nicht nur für das Verhältnis zwischen Ländern, sondern auch innerhalb einer Stadt oder eines Dorfes. Wenn viele die Distanzregeln nicht einhalten, verbreitet sich das Virus. Statt nach einem Aufflammen des Virus in China in Europa Maßnahmen zu ergreifen, hat man lieber beschwichtigt.

Das andere Lernen

Was ist der Gegenentwurf zu diesem Problemlöseverhalten? In dem Bericht von Peccei wird der Gegenentwurf unter dem Begriff „innovatives Lernen“ gefasst. Gemeint ist damit antizipatorisches Lernen auf der Basis von Prognosen, Simulationen, Szenarien und Modellen und zwar, bevor etwas Nachteiliges eingetreten ist. Man berücksichtigt Trends, erwägt künftige Konsequenzen und denkt intensiv über negative Nebenwirkungen gegenwärtiger Entscheidungen nach. Dabei nimmt man immer eine grenzüberschreitende globale Perspektive ein und versucht Gesellschaft vor dem Trauma des Schocks zu bewahren. In den Worten von Peccei heißt es, innovatives Lernen „akzentuiert die Zukunft, nicht die Vergangenheit. Es bedient sich der Imagination, basiert jedoch auf harten Fakten.“ Vieles von dem, was hier gefordert wird, versucht die Bundesregierung durchaus, aber sie tat es nicht vor dem Eintreten des Ereignisses in Deutschland, sondern erst, nachdem es eingetreten war.

Ironischerweise hat es einen hoffnungsvollen Versuch gegeben, proaktiv mit dem Problem eine Pandemie umzugehen. 2012 wurden Risikoanalysen für die Gefahren „Hochwasser“ und „außergewöhnliches Seuchengeschehen“ durchgeführt. Dabei wurde auch das Szenario einer großen Pandemie entwickelt, welches eine deutlich negativere Entwicklung eines mutierten SARS-Virus simulierte. Weitsichtig wurde angenommen, dass das neue hypothetische Virus von Asien ausgehend sich ausbreitet. Nach 300 Tagen wären nach dieser Studie 6 Millionen Menschen erkrankt, und das Gesundheitssystem kann die Herausforderung nicht bewältigen. Diese Studie war allen Bundestagsabgeordneten oder auch Presseorganen zugänglich. Leider hat es kaum einer gelesen und Konsequenzen daraus gezogen – weder die Bundesregierung noch die Länderregierungen. Über die Ursachen der Nichtwahrnehmung und Nichthandlungen kann nur spekuliert werden:

  • Es gibt eine bürokratische Überflutung mit Drucksachen dieser Art, der sich politische Entscheidungsträger ausgesetzt sehen,
  • da ist eine naive Hoffnung, ein so schlimmes Ereignis werde schon nicht eintreten,
  • bei allen Ereignissen, die exponentielle Komponenten haben und nicht stetig linear verlaufen, neigen Menschen zu großen Schätzfehlern, Exponentialität widerspricht unserem häufig gerühmten Bauchgefühl;
  • wir haben eine Denkfigur wirtschaftlichen Denkens, bei dem Vorratshaltung keine Rolle spielt, production on demand ist ein gängiges Schlagwort,
  • nichts zu tun, kostet weder kognitive noch materielle Ressourcen,
  • last not least gibt es eine unklare Verantwortungslage.

Die Überflutung von Bundestagsabgeordneten mit Drucksachen und Informationen aller Art und die Unmöglichkeit alles im Blick zu haben, wird von Mitgliedern des Deutschen Bundestages auch in anderen Zusammenhängen beklagt. Die Äußerung vieler Entscheidungsträger in den USA und Europa Anfang Januar verweisen auf die naive Hoffnung, es werde schon nicht so schlimm kommen. Moderne Managementsysteme versuchen weltweit Computer auch unterschiedlicher Firmen miteinander zu vernetzen, um Lagerhaltung so gering wie möglich zu halten. Dem schließt sich der Katastrophenschutz an, keine Lagerhaltung von Schutzkleidung oder Beatmungsgeräten oder, Vorratshaltung von Krankenhausbetten – das kostet sehr viel Geld. Wenn man nichts tut, kostet es unmittelbar auch nichts. Die neuen Gesetze der Bundesregierung zur Gestaltung von Zuständigkeiten, die Entwicklung von Kommissionen, zeigt das Verantwortungschaos, welches trotz drohender Szenarien existierte. Erstaunlich ist, dass es eine seriöse mit erheblichem Aufwand Risikoabschätzung gab, die zu keinerlei Konsequenzen führte.

Was können wir daraus lernen?

Pecceis Begriff des innovativen Lernens ist offensichtlich unvollständig. Es reicht nicht, Ereignisse und Konsequenzen in Szenarien zu antizipieren. Die Vorstellung einer möglichen Katastrophe und die Angst vor einer Katastrophe führen nicht automatisch zu adäquaten Handlungen. Die moderne Belief-Forschung der Psychologie lehrt uns, dass wir ganz fest an etwas glauben können und dennoch keine adäquaten Handlungen ausführen.  Antizipationsszenarien bedürfen geplanter Strukturen der Umsetzung, die im Krisenfall aufgrund einer klaren Verantwortungslage und einer faktenbasierten Risikoabschätzung sofort realisiert werden können. Peccei hatte freilich schon 1979 die Sorge, dass das tradierte Lernen meistens gewinnt.

Der Autor ist Inhaber des Lehrstuhls für Schulpädagogik an der LMU München.