Austromanie oder der antifaschistische Karneval

I

Bei Gelegenheit einer von der Österreichischen Akademie der Wissenschaften veranstalteten Debatte zu Fragen des »Anschlusses« vom März 1938 äußerte der deutsche Historiker Hans Mommsen die Vermutung, daß die österreichische Nationsbildung noch nicht abgeschlossen sei. [1. Vgl. Gerald Stourzh/Birgitta Zaar (Hrsg.), Österreich, Deutschland und die Mächte. Wien: Österreichische Akademie der Wissenschaften 1990, S.442.] Das war anläßlich des fünfzigsten Jahrestages der Annexion Österreichs durch Hitlerdeutschland im sogenannten »Bedenkjahr« 1988, mitten in der Waldheim-Affäre, und Mommsen hatte vielleicht recht − damals. Heute hätte er sicher unrecht. Und doch werden ähnliche Diagnosen, die mittlerweile schon zu Stereotypen geronnen sind, zur Zeit wieder geäußert, um damit auf fast magische Weise den Aufstieg der Haider-Partei zu erklären, deren Regierungsbeteiligung die Beziehungen Österreichs innerhalb der Europäischen Union in eine diplomatische Krise gestürzt hat.

Auf eine Kurzformel gebracht lautet die These, daß in der Wahlbewegung Haiders bislang verdrängte deutschnationale und nazinostalgische Sehnsüchte ihren Ausdruck fänden, die, ermöglicht durch eine mangelnde »Aufarbeitung der Vergangenheit«, eine »Wiederkehr des Verdrängten« befürchten lassen. Neben dem Fehlen eines korrekten Geschichts- und Schuldbewußtseins und einer starken liberal-demokratischen Tradition sei es insbesondere die Brüchigkeit der nationalen Identität, welche die Entstehung eines »deutschen Blocks« befürchten lasse und das Land in seinem derzeitigen Zustand europauntauglich mache. Darüber hinaus bestehe die Gefahr, daß Österreich auch andere Staaten der EU mit dem rechtsradikalen Virus »anstecke«, wie es des öfteren mit einer stramm biologistischen Metapher heißt. Daher die Notwendigkeit einer Quarantäne.

Aber abgesehen von der theoretischen Fragwürdigkeit des Aufarbeitungskonzeptes überhaupt und auch abgesehen von der logischen Pikanterie, daß das Verlangen nach Befestigung der nationalen Identität im gleichen Atemzug vorgebracht wird wie die (im übrigen unsinnige) Forderung nach einem Aufgehen aller nationalen Identitäten in einem größeren Europa, ist vor allem das Bild von der politischen Lage in Österreich, das der Reaktion der Vierzehn zumindest offiziell zugrunde liegt, nurmehr ein Klischee, dessen Reproduktion sich unbeeindruckt zeigt von der realen geschichtlichen Entwicklung und die ignorant ist gegenüber den empirischen Verhältnissen im Lande selber. Der Aufstieg Haiders hat nämlich in der Tat sehr banale, gegenwärtige Gründe. Sie liegen nicht in der Vorgeschichte der Republik, und sie liegen auch nicht in ihrer längst überwundenen Unreife als Nation. Die »österreichische Frage«, wenn es sie denn gibt, verlangt eine andere Antwort als symbolische Vergangenheitspolitik.

Denn wie recht Mommsen seinerzeit gehabt haben mag (damals lag die FPÖ gerade einmal bei 5 Prozent der Wählerstimmen): Die österreichische Nationsbildung hat in den letzten eineinhalb Jahrzehnten, seit dem Machtantritt Gorbatschows und dem damit eingeleiteten Ende des Kalten Krieges, entscheidende Fortschritte gemacht − zunächst über die erst durch die außenpolitische Entspannung ermöglichten rechtsstaatlichen Reinigungskrisen der achtziger-Jahre, von denen die Waldheim-Krise nur der Höhepunkt war (und in der übrigens nicht nur die Nazivergangenheit des Landes an einem exemplarischen Fall mit international beispielloser Intensität innenpolitisch »aufgearbeitet«, sondern auch die aus der Nahostpolitik der Kreisky-Ära aufgestauten Ressentiments außenpolitisch abgearbeitet wurden), sodann aber und vor allem durch die tiefgreifende Änderung der internationalen Lage selbst.

Unter den historischen Ereignissen seit dem November 1989 − deutsche Wiedervereinigung, Auflösung des Warschauer Pakts, Zerfall der Sowjetunion, Sezessionen, Staatenbildungen und Demokratisierung in Ost- und Mitteleuropa, der Krieg am Balkan − sind für den Abschluß der österreichischen Nationsbildung insbesondere die Lösung der deutschen Frage und die Veränderung des Verhältnisses Österreichs zu Deutschland durch den EUBeitritt Österreichs von herausragender, unmittelbarer Bedeutung gewesen. Das Ende der Nachkriegszeit und die politische Neuordnung Europas haben auch die Bedingungen geschaffen für die späte Reifung der österreichischen Nation. Die heiße Phase ihrer Bildung, die den Kulturbetrieb über Jahrzehnte am Kochen hielt, ist vorbei − und dies trotz des Geschreis, das wegen der Regierungsbeteiligung der »Freiheitlichen« erhoben wird. Diese ist vielmehr selbst ein notwendiger, wenn auch unerfreulicher Schritt zur innenpolitischen Normalisierung, weil sie die Möglichkeit eines demokratischen Wechsels der Regierungskonstellation demonstriert, der lange Zeit versperrt schien. Daß die früher tatsächlich deutschnationale FPÖ, die als Kleinpartei über sechzehn Jahre die Sozialdemokratie stützte und drei Jahre mit ihr in der Regierung saß, jetzt für viele Anathema ist, gründet nicht in ihrem veränderten Verhältnis zur NSDAP (das ist heute distanzierter denn je), sondern in ihrem veränderten Verhältnis zur SPÖ.

II

»Omnis determinatio est negatio« − das Spinozanische Axiom trifft die Logik der österreichischen Nationsbildung genau: Denn es ist die (konstruierte) historisch-kulturelle Differenz zu Deutschland, die Österreich als eigene Nation definiert, diese bestimmt sich wesentlich in negatorischem Bezug auf die deutsche; und bleibt gerade dadurch dialektisch an sie gebunden. Als Nation kann Österreich sich nicht positiv-historiographisch definieren, denn es ist als Staat nicht Ergebnis eines nationalistischen Einigungsprozesses, sondern einer Spaltung und Zerschlagung. Aber nicht in Abgrenzung zu den ehemaligen Kronländern der Monarchie bestimmt sich die nationale Identität der Republik, sondern ausschließlich in bezug auf Deutschland: Österreich ist das Land, das nicht Deutschland ist. Doch ist die Beziehung naturgemäß nicht symmetrisch. Das deutsch-österreichische Nationalverhältnis ist ein rein österreichisches Verhältnis, zumindest als Thema und als Problem. Ein deutsches Thema ist es nicht und auch kein deutsches Problem. Als solches wurde es 1866 von Preußen erledigt, doch als österreichisches dauerte es fort: als Trauma des Ausschlusses, das, 1919 forciert, nach 1938 in ein Anschlußtrauma umgeschlagen ist und in dieser Gestalt die sozialpsychologische Grundlage des neuentstandenen Nationalgefühls der Zweiten Republik bildete.

Man kann daher von Deutschland reden, von seiner Stellung in Europa und in der Welt, ohne Österreich auch nur zu erwähnen − auch bei großen, nationalpolitisch bedeutsamen Ereignissen, zum Beispiel bei den Debatten im Gefolge der Wiedervereinigung, im Historikerstreit oder anläßlich der Veranstaltungen zum fünfzigsten Jahrestag der Kapitulation war von Österreich überhaupt nicht die Rede, obwohl es doch auch in der jüngeren deutschen Geschichte eine nicht unerhebliche Rolle gespielt hat, zumindest durch sein Personal. Außerhalb der politischen Kaste wird Österreich als Staat, als politische Entität, in Deutschland gar nicht wirklich wahrgenommen, auch von der gehobenen Journalistik nicht − und wenn doch, dann redet die von der »Alpenrepublik«, was nicht nur der Topologie des Landes nicht gerecht wird, sondern auch ein krasses Unverständnis seiner Geschichte und Kultur indiziert; und sie meint damit nicht vielleicht die Schweiz. Wien, politisches und kulturelles Zentrum des Landes, liegt am Rande der pannonischen Tiefebene.

Aber man kann nicht von Österreich reden, ohne zugleich von Deutschland zu reden − und wir in Österreich tun es ja auch, nicht nur bei historischen Anlässen wie dem schon erwähnten »Bedenkjahr« oder dem fünfzigsten Jahrestag der Zweiten Republik, sondern permanent, erzwungen allein schon durch die mediale Dauerpräsenz der deutschen Massenkultur. Das bißchen Folklore spielt dagegen kaum eine Rolle, und auch diese ist vor allem für die deutschen Touristen da. Während Deutschland laufend mit sich selbst beschäftigt ist und seiner Wesenssucherei, ist Österreich − mit Deutschland beschäftigt. Besonders deutlich wurde diese Fixierung in den Diskussionen und Polemiken vor dem Referendum zum EU-Beitritt im Frühjahr 1994: Die Gegner des Beitritts, und die kamen zum Großteil aus dem linken und linksliberalen Lager, haben vor allem mit dem Anschluß- trauma operiert und der Gefahr des Verlustes der nationalen Identität − weniger in bezug auf Brüssel und Straßburg als in bezug auf Bonn und Berlin.

Dieses Anschlußtrauma ist die genaue Inversion des älteren Verletzungstraumas durch den Ausschluß Österreichs vom Deutschen Bund seit 1866, der mit der preußischen, kleindeutschen Reichsgründung 1871 ratifiziert wurde. Ein spezifisch österreichisches Nationalbewußtsein konnte sich unter den Bedingungen der multinationalen Habsburgermonarchie nicht bilden, für die Krone, das »Haus Österreich«, war Österreich eine supranationale Klammer, und so gab es zwar eine ungarische, eine tschechische, eine slowenische, eine ruthenische usw. Nationalität, aber keine österreichische. Im Unterschied zu den Hohenzollern, für die der Nationalismus nach 1871 ein Einigungsmittel des Reiches war, hatte die habsburgische Zentralmacht ein vitales Interesse daran, alle nationalen Regungen, Sprengsätze für die Monarchie, zu entschärfen, die nationale Rhetorik zu entpathetisieren; die »Klammer« Österreich konnte sowenig als Nation konstruiert werden wie in Deutschland Preußen. Weil der österreichische Deutschnationalismus in sich selbst zerrissen und ein Nationalismus der Niederlage war, war er besonders aggressiv, und er war in extremer Weise antisemitisch, weil die Juden jenen Kosmopolitismus verkörperten, den die Nationalen in der verhaßten multinationalen und multikulturellen Monarchie repräsentiert sahen. Aber nicht nur die politisch organisierten »Deutschnationalen«, der gesamte deutschsprachige Teil des »Vielvölkerstaates«, insbesondere die alten Liberalen in der Tradition von 1848 und die Leitfiguren der 1888 gegründeten Sozialdemokratie, dachte und fühlte in nationaler Hinsicht deutsch, man empfand sich als zur deutschen Nation gehörig, die staatliche Trennung als unnatürlich, Resultat preußischer Machtpolitik. Es gab eben nur eine deutsche Nation, keine österreichische, sowenig wie es eine bayerische, hessische oder preußische gab; und Deutsch-Österreich war ebenso selbstverständlich Teil dieser einen deutschen Nation wie Preußen. In welchem Maße dieses groß- deutsche Nationalgefühl auch legitimistische Kreise beherrschte, zeigt die bittere Bemerkung, mit der Franz Grillparzer, der österreichische »Nationaldichter« par excellence, auf die preußische, kleindeutsche Reichsgründung reagierte: »Ihr glaubt, Ihr habt ein Reich geboren, und habt doch nur ein Volk zerstört!«

Nach der Niederlage im Ersten Weltkrieg und dem Sturz der Monarchien 1918 standen dem »Anschluß« des »Restes«, der Österreich nach einem Clemenceau zugeschriebenen Wort geworden war, die Pariser Vorortverträge von 1919 entgegen − die Paragraphen 80 und 88 von Versailles beziehungsweise St. Germain verboten den Anschluß explizit; die Novemberverfassung von 1918 hatte in ihrem Artikel 2 »Deutschösterreich« voreilig schon zum Bestandteil der deutschen Republik erklärt. Dieses Verbot änderte freilich nichts am Liebeswerben der jungen Republik gegenüber dem »Altreich«, das so alt ja auch nicht war, insbesondere die Sozialdemokratie erklärte den Anschluß zu ihrem vorrangigen außenpolitischen Ziel − sie strich den Anschlußparagraphen erst Mitte Oktober 1933 aus ihrem Programm. Der zweimal erste Kanzler der Republik, der Sozialdemokrat Karl Renner, war ein »Deutschnationaler« im eigentlichen Sinn des Wortes, und der Schöpfer der österreichischen Bundesverfassung von 1920, Hans Kelsen, drückte seinen brennenden Wunsch, daß Österreich »aufgehen« möge im »deutschen Vaterlande«, 1923 in Österreichisches Staatsrecht sogar pathetisch in schlechten Versen von Conrad Ferdinand Meyer aus.

Vom Berlin der Weimarer Zeit wurde diesem Wiener Werben eher kühl begegnet, man hatte dort andere territoriale Prioritäten. Keine Rede also davon, daß von preußisch-deutscher Seite, auch nicht nach dem Sturz der Hohenzollern, eine Annexionsgefahr ausgegangen wäre; auf die Sehnsüchte österreichischer Großdeutscher reagierte Berlin bis 1933 eher mit einer Politik der kalten Schulter, bestenfalls mit herablassendem Wohlwollen. Es gab auf deutscher Seite zwar ein ökonomisches Interesse an einer Südost-Expansion, wie es etwa in der versuchten, von Genf jedoch untersagten Zollunion mit Österreich 1931 zum Ausdruck kam, aber es gab kein integrationistisches Sentiment gegenüber dem österreichischen Deutschtum, weder vor 1918 noch in der Weimarer Zeit, jedenfalls was die maßgebenden politischen Kreise betrifft. (Es ist im übrigen bemerkenswert, daß auch nach 1945 von keiner politischen Seite der Bundesrepublik Deutschland auch nur momentan der Gedanke einer Vereinigung mit Österreich geäußert worden ist: Das Anschlußthema ist zur Gänze ein österreichisches Thema, die »Anschluß- neurose« ist eine reine »Inversionsneurose«!) Und es war dann ja auch nicht ein preußischer Junker oder ein Berliner Lutheraner, sondern ein Oberösterreicher katholischer Provenienz, der seine Heimat heim ins Reich holte − ironischerweise mit Hilfe der deutschen Armee! Sehr viel Scherereien hatte er dabei bekanntlich nicht − das einzige, was die Invasionstruppen ein wenig aufhielt, waren eine etwas zu zögerliche Taktik, ein paar technische Pannen und die jubelnden Massen, die im Weg standen. Das Land war reif: für Deutschland! Das ist weder erstaunlich noch ein besonderer Skandal, daher auch kein geeigneter Gegenstand für nachträgliche moralische Empörung. Denn trotz der Bemühungen einiger weniger, wie des katholischen Publizisten Ernst Karl Winter oder des Kommunisten Alfred Klahr, der 1937 in der KP-Zeitschrift Weg und Ziel den ersten Versuch unternahm, eine österreichische Nation theoretisch zu begründen, gab es bis in die späten dreißiger Jahre kein auf das Territorium der Republik, die ohnehin keine mehr war, bezogenes Nationalgefühl, das Land war auch politisch zutiefst gespalten, lebte seit 1933/34 unter einem klerikalen Faschismus und kam aus der Wirtschaftskrise nicht heraus, während Deutschlands Kriegswirtschaft boomte.

Gleichwohl hat die damalige klerikale Regierung verzweifelten politischen Widerstand geleistet, Dollfuß warals erster ausländischer Regierungschef in einem von Berlin aus dirigierten Putschversuch schon 1934 ermordet worden, und doch ist es in Österreich im Unterschied zu Deutschland gelungen, eine innere Machtergreifung der Nazis zu verhindern − und das trotz wachsenden Drucks von innen und außen über fünf von zwölf Jahren des Dritten Reiches. Erst der letzte Versuch Schuschniggs, die überwiegend ablehnende Haltung der Bevölkerung zum Anschluß an Nazideutschland durch ein freies Referendum zu demonstrieren, löste bei Hitler den jähen Übergang vom »evolutionären« und » legalen« Konzept der Annexion zur völkerrechtswidrigen militärischen Okkupation aus. [2. Vgl. Gottfried-Karl Kindermann, Der Feindcharakter Österreichs in der Perzeption des Dritten Reiches. In: Österreich, Deutschland und die Mächte.]

Der Anschlußjubel vom März 1938 war also kleiner, als er heute oft dargestellt wird, vor allem aber war er »überdeterminiert« − er war politisch, ökonomisch und national motiviert, und es wird wohl niemals möglich sein, die Austromanie oder der antifaschistische Karneval Dimensionen dieser Gemengelage analytisch zu isolieren und ihre quantitativen Proportionen zu bestimmen. Wegen dieser Ambivalenz konnte er später, je nach polemischem Interesse, in jeder beliebigen Richtung instrumentalisiert werden. (Diese sachliche Ambivalenz ist in der Figur Hitlers personalisiert: Einerseits Österreicher, machte er andererseits seine Karriere in Deutschland und wurde dessen Führer; in Wien wohnte er im Männerheim und war zu unbegabt für die Kunstakademie.)

Als Hitler am 15.März 1938 am Wiener Heldenplatz verkündete: »Als Führer und Kanzler der Deutschen Nation und des Reiches melde ich vor der Geschichte nunmehr den Eintritt meiner Heimat in das Deutsche Reich!«, da jubelten Hunderttausende österreichische Nazis; aber die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung hat nicht gejubelt, und es waren auch nicht nur Nazis und ihre Sympathisanten, die bei der frisierten Volksabstimmung nach dem Anschluß am 10.April, die schon unter den Augen der Gestapo stattfand, mit »Ja« stimmten. Auch der Episkopat hatte dazu aufgefordert, und sogar »freudig« ein Karl Renner, in Fortführung seiner gesamten bisherigen Haltung und Politik in der Nationalitätenfrage: Die Nazis kommen und gehen, aber der Anschluß kann bleiben, so lautete wohl die Überlegung.

Nationalpolitisch war das nur konsequent und entsprach der alten Anschlußsehnsucht vieler Österreicher an Deutschland, insbesondere in der Sozialdemokratie. Das war nicht notwendigerweise ein Votum für die Nazis, im Gegenteil. Geprägt durch die Erfahrungen in der Monarchie, hielten die führenden sozialdemokratischen Theoretiker die Lösung der Nationalitätenfrage für logisch prioritär, weil jene mit der einheitlichen Nation erst das politische Dispositiv schaffen sollte für die soziale Revolution. So schrieb Otto Bauer noch nach dem 13.März 1938 in seinem sogenannten »Politischen Testament«: »Die Kommunisten … haben nach der Annexion … nicht gezögert …, die Losreißung Österreichs vom Reiche, die Wiederherstellung eines unabhängigen Österreichs als Kampfziel zu proklamieren. Die Sozialisten … haben der irredentistisch-separatistischen Losung der besiegten Vaterländischen die gesamtdeutsch-revolutionäre Losung entgegengestellt.« [3. Otto Bauer, Nach der Annexion. In: Werke. Band 9. Wien: Europa 1980.]

Der gleiche Otto Bauer hatte in einem Artikel Der Sozialismus und die deutsche Frage in Der Kampf, der theoretischen Zeitschrift der Sozialdemokratie, vom Jänner 1937 gegen die Idee einer österreichischen Nation höhnisch vom »Spuk eines aus Katholizismus, Habsburger-Tradition und feudaler Barockkultur zusammengebrauten österreichischen Menschen« gesprochen. Abgesehen davon, daß einerseits unklar bleibt, was an diesem Spuk soviel schlimmer sein soll als an einem − um in den dummen Klischees zu bleiben − aus Protestantismus, verschwitzter Machermentalität und perennierender Wiederaufbaumisere zusammengebrauten deutschen Menschen, ist vor allem andererseits nicht einzusehen, warum diese These, so sie denn jemals richtig war, 1945 auf einmal falsch geworden sein soll, ausgerechnet in dem Augenblick, als der Nazismus militärisch zusammengebrochen war, die westlichen Siegermächte sich anschickten, zumindest in dem von ihnen besetzten Teil Deutschlands eine funktionierende parlamentarische Demokratie zu installieren und den deutschen Menschen − übrigens mit erstaunlichem Erfolg! − dafür umzuerziehen.

Genau das aber war beziehungsweise wurde der Fall: Seit 1945 gibt es als offizielle Staatsdoktrin eine österreichische Nation, und wie alle empirischen Erhebungen zeigen, wird das von denen, die ihr zugerechnet werden, auch zunehmend geglaubt oder gewußt (was das gleiche ist), das heißt das österreichische »Nationalbewußtsein« erfuhr in den letzten fünfzig Jahren eine rapide Entwicklung. Die Österreicher »bekennen« sich zu »ihrer« Nation, und daher gibt es sie auch. »Der Staat, den keiner wollte« (Hellmut Andics), ist heute einer, den alle wollen. Sogar die Haider-Partei, ehemals Sammelbecken der Deutschnationalen, lancierte 1993 ihr Anti-Ausländer-Volksbegehren unter der Parole »Österreich zuerst!«. Wenn das kein Erfolg der Österreichwerbung ist, dann gibt es keinen.

Schwer zu sagen, wann genau die Sache mit der Nation und der Idee des Anschlusses ins Kippen kam; sicher während der Nazizeit und als Folge des Anschlusses unter nazistischem Vorzeichen, der eben auch eine gewaltsame Annexion war − die »Piefkes« führten sich in der »Ostmark« tatsächlich wie Besatzer auf, auch gegenüber ihren »Volksgenossen«, manche Karriereerwartung wurde enttäuscht, und so lebte der alte Preußenhaß wieder auf, generalisiert auf die »Reichsdeutschen« im allgemeinen. Wen Gott strafen will, dessen Gebete nimmt er wörtlich und erhört sie − diese Erfahrung macht man vor allem in gottlosen Zeiten. Man sollte die staatspolitisch einigende Wirkung des Nazismus für Österreich aber auch nicht überschätzen: Unter den politisch zerstrittenen Eliten in der Emigration ist es zur Bildung einer Exilregierung nie gekommen.

Als hartes Datum für den Umschlag in der Frage der Nationalität haben wir allerdings die Moskauer Deklaration vom 1.November 1943, mit der Österreich von den Alliierten als erstes Opfer der deutschen Aggression anerkannt, »die Besetzung (annexation) Österreichs durch Deutschland am 15. (sic!) März 1938 für null und nichtig« erklärt und seine Befreiung von deutscher Herrschaft zu einem Kriegsziel proklamiert wurde. Die Erklärung geht in ihren Grundzügen auf einen Entwurf des britischen Berufsdiplomaten Geoffrey W. Harrison zurück, der sein Memorandum an das Kriegskabinett mit dem Satz eröffnete: »Austria was the first free country to fall a victim to Nazi aggression.« Der Doyen der österreichischen Geschichtswissenschaft, Gerald Stourzh, hat als erster darauf aufmerksam gemacht, daß dies reinste Churchillsche Prosa ist. Denn schon am 18.Februar 1942, also fast zwei Jahre vor der Moskauer Deklaration, hatte Churchill anläßlich einer Ansprache vor exilierten österreichischen Diplomaten wörtlich erklärt: »We can never forget in this island that Austria was the first victim of Nazi aggression.« [4. Vgl. Gerald Stourzh, Um Einheit und Freiheit. Wien: Böhlau 1998.] Die in der österreichischen Zeitgeschichtsforschung vieldiskutierte Opfer These hat also selbst keinen österreichischen Ursprung, sondern stammt aus Downing Street 10 und fand von dort Eingang in die Moskauer Erklärung.

Für die österreichische Nachkriegspolitik eröffnete die Deklaration, die unabhängig von ihrem politisch-programmatischen Status vor allem auch als Akt der Ermutigung für den österreichischen Widerstand gedacht war, eine ungeheure Chance. Sie wurde daher später von österreichischer Seite selbstverständlich ebenso instrumentalisiert, wie sie ursprünglich der alliierten Seite als Instrument psychologischer Kriegsführung gedient hatte. [5. Vgl. Günter Bischof, Die Instrumentalisierung der Moskauer Erklärung nach dem 2.Weltkrieg. In: Zeitgeschichte, Heft Nr.11/12, Wien 1993.] Obwohl oder gerade weil sie nämlich in bezug auf St. Germain nur ein Beharrungsbeschluß war, ermöglichte sie es, die staatliche Kontinuität mit der Ersten Republik ideologisch herzustellen und den Opfermythos des kleinen, von Deutschland vergewaltigten Landes zu fabrizieren.

Man sollte allerdings auch nicht vergessen, daß im Kabinett Figl, in der ersten frei gewählten Regierung nach 1945, zwölf von siebzehn Regierungsmitgliedern ehemalige KZ-Häftlinge waren, inklusive Figl selbst − die Rede von der »Gemeinsamkeit der Lagerstraße«, welche die ehemaligen Bürgerkriegsparteien der Ersten Republik in der Zweiten Republik koalitionär verband, hat darin ihren Ursprung. Wie leicht die Sache mit der Nationsbildung allerdings hätte schiefgehen können, zeigt die Tatsache, daß auf der Außenministerkonferenz der Großen Drei vom 30.Oktober/1.November 1943 in Moskau auch der Vorschlag zur Zerschlagung des Reiches in ein protestantisches Nord- und ein katholisches Süddeutschland, etwa entlang der Mainlinie, ventiliert wurde. Nach dieser Idee, die auf ältere französische Überlegungen zurückging, wäre Österreich heute, gemeinsam mit Bayern, Teil eines süddeutschen Staates. Wenn die Moskauer Deklaration in ihrer schließlich verabschiedeten Form auch ihr propagandistisches Ziel, die Mobilisierung eines militärisch relevanten Widerstandes, nicht erreichte, so schätzten deren Autoren doch die antideutsche Stimmung im nichtnazistischen Teil der Bevölkerung richtig ein. Schon im Frühsommer 1943 hatte der Sozialdemokrat und spätere Bundespräsident Adolf Schärf gegenüber Vertretern des deutschen konservativen Widerstandes erklärt: »Der Anschluß ist tot. Die Liebe zum Deutschen Reich ist den Österreichern ausgetrieben worden.« [6. Adolf Schärf, Erinnerungen aus meinem Leben. Wien: Wiener Volksbuchhandlung 1963.]

So wurde aus einem Instrument psychologischer Kriegsführung die »Magna Charta« der Zweiten Republik.Jede Nation ist Indoktrination, aber im Falle der österreichischen Nation ist die Sache besonders pikant: Schon ihr Gründungsdokument war ein Akt der Propaganda! Während die erst 1949 konstituierte Bundesrepublik Deutschland als Nachfolgestaat des Dritten Reiches sich aus ihrer historischen Verantwortung nicht herausstehlen konnte, hat dies die schon am 27.April 1945, also elf Tage vor der Kapitulation des Deutschen Reiches, ausgerufene Republik Österreich auf der Basis der Moskauer Deklaration sehr wohl tun können und hat es auch getan. Selbst im Staatsvertrag von 1955 fehlt eine Mitschuldklausel, die sich ja ihrerseits auf eine Passage in der Moskauer Erklärung hätte stützen können − es ist den Wiener Verhandlern bekanntlich noch in letzter Minute, am 14. Mai, gelungen, einen entsprechenden Passus im Vertragstext zu streichen.

Staatspolitisch war das natürlich sehr klug (um nicht zu sagen: gerissen) gehandelt, sozialpsychologisch aber hatte diese Verleugnungspolitik in höchstem Maße ambivalente Konsequenzen: Sie war einerseits notwendig, nicht nur, um die Unabhängigkeit des Staates zu erreichen, sondern vor allem auch, um eine historische Kontinuität nationaler Identität zu konstruieren, die tatsächlich niemals existiert hatte, die als Imago jedoch erforderlich war, um der jungen Republik die Loyalität ihrer Bürger zu sichern − jeder »Verfassungspatriotismus« braucht eine Basis im Konstrukt »Nation«. Aber da diese Nationalitätskonstruktion wesentlich auf einer kollektiven Viktimisierungsthese beruhte, schrieb sie andererseits das Anschlußtrauma gegenüber Deutschland und der deutschen, durch die Spaltung ihrerseits problematischen Nation ideologisch fest.

Nicht in der »Verdrängung der Nazizeit« also (die wurde gar nicht »verdrängt«, sondern durch moralische Negation legitimatorisch benützt), sondern darin, daß dieses Anschlußtrauma nicht als projektive Inversion des älteren Ausschlußtraumas anerkannt wird, liegt die eigentliche Verdrängungsleistung der Zweiten Republik; eine Verdrängungsleistung, die nationsbildend wurde! Die Ideologie von der Entstehung Österreichs aus dem Geiste des unschuldigen Opfers, die Viktimisierungsthese, wonach das kleine, schwache Land zu seiner eigenen, wahren Identität erst gefunden habe im männlich-brutalen Akt einer Vergewaltigung durch das starke Deutschland, schuf freilich auch jene wenig erfreulichen, deutlich neurotisch-effeminierten Züge des konzeptuellen Nationalcharakters, die für die ästhetische und moralische Selbstdarstellung der Zweiten Republik so charakteristisch wurden und die jeden ausländischen Betrachter peinlich berühren.

Die Phrase »Das kleine Land« durfte in keiner Politikerrede fehlen; sie wurde zu einer positiv konnotierten Metapher und, seit 1955, im Verein mit der als besonders »moralisch« qualifizierten »immerwährenden Neutralität«, die anfangs kein Mensch wollte, zu einem programmatischen Wesenselement der nationalen Identität. Ursprünglich eine militär- und außenpolitische Verpflichtung als Preis für den Staatsvertrag im Augenblick der Remilitarisierung Deutschlands, ist die Neutralität heute ein Stück Kulturgut, nicht Instrument rationaler Politik, sondern Objekt sentimentaler Denkmalpflege. Zur Zeit des Kalten Krieges garantierte sie den Signatarstaaten am zentraleuropäischen Frontabschnitt eine praktisch entmilitarisierte Zone, zumindest ein pakt- und stützpunktfreies Terrain, gleichzeitig Puffer zwischen den Blöcken, wie − in Verbindung mit der Schweiz − logistischer Keil in der Nato. Dem Sinne des Vertrages entsprechend, blieb das Bundesheer bis heute die bloße Allegorie auf eine Armee.

Je mehr jedoch die österreichische Neutralität außenpolitisch zum bloßen Schemen wurde, desto mehr wurde sie innenpolitisch zum Fetisch. Heute, da sie nach dem Zusammenbruch der West/Ost-Dichotomie mit ihrer militärischen Funktion für die ehemaligen Kontrahenten auch ihre Definitionsgrundlage verloren hat, ist sie, als genuin außenpolitische Kategorie, paradoxerweise ein rein innenpolitisches Phänomen, an dem sich die sozialpsychologische Natur des Gemeinwesens zeigt. Die Auslandsnachfrage wurde durch die Inlandsnachfrage ersetzt, und aus einem Relationsbegriff ist ein Substanzbegriff geworden: Man ist nicht länger neutral mit Bezug auf etwas, man ist neutral an und für sich. Als pseudomoralische Erbauungskategorie schafft sie einen Distinktionsprofit gegenüber anderen, in die geschichtliche Wirklichkeit verstrickten Nationen. Man steht, wie Hegel gesagt hätte, über den Sachen, weil man nicht in den Sachen steht. Was anfangs lästige Verpflichtung war, mutierte zu einem Konstituens nationaler Identität. Man kann auch sagen: Der außenpolitische Selbstbetrug wurde zur innenpolitischen Lebensform.

»Das kleine neutrale Land«, das war keine trockene Information über einen geographischen und einen politischen Sachverhalt, sondern das war in einem eine Selbsteffeminierungs- und Selbstinfantilisierungsformel, eine Formel der Exkulpation, der Harmlosigkeit und des Abschieds von der Geschichte, von der vergangenen und der laufend sich ereignenden. Als Ersatz diente die »Kultur«. So wurde eine Kollektivneurose zum Staatsfundament. Diese ideologische Strategie des nation-buildingfunktionierte blendend während der gesamten Zeit des Kalten Krieges − aber sie hatte diesen auch zur Voraussetzung! Seit Mitte der achtziger Jahre − damals setzte mit der Waldheim-Affäre auch eine massive öffentliche Geschichtsreflexion ein − vor allem aber seit 1989 haben sich mit dem radikalen Wandel der internationalen Situation auch die außenpolitischen Determinanten der nationalen Identität Österreichs gewandelt. Die Stabilitätsbedingungen des alten Identitätskonzepts wurden brüchig. Was jedoch von vielen Beobachtern als Krise der staatlichen Identität interpretiert wird, ist in Wahrheit eine Reifungskrise der österreichischen Nationalität.

Deutschland ist, nach einem berühmten Wort von Helmuth Plessner, eine »verspätete Nation«; und weil die österreichische Nation sich positiv nur durch eine dialektische Negation der deutschen bestimmt, ist sie gewissermaßen eine verspätete Nation zum Quadrat − die Blockierung der deutschen Nationsbildung blockierte auch die österreichische und hielt sie in einem Stadium der Unreife, das heißt der permanent notwendigen rhetorischen Selbstversicherung, fest. Doch nach der staatlichen Konsolidierung der deutschen Nation in Folge der Wiedervereinigung und nach der Integration Österreichs in die Europäische Union, welche die alte Anschlußangst zugleich bestätigt und widerlegt, die noch ältere Anschlußsehnsucht aber auf höherer europäischer Ebenebefriedigt, hat die österreichische Nationsbildung einen entscheidenden Schritt vorwärts, zur Reifung und Normalisierung getan. Daher gibt es in Österreich heute keine politisch ernstzunehmenden deutschnationalen Kräfte mehr; auch in der Haider-Partei, die einmal ihr Sammelbecken war, existieren nur noch sentimentale Reste. Eine Zukunft haben sie nicht. Das Ausschluß/Anschluß-Trauma ist durch die Integration Österreichs in die Europäische Union »aufgehoben« im prägnanten Hegelschen Sinn. Der »österreichische Weg«, der, wie der deutsche, ein Sonderweg war, ist im wesentlichen zu Ende.

III

Damit ist aber auch die schmusige Selbstdarstellung nach außen zu Ende, deren inneres Korrelat die jahrzehntelange »Konkordanzdemokratie« zweier Parteien war, die, gerade weil sie als die Bürgerkriegsparteien der Ersten Republik die Kontinuität mit der Zweiten Republik über den Bruch der Annexion hinweg repräsentierten, ihr Verhältnis besonders innig und ausschließend gestalteten. Dies, genau dies und nur dies, ist das Operationsfeld der Haiderschen Agitatorik, mit der er von Jahr zu Jahr mehr Anhänger gewann, zuletzt vor allem aus der Sozialdemokratie. Je stärker Haider wurde, desto enger schloß sich der schwächer werdende Hegemonialblock zusammen, verschmolz weitgehend mit dem Staat und lieferte der Haiderschen Polemik damit nur immer neue Nahrung. Während die außenpolitischen Determinanten sich radikal änderten, blieben die innenpolitischen konstant, ja durch die Wiederaufnahme der Großen Koalition im Jahre 1986 sind nach zwanzigjähriger Unterbrechung sogar die politischen Nachkriegsverhältnisse wieder restituiert worden. Im gleichen Jahr begann der Aufstieg Haiders.

Das über Jahrzehnte herrschende Zusammenspiel zweier Großparteien auf allen staatlichen und parastaatlichen Ebenen, die, ob in Koalition oder nicht, den gesamten politischen Apparat, das Bankensystem und die ehemalige verstaatlichte Industrie unter sich aufteilten, nach der Ideologie der »Sozialpartnerschaft« verwalteten und nach dem Proporzprinzip personell besetzten (Fälle von Parteilosigkeit im öffentlichen Dienst, in den Kammern, den Sozialversicherungsträgern, den Banken, den Schulen sind auch auf niederer Ebene immer noch schlagzeilenwürdig!), sowie durch ihre verfassunggebende parlamentarische Zwei-Drittel-Mehrheit im Laufe der Zeit über tausend verfassungswidrige gesetzliche Regelungen, oftmals banalster Natur, selbst in Verfassungsrang hoben, um sie einer höchstgerichtlichen Aufhebung zu entziehen und damit de facto die Verfassung ruinierten − dieses bis zur Immobilität starre und moralisch zutiefst korrupte Proporzsystem wurde durch die Wahl vom 3.Oktober 1999 erstmals in der Geschichte der Zweiten Republik in Frage gestellt. An die Stelle zweier Großparteien traten drei Mittelparteien, die bei keiner der drei möglichen Zweierkoalitionen eine verfassunggebende Mehrheit gehabt hätten; sie benötigten dafür zumindest die aus den Wahlen ebenfalls gestärkt hervorgegangenen Grünen. Arithmetisch wurde damit erstmals eine Alternative möglich, nicht nur eine Verschiebung der Proportionen des Proporzes.

Das ist zunächst und vor allem einmal erfreulich, auch wenn es wenig erfreulich ist, durch wen dieser hegemoniale Block aufgebrochen wurde. Aber erstaunlich ist dies in keiner Weise: Haiders »Bewegung«, wie er sie nennt (oder zumindest eine Zeitlang nannte), war zweifellos die wendigste, aggressivste und kompromißloseste Antikoalitionskraft in Österreich, Haider selbst ist eine charismatische Figur, der begabteste Oppositionspolitiker des Landes, gutaussehend, sportlich, ein Bündel von Energie und politischer Leidenschaft, rhetorisch brillant und schlagfertig, ein Virtuose der politischen Demagogie. Niemanden läßt er kalt, er hat nur ergebene Freunde und erbitterte Feinde, und er denkt auch selbst in diesen Kategorien. Neben seinem destruktiven Charme wirken andere Oppositionelle wie Sedative, insbesondere die konstruktiven Grünen mit ihrem biederen Ökonomieprofessor an der Spitze, der Politik betreibt wie ein Proseminar. Wenn jemand die »versteinerten Verhältnisse zum Tanzen bringen« konnte, dann waren nicht sie es, sondern dann war es allein die von Haiders scharfer Demagogie − die freilich auch immer eine ironische Brechung hat − enthusiasmierte Menge.

Gewiß ist Haiders Rhetorik populistisch, doch sind es soziale und kulturelle Ressentiments, die er bedient, nicht antisemitische oder rassistische. Das sind Projektionen seiner hilflosen Gegner. In der Immigrations- und Ausländerpolitik sowie in Fragen der Osterweiterung der EU vertritt er präzise die gleiche Position wie die SP-dominierten Gewerkschaften; nur sagen die es nicht so laut. Die Befürchtung, mehr als ein Viertel aller österreichischen Wähler seien Nazis, wäre ebenso lächerlich und bizarr wie die These, jeder dritte Wähler sei in irgend einem politisch verbindlichen Sinn Sozialdemokrat. Tatsächlich handelt es sich bei diesen Etikettierungen nur noch um ihres prägnanten historischen Sinns entleerte Worthülsen, brauchbar zur Polemik, doch bar jeder analytischen Bedeutung für die Erfassung der gegenwärtigen Lage. Haiders Erfolg gründet gerade nicht in einer ideologischen Radikalisierung der Politik, sondern umgekehrt in der Entpolitisierung breiter Kreise der Bevölkerung durch einen sozialpartnerschaftlich verwalteten Fürsorgestaat, in dem sich potentiell jeder als Verlierer fühlt, gemessen an dem, was massenmedial an Erwartungen geweckt wird. Überall in Europa werden heute ökonomische Probleme in ethnische umcodiert, aber in Österreich finden Arbeitskämpfe seit Jahrzehnten nicht mehr statt, die Streikdauer bemißt sich nach Minuten. So entlädt sich der Druck in verbaler und symbolischer Radikalopposition − die Mehrheit der Arbeiterschaft ist Haider zugelaufen und fast die Hälfte aller Wähler unter dreißig. Das sind nicht alles Nazis oder Kryptofaschisten, für die ist die Nazizeit so tot und vergangen wie die Monarchie, sondern das ist eine politisch ziellos hin- und hergeworfene Masse, die wütend an erstarrten Verhältnissen rüttelt, ohne Ideologie und Programm.

Übrigens auch ohne ernsthaften Veränderungswillen, denn selbst viele seiner Wähler wollten Haider nicht in der Regierung, sondern nur als Stachel in deren Fleisch. Daß sich dafür keine »konstruktive Opposition« eignet, liegt auf der Hand und ist nicht erstaunlich; erstaunlich ist eher, daß man sich darüber wundert, wenn ein Haider diese Rolle spielt. Denn sie ist ihm auf den Leib geschnitten: Er ist intelligent, eitel, sarkastisch, aggressiv, ein blendender Schauspieler (der er ja auch einmal werden wollte), eine ideale Projektionsfigur für die Träume Frustrierter, ein postmoderner Robin Hood. Dauernd ein Grinsen im Gesicht, spielt er gekonnt mit der Durchbrechung von Tabus. Das strengste Tabu aber liegt auf der Nazidiktion, daher auch die höchste Aggressionslust in seiner Durchbrechung: Haider ist die personalisierte Antithese zur politischen Korrektheit und daher für viele eine symbolische Befreiung. Er formuliert das Unbehagen in der Heuchelei. Als brillantem Redner stehen ihm alle Tonlagen und Nuancen der klassischen Rhetorik zur Verfügung, von der feinen Ironie im kleinen Kreis bis zur harten Demagogie vor großem Publikum. Für die Jungen ist Haider ein Popstar. Und wie denn auch nicht? Sie haben Politik nie anders denn als Show erlebt, und in diesem Geschäft ist Seriosität ein Makel.

Haider belebt keinen »verdrängten« Faschismus, den es als solchen gar nicht gibt. Aber indem er einen sprunghaften, durch dunkle Mythen der jüngeren Geschichte emotional aufgeheizten Voluntarismus an die Stelle einer rationalen, berechenbaren Pragmatik setzt, chaotisiert er die Politik. Darin, und nur darin, liegt seine Gefährlichkeit. Ideal für die Gestalt des Radikaloppositionellen, macht dieser Zug ihn als Regierungspolitiker schwer erträglich. Mit einem von Carl Schmitt geprägten Begriff könnte man Haiders Politik als »subjektivierten Occasionalismus« bezeichnen. Das ist ganz etwas anderes als Opportunismus, denn Opportunismus ist das Realitätsprinzip der Politik. Haiders jeweilige Themen und Positionen sind durchaus nicht opportun. Ganz im Gegenteil, Haider betreibt einen geradezu gezielten Antiopportunismus, und indem er den Sprachkodex der Zweiten Republik immer wieder lustvoll durchbricht, zieht er permanent die mediale Aufmerksamkeit auf sich. Als dann der Wirbel doch zu groß wurde, trat er zurück. Das ist nicht nur Taktik, um aus der Schußlinie zu kommen, wie allenthalben behauptet wird, sondern auch Ausdruck einer Verletzung: Wie jeder Populist will er geliebt werden und versteht den Haß nicht, der ihm auf einmal entgegenschlägt. Neben dem jungen, schönen Finanzminister von seinen Gnaden sieht er alt, verbraucht und verbittert aus. Für einen Popstar ist das ruinös. Eine sichere Zukunft hat er nur mehr in der Provinz.

Eineinhalb Jahrzehnte lang war er der mediale Dauerbrenner, ganze Journalistenkarrieren waren darauf aufgebaut, ihn zu kommentieren, zu kritisieren und vor ihm zu warnen, und der sterilen Aufgeregtheit des Kulturbetriebs lieferte er ständig neue Nahrung. Dadurch aber entstand ein paradoxes Interesse an seiner Existenz und eine nicht minder paradoxe Wirkung seiner Bekämpfung: Denn eine Kritik, die von ihrem Gegenstand einerseits fasziniert ist, ihn aber andererseits in seinem Wesen verfehlt, schlägt zwangsläufig um in Propaganda ex negativo.

Das »Auslandsecho« ist buchstäblich ein Echo des jahrelangen Geschreis der österreichischen Kulturszene, die jedes Gespür für politische Proportionen vermissen läßt. Marx variierend könnte man sagen, in ihrer Fixierung auf die große Tragödie spielt sie sie nach als lumpige Farce. Kein Wunder, daß das Ausland »besorgt« ist, wie das Modewort der Saison lautet, oder zumindest so tut. Daß unter französischer Führung vierzehn Staaten Österreich zum inneren moralischen Feind der EU erklärten, ist ein Lehrstück für Carl Schmitts »Begriff des Politischen«, aber nicht gerade für politische Vernunft. Denn damit wiederholt man auf europäischer Ebene genau das, was innerstaatlich Haiders Erfolgsstory in den letzten eineinhalb Jahrzehnten garantierte: seine Dämonisierung zum Beelzebub der Demokratie, der jetzt nicht mehr nur die österreichische Nachkriegsordnung, sondern gleich die europäische Friedensordnung bedroht. Und gerade weil man ihm keine Taten vorwerfen kann, sondern nur blöde Sprüche, verdichten sich diese bei einem wenig bis gar nicht informierten internationalen Publikum zu einer wahren Greuelgeschichte mit Realitätsvermutung.

Für das Land ist das natürlich ein Jammer. Obwohl es da und dort auch besonnene Stimmen gibt, wird die hysterische Dämonisierung nicht aufhören, solange diese Regierung im Amt ist, da kann sie machen, was sie will, und ob Haider zurückgetreten ist oder nicht. Hysterie ist ein sich selbst beschleunigender, identitätsstiftender Vorgang, der genau das tut, was er zum Vorwurf erhebt: Er ignoriert die Realität. Daher ist er auch durch empirische Fakten nicht aufzuhalten. Er kann nur durch Selbstüberhitzung irgendwann einmal kollabieren, wenn nicht der Anlaß zuvor wegfällt. Der moralische Identitätsgewinn dabei ist enorm, und das ist zugleich das Gute an der Sache, wenn es vielleicht auch nicht das Ziel ihrer Inszenierung war.

Denn moralische Identität ist das, was die sozial und kulturell durchaus heterogene EU, die vor schwierigen Problemen ihrer Erweiterung und Vertiefung steht, vor allem braucht. Indem sie an einem weitgehend machtlosen Mitglied, das allerdings als neutrales durch seine skurrile Außenpolitik schon bisher unangenehm auffiel, ihren über die Jahrzehnte schon verblaßten antifaschistischen Gründungsmythos etwas auffrischt, schafft sie sich eine scharfe Definition als »Wertegemeinschaft«, die ja bislang eher im Vagen blieb. Es gibt also keinen wie immer gearteten rationalen Grund, die irrationale Aktion zu beenden, ganz unabhängig davon, wie die Regierung tatsächlich handelt. Derart billig kommt man so bald nicht wieder zu einer ethischen Kontur und zu einer Klarstellung der hegemonialen Verhältnisse in Europa. Ob sich die Chirac-Doktrin auf Dauer und auch gegenüber anderen Staaten durchsetzt, bleibt freilich abzuwarten. Der österreichischen Regierung stärkt sie eher den Rücken, und das kann im Gegenschlag auch eine Krise der EU induzieren; insbesondere in den deutsch-französischen Beziehungen und gegenüber den Beitrittskandidaten. Denn bisher haben die Länder auch in der EU ihre Regierungen immer noch selbst gewählt, und nicht einmal der belgische Außenminister hat sich zu der Behauptung verstiegen, es liege eine Verletzung von Artikel 6 des Amsterdamer Vertrages vor.

Die ganze Aktion ist also auf einem Phantasma gebaut, mit politischer Realität haben die Befürchtungen wenig zu tun. Denn tatsächlich kann keine Rede davon sein, daß von Haiders Partei eine faschistische Gefahr ausgeht, etwa im Sinne einer »Wiederkehr des Verdrängten«, dafür fehlen alle objektiven Voraussetzungen. Sie gefährdet allenfalls die innenpolitische Hyperstabilität der erstarrten Republik. Was not tut, ist eine Bewältigung der Gegenwart, unter anderem, indem man die Kritik an der Proporzwirtschaft ernst nimmt, nicht eine »Bewältigung der Vergangenheit« durch ihre »Aufarbeitung«. Denn abgesehen davon, daß diese »Aufarbeitung« auch in Österreich durch intensive öffentliche Debatten sehr wohl geleistet wurde, spät zwar, aber doch, taugt das psychoanalytisch inspirierte Konzept einer »Wiederkehr des Verdrängten« zur Erklärung kontemporärer Befindlichkeiten überhaupt nicht. Das pädagogisch zudringliche Projekt einer Schuldverarbeitung in der dritten Generation hat, wenn überhaupt, eine eher kontraproduktive Wirkung und dient ansonsten nur mehr der Unterhaltung.

Selbstverständlich gibt es eine politisch einzufordernde Verantwortung des Staates, aber wie »völkisch« muß man denn denken, um der Auffassung zu sein, ein heute Siebzehnjähriger solle sich für die Verbrechen des schon lange verstorbenen Großvaters seines Schulfreundes, dessen Eltern er gar nicht kennt, in irgendeinem vernünftigen Sinn verantwortlich fühlen? Mit so einer erpresserischen Forderung wird genau jenes völkische Denken restituiert, das vorgeblich zur Kritik steht. In Wahrheit wird mit jeder Gedächtnispolitik nur ideologisches Geschäft gemacht. Nach mehr als einem halben Jahrhundert dient das »Wachhalten der Vergangenheit« nicht der moralischen Verbesserung von Individuen, sondern der ahistorischen Fixierung von Erbschuldkollektiven und der Behauptung eines Opfermonopols, mit dessen Hilfe jede beliebige Politik moralisch legitimiert werden kann.

Man kann die Vergangenheit nicht »bewältigen«, und man braucht es auch nicht. Das wurde schon in der Vergangenheit erledigt: durch die Alliierten. Das Nazireich ist ebenso versunken wie Karthago. Man kann nur die Gegenwart bewältigen − das, und das allein, ist Aufgabe der Politik. Die Vergangenheit aber sollte man den Historikern überlassen und allenfalls den Gerichten; nicht aber den Geisterbeschwörern. Sie, die Moralisten, sind die wahren Zyniker: Denn sie leben politisch von der ideologischen Sekundärausbeutung der einstigen Opfer.

Haider ist die Krise des überständigen österreichischen Nachkriegssystems, nicht die Wiederkehr des Verdrängten. Daher gibt es keine antifaschistische Lösung, weil es kein faschistisches Problem gibt: Beides ist nur mehr Folklore. Aber es gibt in Österreich ein Problem der Demokratie. Und daher gibt es nur eine liberale Lösung: Rückzug des Staates aus der Zivilgesellschaft, Rekonstruktion der Verfassung, Ende der Parteibuchwirtschaft im öffentlichen Dienst, volle Integration des Landes in das westliche Bündnissystem.

Die gegenwärtige Mitte/Rechts-Regierung wird dies auch nicht leisten, selbst wenn sie es wollte und wenn sie trotz des in- und ausländischen Drucks handlungsfähig bleibt. Dafür ist sie einfach zu schwach, schon durch ihr Personal. Außerdem sind ihr für größere Vorhaben die Hände gebunden, weil sie keine verfassunggebende Mehrheit hat. Aber der Schock, der von ihr ausgeht, und mehr noch von den internationalen Reaktionen auf sie, könnte im Lande selbst eine längst überfällige Repolitisierung der Politik, ihre Emanzipation von schierer Verwaltung, bewirken. Und das noch dazu ohne wirklich ernsthafte Krise. Denn ökonomisch ist der eurodiplomatische Rummel bedeutungslos, das Land leidet nur ein wenig durch schlechte Manieren; und unter miesen Schauspielern, in der Regierung wie auf der Straße.

Die große Demonstration gegen die Koalition anläßlich des Wiener Opernballs am 2.März stand unter dem treffenden Motto »Antifaschistischer Karneval«. Ein als Hitler verkleideter Kabarettist wurde vorübergehend festgenommen. Es droht ihm eine Verwaltungsstrafe wegen Erregung öffentlichen Ärgernisses.