Kein Zugang zum Grand Hotel. Alfred Sohn-Rethel und die Frankfurter Schule

Alfred Sohn-Rethel und die Frankfurter Schule – das ist ein trauriges und für die letztere nicht gerade ruhmvolles Kapitel. Während die Erinnerung an die Gründerheroen heute durch regelmäßige Messen in Form von Symposien und Gedenkveranstaltungen wachgehalten wird, hat Sohn-Rethel, der sie lange überlebt hat, bisher keine vergleichbare Würdigung erfahren; daß er überhaupt irgend etwas mit der Kritischen Theorie zu tun hatte, ist den einschlägigen Darstellungen entweder gar nicht oder nur mit Mühe zu entnehmen. Obwohl die empirische Arbeit des Instituts für Sozialforschung in den siebziger und achtziger Jahren in erheblichem Maße auf seinen Anregungen aufbaute, war es Bremen und nicht Frankfurt, wo ihm in seinen letzten Lebensjahren die überfällige Anerkennung zuteil wurde. Das Grand Hotel Abgrund – für Sohn-Rethel ist es stets off limits geblieben.

Einen Einblick in die wichtigsten Stationen dieser Geschichte, die für Sohn-Rethel eine Leidensgeschichte war, gewährt der soeben veröffentlichte Briefwechsel zwischen Sohn-Rethel und Adorno. [1. Theodor W. Adorno / Alfred Sohn-Rethel, Briefwechsel 1936-1969. München: text + kritik 1991.] Die beiden hatten sich im September 1925 in Neapel kennengelernt, wo Sohn-Rethel seit einem Jahr lebte; weitere Treffen in Frankfurt und Berlin hatten die Beziehung vertieft, ohne daß sich daraus allerdings ein regelmäßiger Gedankenaustausch entwickelt hätte. Dafür sorgte schon die räumliche Distanz. Nach seiner Promotion (1928) mußte Sohn-Rethel für zwei Jahre ins Lungensanatorium nach Davos; und als er später in Berlin beim »Mitteleuropäischen Wirtschaftstag« arbeitete, war es Adorno, der Deutschland verlassen mußte. Erst im Oktober 1936 traf man sich wieder in Paris: Adorno, als Emigrant seit 1934 in Oxford lebend, SohnRethel, nun ebenfalls Emigrant, seit August 1936 in Paris ansässig.

Adorno war nicht primär wegen Sohn-Rethel gekommen. Sein Besuch galt Benjamin. Es war außerdem ein quasi offizieller Besuch, denn Adorno kam im Auftrag Horkheimers, um mit Benjamin Gespräche über das vom Institut geförderte Passagen-Projekt zu führen. War Adorno bis vor kurzem noch so etwas wie ein Schüler Benjamins gewesen, so hatte sich dies inzwischen geändert. Seine Aufsätze und Briefe aus dieser Zeit dokumentieren ein neues und tieferes Verständnis Marxscher Kategorien und ein intensives Bemühen, die von Lukacs aktualisierten Theoreme des Warenfetischismus und der Verdinglichung fruchtbar zu machen – Intentionen, die ihn zugleich in einen wachsenden Gegensatz zu Benjamin brachten, der sich zwar ebenfalls materialistischen Positionen genähert hatte, dabei aber die gröber gestrickten Versionen von Brecht und Korsch bevorzugte. In dieser Situation war Sohn-Rethel für Adorno ein doppelt willkommener Bundesgenosse. Einmal, weil er gerade ein umfängliches Manuskript (das »Luzerner Expose«) verfaßt hatte, in dem er das Transzendentalsubjekt Kants als eine chiffrierte Form des Kapitals vorstellte und damit Adornos eigenen, wenngleich noch sehr tastenden Bemühungen in dieser Richtung einen kräftigen Schub verlieh. Sodann, weil sich mit seiner Unterstützung die Aussicht eröffnete, Benjamin auf einen reflektierteren Kurs zu bringen. Ein auf diese Weise »dialektisierter « Benjamin im Verein mit Sohn-Rethel und Adorno, das wäre ein aussichtsreiches Arbeitsbündnis gewesen, von dem der letztere wohl auch gehofft haben mag, daß es ein Gegengewicht zur orthodoxen Variante der Ideologiekritik bilden würde, wie sie im Institut von Marcuse und Löwenthai vertreten wurde. Immerhin war seine Aversion gegen diese Richtung so ausgeprägt, daß er im Jahr zuvor Horkheimer aufgefordert hatte, Marcuse aus dem Institut zu werfen.

So begann eine Serie von Besuchen und Briefen im Dreieck Paris-Oxford-NewYork, die erst durch den Krieg beendet wurde. Im Oktober 1936 erhält Adorno das »Luzerner Expose« und wenig später einen langen Brief, in dem Sohn-Rethel seine Gedanken zusammenfaßt; im November trifft man sich in Oxford, im Dezember mit Benjamin in Paris; weitere Treffen in Paris und London folgen, jedesmal erfüllt von langen Diskussionen über Sohn-Rethels Theorie. Adorno, der das »Luzerner Manuskript « zunächst für außerordentlich schwierig erklärt, äußert sich zu der brieflichen Kurzfassung geradezu enthusiastisch. Sohn-Rethels Brief, so schreibt er, habe für ihn die größte geistige Erschütterung seit seiner ersten Begegnung mit Benjamin bedeutet; nur die Tiefe der Übereinstimmung mit seiner eigenen Position hindere ihn, die Arbeit genial zu nennen. Und auch Benjamin, dem Neues beizubringen schwerer war als die Fütterung einer Straßburger Gans (Adorno), taut langsam auf. Er äußert zwar Bedenken hinsichtlich der Beweislast, die sich Sohn-Rethel aufgebürdet habe, hält aber die Intention für durchaus bedeutungsvoll. Wie Adorno plädiert auch er in Briefen an Horkheimer dafür, dem völlig mittellosen Sohn-Rethel die Fortsetzung seiner Arbeit zu ermöglichen.

Horkheimer läßt sich durch diese Bitten wohl dazu bewegen, Sohn-Rethel zweimal einen Betrag von tausend Francs zu überweisen und eine Beteiligung des Instituts an einem Stipendium zuzusagen. Seine Reaktion auf die verschiedenen Exposes aber ist vernichtend. Er und Marcuse, heißt es in dem im Erläuterungsteil wiedergegebenen Brief an Adorno vom 8. Dezember 1936, hätten nichts in ihnen finden können, was man nicht schon seit langem wisse. SohnRethels Ausführungen bestünden in großsprecherischen Postulaten und Versicherungen, vorgetragen in einer akademisch eitlen und bombastischen Sprache; wenngleich eine große Denkkraft nicht zu verkennen sei, stehe diese doch zur Geschichte »nicht viel anders als irgendein Jaspers oder sonst ein Professor«. Anstelle der Marxschen Kategorien könnten Comtesche oder Spencersche stehen, ohne daß sich irgend etwas änderte; der Begriff der Ausbeutung werde allen aggressiven Inhalts beraubt, die kritische Dimension des Marxismus völlig coupiert. Adorno, schreibt Horkheimer abschließend, möge Sohn-Rethel immerhin vorschlagen, eine kurze und klare Zusammenfassung anzufertigen, die man eventuell drucken könnte jedoch: »wenn der Aufsatz nicht ganz andere Qualitäten zeigt als der Entwurf, werde ich ernstlich versuchen, Sie von dem Gedanken an eine Zusammenarbeit mit Sohn-Rethel abzubringen«. Roma locuta, causa finita.

Das war nicht gerade der Anfang einer wunderbaren Freundschaft, aber es sollte noch schlimmer kommen. Als SohnRethel die angeforderte Kurzfassung schickt, hält Horkheimer es nicht einmal für nötig, ihm die Ablehnung selbst mitzuteilen; der knappe und höchst abfällige Bescheid geht an Adorno und dürfte diesem wohl einige Depressionen bereitet haben. Sohn-Rethel, inzwischen durch ein Stipendium gesichert, läßt sich nicht entmutigen und arbeitet seine Gedanken zu einem neuen, längeren Werk aus (»Kritische Liquidierung des philosophischen Idealismus«, unveröffentlicht), dessen erste Hälfte er im Juli 1938 nach New York schickt. Diesmal erhält er überhaupt keine Antwort, nicht einmal von Adorno, der seit Februar 1938 in New York lebt. Das gleiche Spiel zwei Jahre später, als die Zweitfassung der »Kritischen Liquidierung« über den Atlantik geht. Und schließlich dasselbe noch einmal im April 1943: auch die dritte, englische Version, die SohnRethel nach seiner Entlassung aus dem Internierungslager verfaßt, bleibt ohne Echo. Im August 1944 schreibt SohnRethel noch einen weiteren, verzweifelten Brief, in dem er wenigstens um einen Kommentar bittet, doch Kalifornien schweigt. Damals muß ihm das Grand Hotel Abgrund eher wie Kafkas Schloß erschienen sein.

Hier ist nicht der Ort, nachträglich über Umgangsformen zu rechten, obwohl es schon einer Reflexion wert wäre, warum gerade Horkheimer, der so gern von Solidarität und Moral predigte, nicht einmal die Minimalstandards bürgerlicher Höflichkeit einzuhalten bereit war. Wichtiger ist die Frage, woher eigentlich die Feindseligkeit rührte, die er Sohn-Rethel gegenüber an den Tag legte. Dazu muß man sich die unterschiedliche geistige und politische Herkunft beider Autoren vergegenwärtigen. SohnRethels Versuch, den Formalismus des idealistischen Denkens gesellschaftstheoretisch zu dimensionieren, ruhte geistesgeschichtlich gesehen auf zwei Voraussetzungen: auf dem Neukantianismus, den Sohn-Rethel während seines Studiums sowohl in seiner Marburger (Cassirer) als auch in seiner südwestdeutschen (Rickert) Variante kennengelernt hatte; und auf den verschiedenen, seit der Jahrhundertwende unternommenen Anläufen, den vom Neukantianismus herausgestellten Primat der formalen oder funktionalen Rationalität soziologisch zu erklären. Nirgendwo sonst wurde mit einer solchen Intensität an dieser Aufgabe gearbeitet wie in Heidelberg – dem Ort, den Sohn-Rethel 1917 als Studienort wählte und wo er elf Jahre später promovierte. Hier entwarf Max Weber sein monumentales Programm einer Soziologie des okzidentalen Rationalismus. Hier empfing Georg Lukacs die Anregungen, aus denen 1923 Geschichte und Klassenbewußtsein hervorging. Hier entstand Karl Mannheims Wissenssoziologie, die den Zusammenhängen zwischen den Paradigmen der Erkenntnistheorie und der· historisch-gesellschaftlichen Seinslage nachspürte. Und noch die in den dreißiger Jahren geschriebenen Werke von Norbert Elias können nicht verleugnen, wieviel sie dem Heidelberger Genius loci verdanken: kreisen doch auch sie zu einem nicht geringen Teil um das Problem einer Soziogenese des Rationalismus.

Sohn-Rethel mag in Heidelberg, wie er selbst berichtet, isoliert gewesen sein, er mag sein Studium öfter unterbrochen und sich längere Zeit in Italien aufgehalten haben: sein Thema ist typisch heidelbergerisch und selbst die Art der Durchführung mitnichten so solipsistisch, wie er nachträglich gern behauptet hat. Daß die Lösung des Rätsels des modernen Rationalismus in der Warenstruktur zu suchen sei, hatte schließlich schon Lukacs erkannt, und obwohl der geschichtsphilosophisehe Ballast, mit dem er seine Ausführungen befrachtete, in Heidelberg eher auf Ablehnung stieß, so hielten doch Mannheim und Alfred Weber sein Werk für bedeutend genug, um darüber ein Seminar zu halten. Für die Soziologie des Rationalismus, soviel ist festzuhalten, gab es in Heidelberg eine gute Tradition, die auf Sohn-Rethel ihren Einfluß nicht verfehlt haben wird, auch wenn er sich in den meisten Fragen dafür entschied, seinen eigenen Weg zu gehen.

Sein Pech war, daß Horkheimer von eben dieser Tradition nichts hielt. 1919 hatte der junge Moralist in München Max Weber gehört und tief enttäuscht dessen Vorlesungverlassen, weil es in ihr so wissenschaftlich streng und wertfrei zugegangen sei; an Lukacs hatte ihn weder die Wissenschaftskritik noch die Geschichtsphilosophie beeindruckt; und über Mannheim war er nachgerade empört, weil der die Marxschen Kategorien in die akademische Soziologie integrierte und sie damit angeblich ihres kritischen Inhaltes beraubte – exakt dieselben Vorwürfe, wie sie Horkheimer wenig später an die Adresse Sohn-Rethels richtete. Die Untersuchung der sozialen Bedingtheit von Theorien, heißt es in Traditionelle und Kritische Theorie unterscheide sich nicht grundsätzlich von den übrigen fachlichen Bestrebungen, mit denen sich der Wissenschaftsbetrieb beschäftige und mit denen er, wie Horkheimer unterstellte, von den eigentlichen Problemen ablenke. Die Aufgaben der Kritischen Theorie waren anderer Art. Sie hatte die Werte einzuklagen, die von der bürgerlichen Gesellschaft formal anerkannt, aber nicht erfüllt wurden, sie hatte den Menschen zu helfen, sich aus einem uneigentliehen, bewußdosen Subjekt in ein eigentliches, bewußtes zu verwandeln, sie hatte dafür zu sorgen, daß aus der an sich vorhandenen, in Wissenschaft und Technik objektivierten Vernunft nun auch ein vernünftiges Für sich würde; und bei diesem Geschäft konnte sie am allerwenigsten eine Soziologiegebrauchen, die sich für Werte wenig, dafür aberum so mehr für den Nachweis interessierte, daß der dominierende, also auch Wissenschaft und Technik prägende Rationalitätstypus alles andere als vernünftig, vielmehr der Ausdruck einer abstrakten Gesellschaft war.

Welch eine Konstellation: da setzt ein Außenseiter des akademischen Betriebs einen großen Teil seines Lebens an ein Projekt, das zu realisieren der etablierten Wissenschaft wohl angestanden hätte die Erklärung der Soziogenese des Rationalismus. Die etablierte Wissenschaft aber, und zu ihr gehörte, allen Schwierigkeiten und Spannungen zum Trotz, auch das Institut für Sozialforschung, verweigert ihm die Unterstützung, weil ihr dieses Projekt – zu akademisch ist. Prediger ohne Publikum, wollte Horkheimer doch auf das Predigen nicht verzichten; und da Sohn-Rethel hierzu nichts beizutragen hatte, wurde er zur Persona non grata und nicht nur von allen Mitteln abgeschnitten, die er zur Verwirklichung seiner Ideen gebraucht hätte, sondern, was schlimmer war, von jedem gedanklichen Austausch: denn außerhalb des Instituts war, wie Sohn-Rethel sehr richtig sah, niemand, der die Relevanz seiner Untersuchungen ermessen konnte. So mußte er ein Vierteljahrhundert in einem Kommunikationsvakuum verharren und noch zwei weitere Versionen seiner Theorie schreiben, bis endlich ein Diskussionszusammenhang entstand, in dem er gehört wurde. Daß die Weichen für die Veröffentlichung von Geistige und körperliche Arbeit am Grabe Adornos gestellt wurden, seines privilegierten Lesers über dreiunddreißig]ahre, ist eine weitere jener abgründigen Ironien, von denen sein Leben erfüllt war.