Dekonstruktion im Rückspiegel

Ich habe mehrmals versucht, das Nachfolgende in eine wissenschaftliche oder zumindest gelehrte Form zu bringen, doch ohne Erfolg. Gleichwohl haben die zu erzählenden Begebenheiten mehr als nur persönlichen Erinnerungswert. Mir stellen sie sich als eine Reihe gleißender Bilder dar, in denen ich zugleich als Betrachter und als Akteur vorkomme. Ich habe mich der Wahrhaftigkeit dieser Bilder durch Gespräche und elektronische Nachforschungen zu vergewissern versucht und dabei feststellen müssen, dass nicht nur die Erinnerungskraft der Einzelnen, sondern auch das angeblich nichts vergessende Internet erhebliche Löcher aufweist, wenn Ereignisse länger als ein Jahrzehnt zurückliegen. Das Bemühen, diese zu schließen, mag vielleicht die Ichhaftigkeit des Folgenden entschuldigen.

An einem strahlenden Herbstsonntag 1996 holte ich Hélène Cixous und Jacques Derrida vom Flughafen O´Hare in Chicago ab. Sie kamen von einer Tagung in Cornell und sollten am nächsten Abend gemeinsam im Rahmen meiner Ringvorlesung über „Origins and Originalities“ an der Northwestern University vortragen. Derrida hatte darüber hinaus zugesagt, am Nachmittag ein Seminar über Negative Theologie zu halten. Am Tag darauf würde er nach New York City fliegen, für einen Vortrag über Artaud am Museum of Modern Art, während Cixous ihre alljährliche Gastprofessur am French Department anzutreten hatte. Der Artaud-Vortrag war noch nicht fertig und darüberhinaus von zahlreichen Empfindlichkeiten überschattet (das MoMa hatte Derridas Vortragstitel Artaud le Moma als unseriös abgelehnt, Artauds Neffe und Erbe würde anwesend sein), weshalb Derrida darum bat, ihm den Rest des Tages und den nächsten Morgen freizuhalten. Hélène hatte vorgeschlagen, dass wir zusammen im Hancock Tower zu Mittag essen und dann ins Hotel nach Evanston fahren.

Ich befand mich damals in der obligaten Phase der Überanpassung an das Gastland und fuhr einen weißen Cadillac Coupe de Ville aus dem Jahr 1967, ein in jeder Hinsicht monströses Gefährt, dessen Styling auf fünfeinhalb langen Metern einen Haifischkühlergrill (und einen Siebenlitermotor) mit einem eher mütterlichen Riesenkofferraum zusammenzwang. Hélène, die den Wagen kannte und sehr liebte, saß vorne, Derrida auf der Rückbank, gerade so, dass sein Kopf den Rückspiegel ausfüllte. Nach einigen Minuten des Schweigens fragte er: „Ist dies etwa ein Cadillac?“ Meine Antwort führte zu einigen „c’est incroyable“, die er uns folgendermaßen erläuterte:

Der Vortrag, den Derrida am nächsten Abend halten würde, war ein Auszug aus seinem noch unveröffentlichtem Buch Le Monolinguisme de l’Autre, einer seiner schönsten und zugänglichsten Texte, der in seinem Oeuvre eine wichtige Rolle in der Zuwendung zur Autobiografie, zum Judaismus und zur politischen Ethik einnimmt. Ihren Ausgang nehmen seine Reflexionen von einer Erfahrung, der er, wie auch Cixous, in Algerien ausgesetzt gewesen war, nämlich 1941, den Vorschriften des übereifrigen Vichy-Regime gehorchend, als Jude seine Schule verlassen zu müssen. Nichts ist unerträglicher, zumal für einen jungen Menschen, als von einer Gemeinschaft ausgeschlossen zu werden, zu der man eh nicht gehören will. Damit werden Begehrlichkeiten erzeugt, die ihren Ursprung in einer Verneinung und darum keine Aussicht auf Befriedigung haben. Derrida hat seine so hingebungsvolle wie aggressive Beziehung zur französischen Sprache und ihren Institutionen auf diesen Ausschluss zurückgeführt. Natürlich wusste er, dass sein Los im Horizont des Holocausts vergleichsweise günstig war. Doch kann ein jeder nur mit seinem eigenen Erleben zeugen.

Diesem Ausschluss hatten die Alliierten unter der Leitung der Amerikaner ein Ende ein gesetzt, als sie im November 1942 an der algerischen Küste landeten, um von dort einen Brückenkopf für die Eroberung Südeuropas zu errichten. Wie für so viele Europäer seiner Generation war für Derrida die Begegnung mit den Amerikanern zunächst eine ästhetische: die Lässigkeit ihrer Uniform, der in den Nacken geschobene Helm, die Zigarette im Mundwinkel, der Stiefel auf dem Trittbrett des offenen Jeeps. Doch das bleibende Symbol seiner Befreiung und seines baldigen Wiedereinschlusses waren Cadillacs: die amerikanischen Generäle hatten sie mitgebracht und fuhren in ihnen durch Algier. Mir kam und kommt das absurd und irgendwie filmreif vor; eine sicher nicht tiefschürfende Suche im Internet hat jedenfalls keine Aufklärung erbracht. Derrida, der trotz seiner vielen Amerika-Aufenthalte noch nie in einem Cadillac gesessen hatte, jedenfalls erzählte diese Geschichte; sie bereitete den Grund für die vergleichsweise heiteren Stunden, die folgten, bevor ein kleines geistesgeschichtliches Drama seinen Aufenthalt beendete.

Beigetragen zu der sorglosen Atmosphäre hat sicher auch, dass ich mit Cixous befreundet war und von Derrida nichts brauchte: Ich kannte zwar seine Schriften und hatte 1986 sporadisch sein Seminar in Paris besucht, doch weder war sein Denken für mich besonders wichtig noch gehörte ich zu einer der, drastisch gesprochen, Koterien, die sich in den USA um ihn drängten und die nicht zurückgewiesen zu haben sicherlich zu Derridas unangenehmsten – wenn vielleicht auch durch den algerischen Ausschluss erklärbaren – Eigenschaften gehörte. Zwar hatten diese an fast allen Universitäten des Landes vertretenen Seilschaften längst ihren zweifelhaften Kulturkampf gewonnen, und viele in die Theorieschlachten der siebziger und dann in die Heidegger- und de Man-Affären der späten achtziger Jahre verwickelten Kämpfer saßen mittlerweile auf hochdotierten Lehrstühlen oder gar in Dekanaten; dennoch waren ihre Paranoia, ihr Narzissmus und ihre Vulgarität ungebrochen. Es war peinlich, mitansehen zu müssen, wer sich wie auf den hastig zusammengerufenen Trauerfeiern im November 2004 seiner besonderen Nähe zum Verstorbenen brüstete. Wie die Gedenktagungen des letzten Jahres zeigen, haben in dieser Hinsicht zehn Jahre einiges, aber nicht Entscheidendes klären können. Man müsste einmal unaufgeregt artikulieren, was es in Derridas Denken ist, das dieses Gehabe zeitigt.

Wir jedenfalls fuhren durch einen herrlichen Herbst, wie ihn nur Chicago, allerdings auch nur für eine Woche im Jahr, vorzeigen kann. Das Gespräch kam bald auf das andere große Thema, den Fußball. Derrida wollte wissen, wie man Beckenbauer als kulturelle Figur in den frühen siebziger Jahren einzuschätzen habe. War er ein Freistoß-Spezialist wie Platini oder ein Allrounder? Welche strategische Bedeutung hatte eigentlich ein Libero? War Beckenbauer eher ein politisch „linker“ Spieler wie Cruyff? Wie hatte man sich „philosophisch“ sein Verhältnis zu Netzer vorzustellen, was repräsentierten die beiden? Gestellt wurden diese Fragen nicht nur aus seiner eigenen Fußballbegeisterung, sondern weil ein Student ihm berichtet hatte, dass Heidegger bei der EM 1972 einem Nachbarn über den Zaun gestiegen sei, um bei ihm das Spiel im Fernsehen zu schauen. Besonders Beckenbauer sei für Heidegger eine Lichtgestalt gewesen. Fast hätte sich daran eine der Nachwelt nun vorenthaltene Dekonstruktion des Runden, des Passes und des Schickens angeschlossen, wenn Cixous uns nicht das Bubengespräch verwiesen und die Aufmerksamkeit auf die uns zu Füssen liegende Architektur gelenkt hätte.

Das Verhältnis von Derrida zu Cixous, so wie ich es an diesem Mittag 103 Stockwerke über Chicago und später im Zusammenhang der gemeinsamen Buchprojekte wahrgenommen habe, ist auch nach längerem Überlegen schwer zu beschreiben. Derrida hat Cixous als Autorin und als Ratgeberin akzeptiert. Er hat ihr gestisches und theatralisches Talent bewundert und, in einigen typisch ausgreifenden Beiträgen (H.C. für das Leben, das heißt… Wien: Passagen 2007), ihr Verhältnis zum „Leben“ gewürdigt, womit er wohl das meinte, was in seiner Philosophie so selten zu finden ist, nämlich die vorbehaltlose Affirmation. Er sah sie auf der anderen Seite der für ihn so wichtigen wie geheimnisvollen Demarkation zwischen Literatur und Philosophie. Und natürlich spielten auch die gemeinsame Jugend in Algerien und die späteren Ausschlüsse und Solidaritäten in Paris ein große Rolle.

Sie hingegen glaubte, dass er das Tiefste seines Denkens nicht ausdrücken konnte oder wollte, weil er in einem maskulinen Sprachspiel verfangen war. Sie war ungehalten über seine Anfälligkeit für Schmeichelei, über die vielen Trittbrettfahrer, über die „weichen“ Projekte mit (weiblichen) Interviewpartnern (Malabou, Roudinesco). Sie sah in den Texten, die mit Circumfessions begonnen hatten und die sich in dem mit ihr geschriebenen Voiles fortsetzen sollte (Voiles. Schleier und Segel. Wien: Passagen 2007), den eigentlichen Gegenstand und die eigentliche Form seines Schreibens. Aber diese Differenzen manifestierten sich nicht in der menschlichen Beziehung; sie waren so etwas wie Geschwindigkeitsunterschiede, an denen sich keine Emotionen wie Eifersucht oder Ärger festmachen konnten und sie galten für nichts an diesem Mittag über den Wolken. Cixous hat die Beziehung der beiden „grenzenlos“ genannt, und der unüberwindliche Schmerz über ihren Verlust ist ihrem Oeuvre nach 2004 eingebrannt.

Der Aufenthalt sollte allerdings nicht ganz harmonisch verlaufen. Nach dem Vortrag vor Hunderten von Studenten und Fans aus ganz Chicago galt es, die beiden ins Auto zu bekommen und auf den Empfang zu fahren, den das Philosophy Department im Haus eines ihre prominentesten Mitglieder ausgerichtet hatte. Als eines der wenigen bestand dieses Department stolz auf seiner europäischen Genealogie (Franz von Brentanos Sohn hatte in Northwestern gelehrt, allerdings Physik) und sah diese vor allem in der Frankfurter Schule gewahrt; darum kam seit einigen Jahren im Herbst Jürgen Habermas für ein paar Monate nach Evanston, um Vorlesungen und Seminare abzuhalten. Er hatte, von Derrida unbemerkt, im Publikum gesessen und würde nun auch auf dem Empfang zugegen sein, was ich Derrida mitzuteilen für angebracht hielt.

Die Wirkung dieser Nachricht auf Derrida war außergewöhnlich. Er wollte sofort in sein Hotel gefahren werden, unter keinen Umständen würde er mit Habermas zusammentreffen wollen. „Dieser Mensch liest mich nicht und führt einen Fußnotenkrieg gegen mich!“ – womit er die berüchtigte Fußnote 46 im Derrida-Kapitel von Habermas’ Der philosophische Diskurs der Moderne meinte, in der Derrida (via Jonathan Culler via Susan Handelman) als mittelwichtiger jüdischer Theologe abgetan wird. Derrida hatte auch Anlass zu der Vermutung, dass es auf Habermas’ Einfluß zurückzuführen sei, dass der Suhrkamp Verlag sich von ihm abgewandt hatte. Ob die beiden sich schon einmal persönlich begegnet waren, weiß ich nicht. Allerdings waren sie beide im gleichen Auditorium des Centre Pompidou im Frühjahr 1986, als dort ein desaströses „Rencontre Franco-Allemande“ stattfand; Habermas wieder im Publikum. Auf der Bühne sollten sich die Deutschen Rüdiger Bubner und Karl Otto Apel und die Franzosen Derrida, Baudrillard und Lyotard begegnen und über den Stand der gegenwärtigen Philosophie diskutieren. Das wurde allerdings von den nicht enden wollenden einführenden Worten Manfred Franks so ziemlich verhindert, als dieser den Franzosen vorhielt, dass ihre Vorliebe für Nietzsche und Heidegger und ihr „Vitalismus“ sie unweigerlich in den Faschismus treiben würde. Derrida putzte sich derweilen umständlich und ostentativ die Brille, zur Belustigung der Anwesenden.

Irgendwie vermochte es Cixous schließlich doch, Derrida umzustimmen, und wir gingen gemeinsam in die überfüllten Räume. Am kalten Büffet kam es dann zur Begegnung von Diskursethik und Dekonstruktion: Habermas schritt auf Derrida zu, sprach ihm ein Kompliment für den Vortrag aus und erwähnte, dass sie ja beide Mitglieder der gleichen Hilfsorganisation seien. Hier verlässt mich die Erinnerung; ich bin jedoch ziemlich sicher, dass es sich um das International Parliament of Writers handelte, das 1994 auf Initiative von Pierre Bourdieu gegründet wurde, nachdem in Algerien gezielt Schriftseller und Intellektuelle ermordet worden waren. Ziel war es, den Verfolgten sichere Fluchtorte zu garantieren.

Wie dem auch sei, der Rest ist Geschichte. Die beiden führten ein angeregtes, allerdings unphilosophisches Gespräch. 1999 trafen sie sich in New York wieder, 2000 lud Habermas Derrida zu einem Seminar nach Frankfurt ein, 2001 – am 22.9. – erhielt Derrida den Adorno Preis. Im Mai 2003, schon zu krank, um selbst zu schreiben, unterzeichnete er Habermas’ Aufruf Nach dem Krieg: Die Wiedergeburt Europas.