Intellektuelle Intellektuellenskepsis (Voegelin, Arendt, Milosz)
Dieser Tage ist wieder häufig zu hören, Bildung sei der beste Schutz gegen die Wellen von Populismus, Autoritarismus, Irrationalismus und Regression, die da an die Deiche der liberalen Demokratien branden. Zudem brauche es unbedingt mehr engagierte Akademikerinnen und Intellektuelle, die sich in der Öffentlichkeit zu Wort melden! Auch Kunst und Kultur, wenn man sie nur richtig verstünde und anwende, stellten probate Mittel gegen besagte Tendenzen dar. So oder so ähnlich hört man es im Gespräch unter Bekannten und in Radiofeatures, liest man es im Feuilleton oder in den Sozialen Netzwerken. Doch bereits wenige Blicke in die Geschichte zeigen, dass gerade Gebildete, Akademiker, Künstlerinnen und Intellektuelle empfänglich sind für jene Versuchungen, die von Macht und Ideologie ausgehen. Mehr noch, die in der Moderne sich einstellende Ferne von Bildung und Kunst zur Macht hat oft zu Frustration geführt, die wiederum in Sehnsucht nach Macht umschlägt. (mehr …)It’s Over. Begegnungen in Hongkong
Auf den ersten Blick ist alles wie immer. Die Hochhäuser ragen in den Himmel wie die stumpfen Stacheln eines versteinerten Igels. In der Lockhart Road, wo alte, biertrinkende, weiße Männer in Bars mit jungen, cocktailtrinkenden, asiatischen Prostituierten und Escort-Damen tändeln, wabert der gewohnte süßsäuerliche Fäulnisgeruch. Geschäftsmänner steigen in ihre Teslas ein, Geschäftsmänner steigen aus ihren Teslas aus. Auf den Märkten zappelt Meeresgetier in flachen Becken seinem kulinarischen Ende entgegen, und in den Boutiquen boomt das Luxus-Shopping. Am Wochenende treffen sich in den Parks die immer noch in prekärer rechtlicher und finanzieller Lage darbenden »domestic helpers« von den Philippinen, aus Malaysia, Indonesien, während ihre Arbeitgeber im Happy Valley Pferderennen verfolgen. In den Häuserschluchten, zwischen den Leuchtreklamen und den Imbissbuden, begegnet man weiterhin jenen älteren Frauen, die mit Handkarren im Gewimmel umhermanövrieren; die Blicke starr, die Rücken krumm, der Gang eine unverwechselbare Mischung aus Tippeln und Schlurfen. Und doch ist etwas anders im Hongkong des Jahres 2018. Ein Narrativ kursiert in der Sonderverwaltungszone, wird unablässig wiederholt und weitergegeben. Bei Tischgesprächen in den Cafés. In den Medien. Unter Studierenden an Hochschulen. Auf den Straßen und in den sozialen Netzwerken. Es lautet: It’s over.(Der Essay ist im Februarheft 2019, Merkur # 837, erschienen.)
»Mainlandization«
In einem Restaurant bei North Point entspinnt sich im Januar 2018 ein spontanes Gespräch mit einem Geschäftsmann aus der Finanzbranche. Er ist Anfang vierzig, wacher Blick, ausgezeichnetes Englisch, Familienvater, seit dreizehn Jahren im Business und dies augenscheinlich sehr erfolgreich. Hongkong sei jahrzehntelang ein Leuchtturm in der Region gewesen, erzählt er, während er sich seine Steamed Pork Dumplings munden lässt. Nicht nur als Labor der Finanzindustrie. Sondern auch als Hort einer eigenständigen, hybriden Gesellschaft, die weder chinesisch noch westlich im engeren Sinne sei. Seit ein paar Jahren sehe er jedoch schwarz für sie: »Hongkong ist im Niedergang.« Der ehemaligen britischen Kronkolonie war 1997 bei der Rückgabe an die Volksrepublik China bis zum Jahr 2047 weitreichende Autonomie zugestanden worden. Das Motto lautete: »Ein Land, zwei Systeme«. Dessen ungeachtet greift die Kommunistische Partei der Volksrepublik unter Staatspräsident Xi Jinping immer stärker, immer unverhohlener in Politik, Wirtschaft, Bildung und Justiz Hongkongs ein.
Kultur heißt Dissens
Vor nicht allzu langer Zeit wäre mir dieser Essay wohl überflüssig erschienen. Als eine Aneinanderreihung von Selbstverständlichkeiten. Als eine Sonntagspredigt. Ein Plädoyer für unbequeme, kritische, pluralistische, hybride Kunst und Kultur aus liberaler Sicht? An Einfallslosigkeit nicht zu überbieten! Wie Eulen nach Athen tragen! Die Erfahrung mit autoritären und totalitären Staaten hat doch gelehrt, dass der Respekt für eine solche Kultur ein Gradmesser für freie Gesellschaften ist. Dass nicht die Schmeichler Schutz und Förderung verdienen, sondern die, die die Förderer fordern. Allein, auch die Lehren aus der Geschichte unterliegen den Kräften geschichtlicher Erosion.
In Europa werden Stimmen lauter, die unbequeme Kunst und Kultur nicht nur kritisieren, was ja Sinn der Sache ist, sondern rundweg als volksfeindlich, versifft, zersetzend, gar terroristisch abtun. Auch das Hybride und Transkulturelle geraten unter Verdacht: Stellen sie nicht vermeidbare Stressfaktoren in stressgeplagten Zeiten dar? So verlangt man denn die Reduktion der Förderung für vermeintliche »Fremdkörper« oder die Ächtung und Entlassung von Querdenkern. Zugleich beschwört man die Besinnung auf ein Set angeblich »eigener«, authentischer Werte. Kultur soll zu etwas klar Umrissenem, Positivem, Erbaulichem, ja intuitiv Verständlichem werden – was eine einheitliche, kollektive Identität voraussetzt.
Greifbar wird die wachsende Ablehnung kritischen Kunstschaffens wie auch des Transkulturellen etwa in Polen, wo die nationalkonservative Regierung einen entsprechenden kulturpolitischen Kurs eingeschlagen hat. Ausgerechnet Polen! Das vielzitierte »goldene Zeitalter« des Landes im 16. und 17. Jahrhundert fiel in eine Phase des religiösen, ethnischen und kulturellen Pluralismus. Die heutige Homogenität der polnischen Republik ist zuvorderst tragische Folge des Zweiten Weltkriegs.
(…)