Jüdische Identität im Zeitalter extremer Philanthropie

Wir leben in einer Zeit extremen Reichtums und extremer Einkommensungleichheit. Eine der Folgen der Anhäufung von Reichtum an der Spitze der sozio-ökonomischen Pyramide ist das Aufkommen einer Klasse von Spendern, die ihre finanziellen Mittel zur Verwirklichung großflächiger sozialer Projekte einsetzen wollen. Wie ihre Vorgänger im frühen 20. Jahrhundert – Carnegie, Rockefeller, Morgan – hat heute eine Gruppe von Milliardären ihren Geschäftssinn auf die Lösung verschiedenster sozialer Probleme gewandt.

Eine bedeutende Untermenge dieser Spenderklasse nimmt an The Giving Pledge teil, einer Initiative der Überphilanthropen Warren Buffet und Bill und Belinda Gates, die von den Unterzeichnern verlangt, mindestens die Hälfte ihres Vermögens für wohltätige Zwecke zu stiften. Auf der nüchternen Homepage der Initiative sind 142 graue Felder mit den Namen der Spender und Spenderpaare zu sehen. Fährt man mit der Maus über eins der Felder, sieht man ihr Farbfoto; ein Mausklick zeigt einen Brief – das Gelöbnis –, in dem die Spendenphilosophie niedergelegt ist. So belichtet diese Webseite ganz wörtlich eine Spenderklasse überverlinkter Überagenten.

Die Website Foundation Center eröffnet hierauf eine qualitative Perspektive. Mit Hilfe öffentlich zugänglicher Steuererklärungen beschreibt das Center den immensen Zuwachs an philanthropischen Organisationen. 1990 gab es 32401 Stiftungen mit einem Gesamtvermögen von 142 Milliarden Dollar; 2013 hatte sich die Zahl der Stiftungen auf 87142 fast verdreifacht, ihr Vermögen auf 799 Milliarden Dollar mehr als verfünffacht. Ihre Spendentätigkeit wuchs von 8,7 auf 55 Milliarden an, eine Verdreifachung, wenn man die Inflation mit einberechnet. Foundation Center stimmt ein ziemlich simples Lob von Stiftungen an, die den Wohltätigkeitssektor und letztlich „Gemeinschaften in den Vereinigten Staaten und in Übersee“ unterstützen.

Eine kleine Gruppe der Unterzeichner von The Giving Pledge (wenigsten fünf Spender) stellen bedeutende Mittel für die Bewahrung jüdischer Identität bereit. Zusammen mit Milliardären wie Sheldon Adelson, die das Gelöbnis nicht unterzeichnet haben, und einfachen Multimillionären, die dem Eliteclub nicht beitreten dürfen, haben diese Stifter Milliarden von Dollar investiert, um unter jungen amerikanischen Juden ein Gefühl der Identität zu fördern und zu vertiefen. Diese überwiegend aus der Mittel- und Oberschicht kommenden jungen Menschen scheinen auf den ersten Blick eine sonderbare Zielgruppe im Golden Zeitalter der Philanthropie zu sein.

Um diese Investitionen zu verstehen, ist es wichtig, junge Juden als Mitglieder einer bedrohten Gemeinschaft anzusehen. Diese Auffassung setzte sich als Reaktion auf eine Umfrage des Council of Jewish Federations durch, die 1990 die Anzahl der Mischehen unter amerikanischen Juden zwischen 1985 und 1990 auf 52 Prozent bezifferte. Diese Umfrage schien zu zeigen, dass die jüdische Gemeinschaft in den Vereinigten Staaten unterzugehen drohte.

Diese Sorge steht im Zusammenhang mit der Bewegung des Holocausts „von den Rändern in das Zentrum des jüdischen Bewusstseins in den USA“, wie sie Peter Novik beschrieben hat. [1. Peter Novick (1999), The Holocaust in American Life. Boston: Mariner book, S. 267.] Diese Entwicklung, die ihren Höhepunkt in den späten 80er und frühen 90er Jahren des vorigen Jahrhunderts hatte, wurde von der Eröffnung von Holocaust-Museen und von Holocaust-Filmen bestimmt: das United States Holocaust Museum in Washington D.C. wurde 1993 eröffnet,  Steven Spielbergs Schindlers Liste kam im selben Jahr in die Kinos. Die Behauptung, amerikanische Juden litten unter einer „Kontinuitätskrise“, steht damit in Beziehung zu Emil Fackenheims Warnung, Hitler keinen „postumen Sieg“ durch die Abkehr vom jüdischen Leben zu verschaffen. [2. Emil Fackenheim (1982) To Mend the World. Bloomington: Indiana University Press. ] Je stärker die Erinnerung an den Holocaust ins Zentrum rückte, desto dringlicher schien es,  Assimilation und Mischehe zu bekämpfen.

Für die Reaktionen der jüdischen Gemeinschaft auf diese belastende demographische Krise war das Anwachsen unabhängiger Philanthropie von einiger Bedeutung.  Am bekanntesten ist die Gründung von Birthright Israel durch zwei Milliardäre, Michael Steinhart und Charles Bronfman, denen jüdische Kontinuität am Herzen liegt. Seit 1999 hat das Programm 500000 jungen Juden zwischen 18 und 26 eine kostenlose „Erbschafts-Reise“ ermöglicht. Vor kurzem hat der Kasinobesitzer Sheldon Adelson 160 Millionen Dollar gespendet, um dem Programm sein Weiterbestehen zu sichern.

Birthright Israel ist zwar die bekannteste der von Spendern initiierten Unternehmungen, die Lebensfähigkeit der Juden in den Vereinigten Staaten zu sichern, doch gibt es viele andere Beispiele. PJ Library, eine Initiative, die von der Harold Grinspoon Foundation gefördert wird, verschickt kostenlos Bücher mit jüdischen Themen an jüdische Kinder in aller Welt. Als Teil meiner Forschungen zu jüdischen Reaktionen auf Hurricane Katrina habe ich Studienreisen untersucht, die von großen Familienstiftungen gefördert wurden und sich der Bewahrung jüdischer Identität widmen. Diese Reisen nutzen die Vorliebe junger Juden für Freiwilligenhilfe, um diese Hilfsaktionen als jüdische Eigenschaft darzustellen. Hier gab es oft deutliche Spannungen zwischen den Stiftern und den Reiseleitern, denen es eher darum ging, den Teilnehmern Anschauungsunterricht in Sachen sozialer Gerechtigkeit zu erteilen.

Philanthropische Investitionen in jüdische Identität haben die Erfahrungen junger Juden in Amerika tiefgreifend verändert. Heranwachsende Juden haben das Gefühl tief verinnerlicht, weniger Beiträger als vielmehr Gegenstand philanthropischer Initiativen zu sein. Eine Informantin meiner Post-Katrina-Untersuchungen sagte mir, dass jüdische Philanthropie ihr das Gefühl gebe, ein „demographisches Datum“ zu sein.

Jüdische Identitätsgewinnung spielt sich also in einem Rahmen ab, der von reichen Stiftern abgesteckt wird, denen es um die biosoziale Reproduktion von Juden und Judentum geht. Diese Rahmen sind besonders heikel für fortschrittliche junge Juden, die einerseits von philanthropischer Freigebigkeit profitieren, während sie andererseits die soziale Ungerechtigkeit, die diese allererst möglich macht, kritisieren. Junge linke Juden haben begonnen, den Begriff des „jüdischen Privilegs“ ins Spiel zu bringen. Sie versuchen, auf die unverdienten Geschenke für junge Juden aufmerksam zu machen, die diese allein aufgrund ihrer ethno-religiösen Herkunft bekommen. Dieser Rückgriff auf die Sprache des linken Aktivismus ist bedeutsam für die Strategie des inner-jüdischen Protests.

Tatsächlich hat die philanthropische Unterstützung jüdischer Identitätsprojekte bisweilen die Grundlagen erst geschaffen, auf denen junge Juden ihre Wohltäter nun herausfordern. Die lautstärksten dieser Herausforderungen betreffen die politischen Implikationen des israelisch-palästinensischen Konflikts.  Eines der dramatischsten Ereignisse während meiner Untersuchungen zu jüdischen Reaktionen auf Hurricane Katrina war eine Protestaktion gegen die Charles und Lynn Schusterman Family Foundation. Sie richtete sich gegen Insistenz der Stiftung, dass das jüdischen Hilfscorps AVODAH die Absolventen ihres Programms auf eine Israelreise à la Birthright schickt, wenn sie ein Stipendium bekommen wollen. Die Protestierenden, unter denen mittlere Angestellte, Mitglieder des Corps und Absolventen waren, verlangten, dass alle Beziehungen zu Israel und Palästina unter dem Gesichtspunkt sozialer Gerechtigkeit und nicht unter dem des Zionismus  gehandhabt werden. Im Gegensatz zu den Stiftern bestanden sie darauf, dass das Programm ein „safe space“ für junge Juden sein müsse, die zwar an jüdischem Leben teilnehmen wollen, sich jedoch von den Normen jüdischer Institutionen distanzieren, die Unterstützung des Staates Israel verlangen.

Die Dynamik der Identitätsgewinnung junger Juden in diesem Golden Zeitalter der Philanthropie wird also von Auseinandersetzungen über die Kontrolle jüdischer Institutionen  bestimmt. Hillel International, eine Dachorganisation jüdischer Universitätszentren, hat den Ausschluss israelkritischer Stimmen festgeschrieben. Zu ihren Grundsätzen gehört, dass Hillel International

Keine Gruppen, Organisationen, oder Redner einlädt, die
–Israel das Recht aberkennen, als jüdischer und demokratischer Staat in sicheren und anerkannten Grenzen zu existieren;
–Israel delegitimieren, dämonisieren oder mit Sonderkategorien kritisieren;
–Den Boykott, Investitionsentzug  oder Sanktionen gegen den Staat Israel befürworten;
–Gastredner und Campusveranstaltungen stören und eine unkooperative Atmosphäre erzeugen.

Open Hillel, eine Bewegung, die entstand, um diese Grundsätze herauszufordern – da sie einige jüdische Stimmen ausschließen und jeglichen Dialog mit palästinensischen Gruppen unterbinden –, behauptet, dass sich in ihnen das Interesse der Stifter ausspricht. Die Website der Gruppe sagt klar: „Wir glauben an jüdische Institutionen, die den Mitgliedern der jüdischen Gemeinschaft verpflichtet sind und nicht denen großer Stifter.“  Anders gesagt, versucht Open Hillel, eine Institution, die zum großen Teil von Mitgliedern der Stifterklasse getragen wird, zur Plattform für Proteste gegen die Hegemonie jüdischer Stifter zu machen.

Aus dem Englischen von Helmut Müller-Sievers

Moshe Kornfeld ist derzeit Postdoctoral Fellow und Visiting Lecturer in Jewis Studies an der University of Colorado in Boulder.