Die Tyrannei der Medien und die Literatur

Was die Mediendebatten in den Seminaren und auf den Kongressen, in den wissenschaftlichen Publikationen ebenso wie in den Feuilletons beherrscht, ist in vielem ein Reflex der vielleicht weitreichendsten Beobachtung Marshall McLuhans: »Ein neues Medium ist nie ein Zusatz zu einem alten und läßt auch nicht das alte in Frieden. Es hört nicht auf, die älteren Medien zu tyrannisieren, bis es für diese neue Formen und Ver- wendungsmöglichkeiten findet.« [1. Marshall McLuhan, Die magischen Kanäle. Understanding Media. Basel: Verlag der Kunst 1995.] Suggestive Formeln wie die vom »Ende der Gutenberggalaxis« verfehlen denn auch die Spezifik der Medientheorie McLuhans, der in Kategorien des medialen Dominanzwechsels und der Umfunktionierung, nicht aber in denen der Totalsubstitution denkt.

Daran zu erinnern ist nicht müßig, wenn man gegenwärtige Debatten zum Verhältnis von Literatur und audiovisuellen sowie digitalen Medien verfolgt. Dort wird nämlich vor allem von denen, die sich in medialer Adventsstimmung befinden, besonders gerne das Lied vom Ende der Literatur angestimmt.
Jochen Hörisch zum Beispiel resümiert in seinem jüngsten Buch, dem letzten Band seiner Trilogie über die Leitmedien der abendländischen Kultur, die Lage aus seiner Sicht folgendermaßen: »Mit einem Wort: Die moderne Literatur ist heute (wenn sie es denn je wirklich gewesen ist) nicht länger das Medium der Avantgarde oder gar das avantgardistische Medium − sie ist die langsame Nachhut in einer (Lebens-)Welt, die von umtriebigen, schnellen, neuen und neuesten Medien geprägt ist.« [1. Jochen Hörisch, Ende der Vorstellung. Die Poesie der Medien. Frankfurt: Suhrkamp 1999.]

Nun ist die Vorstellung, daß die Literatur in der Konkurrenz mit Radio, Film und Fernsehen Gefahr laufen könnte, medial ausrangiert zu werden, durchaus nicht neu. Es verdient daran erinnert zu werden, daß ausgerechnet Literaturpathetiker wie der einflußreiche französische Essayist Maurice Blanchot schon in den fünfziger Jahren die Diagnose vom »Literaturschwund« stellten − und zwar mit ausdrücklichem Hinweis auf die neuen Medien, die unsere Lage bestimmen: »Lesen und Schreiben: diese Worte spielen, wie wir fest überzeugt sind, im geistigen Leben eine ganz andere Rolle als noch zu Beginn des Jahrhunderts: das ist vollkommen klar; jede Rundfunkstation, jeder Bildschirm weisen uns darauf hin, und mehr noch jenes ständige Geräusch in unserer Umgebung, das anonyme und fortwährende Summen, das wunderbare, unerhörte, regsame, unermüdliche Reden, das uns jeden Augenblick mit einem monotonen, universalen Wissen versorgt und uns zur Durchgangsstation einer Bewegung werden läßt, in deren Verlauf jeder schon im vor- aus mit allen übrigen vertauscht ist.« [1. Maurice Blanchot, Der Gesang der Sirenen. Berlin: Ullstein 1982.]

Wie aber, so Blanchot, ist es zu erklären, daß »lange vor der Zeit der technischen Erfindungen, der Benützung von Wellen und der Übermittlung von Bildern« Poeten wie Hölderlin und Mallarmé einschneidende Veränderungen des Status der Literatur im Ensemble kultureller Praktiken vorhersagten, die uns heute völlig selbstverständlich erscheinen?

Die Literatur, so scheint es, antizipiert ihren kulturellen Form- und Funktionswandel, lange bevor er gesellschaftliche Realität wird. Es stellt sich die Frage, ob sie die Anstrengungen, die sie ihren Lesern zusehends abverlangt, vielleicht mit vermehrten Chancen zur inkongruenten, ja rücksichtslosen Beobachtung der Welt und ihrer selbst belohnt. Um im Bild zu bleiben, das Hörisch anbietet: Es spricht einiges dafür, daß die Nachhut, die nicht unmittelbar in das mediale Schlachtgetümmel verwickelt ist, die Lage exakter zu verzeichnen vermag als die vorwärtsstürmende Medien-Avantgarde, die buchstäblich keine Zeit hat, zurückzuschauen.

Solchen Überlegungen kann der groß angelegte Entwurf einer kulturanthropologischen Medientheorie, den jetzt K. Ludwig Pfeiffer vorgelegt hat, nicht viel abgewinnen, obwohl er sie, wie alle Theorieangebote, die das Buch in durchweg gepflegter, souverän-ironischer Halbdistanz ins Spiel bringt, sicherlich auch nicht völlig abweisen würde. Die Problematik und das Problematische des Buches entspringt, wie man schnell sieht, einem für Kultur- und Medienwissenschaftler nicht untypischen Professionskonflikt. Sie sind oder waren jedenfalls in ihrem »früheren Leben«, von wenigen Ausnahmen abgesehen, allesamt Literaturwissenschaftler. Ihre Auslassungen zur Medientheorie nehmen deswegen auch ganz unvermeidlich die Form einer − wenigstens untergründig mitlaufenden − Selbstverständigung an. Obwohl in den Büchern und Abhandlungen also überwiegend von neuen und neuesten Medien die Rede ist, geht es in ihnen doch immer auch um die ehemalige Passion ihrer Autoren, die Literatur, um Lesen und Schreiben und um das, was man diesen elementaren Praktiken des Gutenbergzeitalters noch zuzutrauen bereit ist.

Der Literaturwissenschaftler Pfeiffer, so muß man nach der Lektüre des sechshundertseitigen Werkes bilanzieren, ist mit der Literatur fertig, allerdings aus einem ganz anderen Grund als jene technikzentrierten Medientheorien, die Literatur für überholt halten, weil sie im Zeitalter netzförmiger Kommunikation längst nicht mehr state of the art sei. Eine symptomatische Aussage ganz zu Beginn des Buches verrät mehr als der imposante kulturanthropologische Argumentationsapparat, wo den Autor der Schuh drückt: »Daß man weniger schreibt, wenn man ›glücklich‹ ist (was immer das heißen mag), scheint ein etwas primitiver Gemeinplatz zu sein; immerhin ist diese Ansicht von einigen durchaus intellektuell hochreflektierten Schriftstellern (u.a. Angela Carter) vor- gebracht worden.« [1. K. Ludwig Pfeiffer, Das Mediale und das Imaginäre. Dimensionen kulturanthropologischer Medientheorie. Frankfurt: Suhrkamp 1999.]

Nach der Lektüre dieses Satzes weiß man zweierlei: daß sein Autor offenbar nicht glücklich war, da er nicht weniger, sondern mehr geschrieben hat; daß ausgerechnet die Literatur, die dem Glück im Wege steht, diesem mit ihrer medialen Basisoperation, dem Schreiben, verbundenen Skandal überzeugenden Ausdruck verleiht.

»Wir scheuen uns nicht, die Wissenschaft von der Dichtung eine genießende Wissenschaft zu nennen.« Diesem Satz Hugo Friedrichs dürfte Pfeiffer einigermaßen distanziert gegenüberstehen, da er schon der Dichtung keine Lust mehr abgewinnen kann. Lust am Text: Roland Barthes’ Buchtitel drückt sich aus Pfeiffers Sicht nur um das Eingeständnis herum, daß einen zu den Texten allein noch die Pflicht treibt − zum Beispiel eben die des Literaturwissenschaftlers. Worin aber genau besteht nach Pfeiffer das Unbehagen an der Literatur, zu deren Genuß man sich schon ermahnen muß? Was fehlt der Literatur aus Sicht des − vergleichenden − Kulturanthropologen? Pfeiffers Antwort ist ebenso schlicht wie weitreichend: Die Literatur verfehlt das Leben. Mit der Literatur geht es zu Ende, »weil die Texte Dimensionen spektakulär-vitaler Dynamik nicht (mehr) zureichend suggestiv mobilisieren«. Weil Geschriebenes die Leser nicht körperlich engagiert, kompensiert schöne Literatur dieses performative Defizit dadurch, daß sie die Einbildungskraft entfesselt und den Lesern die Ereignisse und Handlungen, von denen sie sie absperrt, auf ihren »seelischen Monitor« projiziert. Nur Narren vom Range des berühmten spanischen Ritters verfallen auf die Idee, all die Abenteuer, die ihnen die Bücher vors innere Auge rücken, auch in der Wirklichkeit aufzusuchen.

Es ist nun ausgerechnet diese anthropologisch zu diagnostizierende Schwäche des Schriftmediums Literatur, die aus kulturgeschichtlicher Perspektive ihre − beängstigende − Stärke ausmacht. Denn die Literatur stellt nicht nur ein Register der ästhetischen Erfahrung neben anderen dar. Pfeiffer rekonstruiert die Geschichte des Abendlandes als den Prozeß einer fortschreitenden Literarisierung der gesamten Kultur. Die grandiose Fehlentwicklung beginnt mit der »Ursünde« des Aristoteles, der seine Poetik nicht länger an der griechischen Aufführungspraxis des Theaters orientiert, sondern an den dort zur Verwendung kommenden Texten.

Diese für die europäische Theatergeschichte grundlegende Geste des Philosophen wird dann erst mit Nietzsche und im 20. Jahrhundert endgültig mit Artaud in Frage gestellt, dessen »Theater der Grausamkeit« die Tyrannei des Textes zugunsten der »reinen Inszenierung« abzuschütteln sucht. Die Reduktion der ästhetischen Erfahrung auf das Doppel Lesen/Interpretieren kulminiert unter den historischen Bedingungen der Massenalphabetisierung seit 1800 mit der Durchsetzung des Romans als literarischem Leitmedium und der Entstehung der Philologien, die diesen Prozeß der kulturellen Literarisierung ganzer Bevölkerungen pädagogisch implementieren und bildungsphilosophisch begleiten. Noch die Reste der performativ-motorischen Dimension der ästhetischen Erfahrungen werden durch das genuin literarische Modell der exklusiven Kopplung des Diskurses an das »innere Erlebnis« verdrängt.

Selbstverständlich spricht Pfeiffer an keiner Stelle von einer »okzidentalen Krankheit«, aber die ganze Anlage seines Buches weiß sich im Letzten Nietzsches drastisch formulierter Bilanz der Klassik, also der Hyperliterarisierung der Kultur seit 1800 verpflichtet: »Wer den Leser kennt, der thut Nichts mehr für den Leser. Noch ein Jahrhundert Leser − und der Geist selber wird stinken.« Daß die Austrocknung und imaginäre Rückerstattung der »Körperströme« durch einen wuchernden »Schriftverkehr«, um eine Unterscheidung Albrecht Koschorkes [1. Albrecht Koschorke, Körperströme und Schriftverkehr. Mediologie des 18. Jahrhunderts. München: Fink 1999.] aufzunehmen, zwar den gewachsenen Abstraktionszwängen der modernen Gesellschaft Rechnung trägt, aber nicht zur erhofften kulturellen Sublimierung der sozialen Verhältnisse führt, gibt Pfeiffer mit Blick auf die regelmäßig wiederkehrenden kollektiven Gewaltausbrüche der letzten beiden Jahrhunderte in Europa zu bedenken. Auf Literatur reimt sich nicht nur Langeweile, sondern auch Verbrechen, das plötzliche Hinüberwechseln aus der Sphäre dessen, was man seit Schiller als bloßes »Spiel« begreift, in die des blutigen Ernstes. Je weniger eine Kultur die Menschen an ihren Veranstaltungen motorisch partizipieren läßt, desto mehr sind diese geneigt, den »Hunger nach Stimuli bzw. Erregung« andernorts zu befriedigen, indem sie sich zum Beispiel als »Krieger« engagieren lassen.

Die »gleichsam imperialistische Ausdehnung literarischer bzw. literarisierter Sprache im 19. Jahrhundert«, wie Pfeiffer mit Michel Butor formuliert, manifestiert sich nicht bloß in der kulturellen Hegemonie der Romans, sondern vor allem in jenem unendlichen Gespräch über künstlerische Hervorbringungen welcher Art auch immer, das zum privile- gierten Modus des ästhetischen Umgangs geworden ist: »Alles scheint von einem gigantischen Diskurshof umgeben.« Pfeiffers Abrechnung mit dem Roman liest sich über weite Strecken wie eine gelehrte Fußnote zu einer anderen Feststellung Maurice Blanchots: »Man sagt häufig dem Roman Monstrosität nach, aber von einigen Ausnahmen abgesehen handelt es sich um ein wohlerzogenes und sehr gezähmtes Monstrum.« Seine »Vorherrschaft«, so Blanchot weiter, sei »wie ehedem der Primat der geregelten Versdichtung, Ausdruck unseres Schutzbedürfnisses alldem gegenüber, was die Literatur gefährlich macht«.

Wenn Blanchot schließlich noch mutmaßt, daß die Literatur vielleicht an dem zugrunde gehen wird, »was sie unschädlich macht«, dann hat man alle Elemente der Pfeifferschen Verwerfung des Schriftsystems beieinander − mit dem einen Unterschied zu Blanchot, daß Pfeiffer in der Vorherrschaft des Romans den Vorboten für den bevorstehenden Kollaps des Literatursystems insgesamt begrüßt. Daß der Literatur ihre im 18. Jahrhundert anlaufende kulturelle Erfolgsgeschichte im 20. Jahrhundert zum Verhängnis wird, daß sie sich gewissermaßen zu Tode gesiegt hat, registriert Pfeiffer mit Genugtuung. Der Film und vor allem das Fernsehen verfügen aufgrund ihrer medialen Verfassung über ein Visualisierungspotential, das der Literatur, und hier insbesondere dem Roman, die Arbeit der Imagination weitgehend abnimmt. Nachdem ihre vormaligen Funktionen zusehends von dem neuen audiovisuellen Medienverbund betreut werden, sieht sich die Literatur genötigt, ihre Identität radikal selbstreferentiell zu konzipieren. Literatur wird tendenziell zu Literatur über Literatur, sie gefällt sich in der Problematisierung ihrer Unmöglichkeit oder jedenfalls Unwahrscheinlichkeit, sie wird, aufs Ganze gesehen, »schwieriger«. Literatur, obwohl sie natürlich weiterhin anfällt, ist seitdem auf der Suche nach sich selbst − und noch auf die notorische Klage über das Aus- bleiben des »großen Romans« fällt davon ein Abglanz.

So nimmt es nicht wunder, wenn Pfeiffer nach dieser kulturellen Fundamentaldiagnose an das »Gefühl« erinnert, das aus den Arbeiten des Kulturhistorikers Jacob Burckhardt spreche: »in einer Kultur nach der Kultur zu leben«, deren soziologische Überhöhung heute die Systemtheorie vornehme, indem sie, wie an Luhmanns Kunst der Gesellschaft in der Tat leicht zu demonstrieren ist, den »Akt des Lesens zum Modell ästhetischer Wirkung schlechthin« erhebt. Der distanzierte Beobachter Luhmanns ist lediglich der für die Zwecke der Soziologie generalisierte Leser.

Nun ist die Kultur des 19. Jahrhunderts − das Zeitalter der Literatur − längst nicht mehr die unsere, und Pfeiffer ist sich der neuen intermedial verfaßten Kommunikationsverhältnisse bewußt, in denen vor allem diejenigen Medien der Literatur den Rang abgelaufen haben, die exakt das Kriterium erfüllen, das Pfeiffers Kulturbegriff und damit seine ganze Untersuchung trägt: Die neuen Medien, die sich nicht mehr nach dem literarischen Wirkungsmodell beschreiben lassen, engagieren ihre Benutzer auf eine viel direktere, körperlichere Weise, als es die vormalige Buchkultur tat. Was bei Nietzsche noch philosophische Spekulation war, die Gründung der Kunst auf Physiologie, wird von Ingenieuren implementiert, die Kanäle installieren, auf denen Töne und Bilder ohne Umweg über den Buchstabencode direkt auf die menschlichen Sinne einwirken. Man kann zwar, worauf Jochen Hörisch nachdrücklich hinweist, lügen wie gedruckt, aber für die audiovisuellen Medien gilt schlicht: »Man sieht, was man sieht; und man hört, was man hört.«

Schrift ist auf Sinn, die neuen Medien sind auf die Sinne fixiert. Damit werden die neuen Medien (anders als ihre neuesten Nachfolger, die wieder, wenn auch auf der Grundlage eines anderen Codes schreiben) für Hörisch zu regelrechten Heilsbringern, weil sie der Welt, dem »Realen« zurückerstatten, was die Schrift ihr an Schaden zugefügt hat. Aber es spricht viel dafür, daß auch der Schein der audiovisuellen Medien trügt und daß auch er auf eine besonders raffinierte Weise die Einsicht bestätigt, die Lorenz Engell und Joseph Vogl im Kursbuch Medienkultur zu der folgenden Bestimmung ihres Forschungsgegenstandes veranlaßt: »Medien machen lesbar, hörbar, sichtbar, wahrnehmbar, all das aber mit der Tendenz, sich selbst und ihre konstitutive Beteiligung an diesen Sinnlichkeiten zu löschen und also gleichsam unwahrnehmbar, anästhetisch zu werden.« [1. Claus Pias u.a. (Hrsg.), Kursbuch Medienkultur. Die maßgeblichen Theorien von Brecht bis Baudrillard. Stuttgart: DVA 1999.]

Hörisch, der seine Theorie der okzidentalen Leitmedien mit »Brot und Wein«, also dem Abendmahl, beginnen läßt, vertritt eine emphatische Medientheologie: »Medientheorie ist nur als Revenant der Theologie möglich«, heißt es denn auch entschieden; Kronzeuge dieser Auffassung ist nicht etwa Paul Virilio, sondern Siegfried Kracauer, der seiner Theorie des Films den Untertitel Die Errettung der äußeren Wirklichkeit beigesellte. Wie bei Pfeiffer, der sich des theologischen Räsonnements allerdings vollständig enthält, wird die Schrift auch in der Konzeption von Hörisch zum kulturgeschichtlichen Buhmann: Zwar ist sie nicht direkt des Teufels, aber ihr wird doch die Schuld an einer für das christ- liche Abendland charakteristischen teuflischen Geschichtsphilosophie in die Schuhe geschoben, die für all die unheilvollen Fanatismen und Fundamentalismen, die Europa heimgesucht haben, verantwortlich sei: »Um es auf eine Formel zu bringen: Je buch- und schrifthöriger ein Geist ist, desto Gnosis-anfälliger ist er. Und Gnosis-anfällig sein, heißt: im Namen des reinen Geistes Materie tilgen wollen, zum Verschwindenbringen-Wollen, was sich anschauen und betasten läßt, für Sinn jeden, aber auch jeden Preis zu zahlen bereit sein.«

Ihr ästhetischer Positivismus − »Alles ist so, wie es ist« − schützt die audiovisuellen Medien vor dem, was Pfeiffer den »prädikativen Impuls« der westlichen Kultur nennt, also ihren Drang, die Dinge, noch bevor sie erfahren werden können, sogleich einem Urteilssystem zu unterwerfen, das ihre »Wahrheit« feststellt. Die AV-Medien sind demgegenüber, so Hörisch, »antimetaphysische, neobuddhistische Maschinen«, ihre Performanz aktiviert die Sinne, noch bevor sich die Frage nach dem Sinn des Performierten überhaupt stellt. Zärtlich nennt Hörisch daher den Film auch seins- und nicht sinnverliebt. »Der Film ist das genuine Medium der postmetaphysischen Epoche.« Das ist eine These, und Hörisch reizt sie nach allen Seiten aus, indem er sich, ähnlich wie Pfeiffer, die nietzscheanische Rehabilitierung des ästhetischen Scheins zunutze macht. Der Film, sofern er kein Avantgardefilm, also ein Stück deplazierter Literatur ist, »rettet, ja erlöst die Wirklichkeit«, er nobilitiert »die physische Realität gegen die ›herrschende Abstraktheit‹ des Geldes, der religiösen Weltbilder und der Lettern«.

Hörisch wie auch Pfeiffer führen im Grunde das Geschäft der Ästhetischen Theorie auf neuer, medientheoretischer Grundlage fort. Auch Adorno beurteilte die Qualität eines Kunstwerks danach, ob es ihm gelingt, den »konstruktiven Anspruch« − also die Aktivierung seiner technisch-medialen Seite − so weit zu treiben, daß es die Sache selbst − unverstellt durch alle begrifflichen Zurüstungen − zum Ausdruck bringt: »Kunst ist Zuflucht des mimetischen Verhaltens.« Sie ist daher Hörisch zufolge bei den (Analog-)Medien zu Hause, die das Reale ohne Umweg über die symbolische Kodifizierung durch 26 Buchstaben zu geben und damit − aus medientheologischer Perspektive − zu retten vermögen, statt es wie die Schrift zu verwerfen oder wie die neuesten digitalen Medien neu und transparent machen zu wollen (Virtual Reality).

Der Literatur bleibt nach dem Ende ihrer Vorstellung dann nur noch die Rolle des Fürsprechers jener Medien, deren Botschaft, getreu der Aufforderung des Zarathustra, lautet: »Sein ist gut. Das Leben ist schön.« Literatur hat Geschichten über die Medien, alte, neue und neuste, zu schreiben, die die Medien selbst nicht erzählen, sie exploriert vor allem systematisch die blinden Flecke medialer Kommunikation, die sich aus ihrem sozial unkoordinierten Wechselspiel und ihren Überlagerungen ergeben. »Literatur beobachtet die neuen Medien«, den Kampf um die kulturelle Hegemonie sollte sie erst gar nicht führen, weil sie ihn längst verloren hat.

Aber was kommt bei dieser Beobachtung mittels Literatur heraus? Hörisch beantwortet diese Frage am Beispiel Peter Handkes, dessen Versuch über die Jukebox die fetischistische, ja kultische Funktion solcher »Mediendinge« ins Bewußtsein rückt, an die generationsspezifische Milieus kristallisieren. Weil Hörischs Medientheorie die Fortsetzung der Theologie mit anderen Mitteln ist, kann er auch der Literatur lediglich eine erbauliche Aufgabe zuweisen: Statt uns − vergeblich − ihre Sinnangebote aufzuzwingen, soll sie uns die Intensitäten wehmütig nachempfinden lassen, die ausrangierte oder an den Rand gedrängte Mediendinge einmal zu erregen vermochten.

Die Rolle der neobuddhistischen Maschinen Hörischs spielt bei Pfeiffer neben der Oper und dem Sport vorzugsweise das japanische Theater. Das westliche Sprechtheater hat es nicht vermocht, das traditionelle Theater in seinen verschiedenen Spielformen zu verdrängen oder auch nur zu schwächen. Die spektakuläre Ästhetik hat bislang allen Versuchen widerstanden, in den Künsten das europäische »Prestige des Textes« zur Geltung zu bringen. Natürlich verzichtet das japanische Theater nicht auf literarische Elemente, aber sie werden rigoros der theatralischen Effektivität untergeordnet. Diese Unterordnung erklärt auch das gebrochene Verhältnis dieses Theaters zu den Repräsentations- und Reflexionszumutungen, die an die europäische Kultur gestellt werden. Das Spektakuläre ist so weit freigesetzt, daß es die Darstellungsfunktion im Hintergrund vokaler, visueller und motorischer Stilisierung der Bühnenfiguren beläßt.

Die performativen Tätigkeiten sind nicht an einer Verschleierung ihrer Techniken interessiert, sie stellen sie im Gegenteil ganz offen aus, ohne daß sich die Intensität der Impressionen, die sie bewirken, deshalb abschwächen würde. Die japanische Theatersemiotik ist durch und durch körperbezogen und von einer ausgesprochenen, nicht zuletzt auch motorischen und mimisch-gestischen Schematik. So erreichen die Kabuki-Spektakel ihren Höhepunkt, wenn »der prachtvoll ausstaffierte und kunstvoll bewegte Körper des Schauspielers in der großen Pose (mie) zu gefrieren« scheint; ob diese Semiotik deshalb, wie Pfeiffer durchweg nahelegt, weniger problembezogen ist und sich in der vollständigen Aktivierung eines zur anthropologischen Ausstattung gehörenden Wirkungspotentials erschöpft, das im Westen weitgehend brachliegt, erscheint mir selbst schon wieder als eine allzu problembelastete Deutung des westlichen Literaturwissenschaftlers, der auf der Suche nach einer globalen kulturellen Alternative ist.

Und bedarf es dieser Suche überhaupt, wenn man in Rechnung stellt, daß zeitgenössische Soziologen nicht etwa Japan, sondern die westliche »hedonistische« Kultur meinen, wenn sie von der Erlebnisgesellschaft sprechen, eine Kultur, die sich längst schon wieder im Zeichen des Spiels zu begreifen gelernt hat und die vom Tanztheater bis hin zur Love Parade demonstriert, wie wenig sie noch vom Prestige des Textes hält und in welchem Maße sie die »Einverseelung« (Nietzsche) des Erlebnisses rückgängig gemacht hat: »Der rhythmisierte Körper treibt Psychisches aus sich heraus, er stellt es nicht dar«, dieser Satz Pfeiffers hat längst aufgehört, ein Differenzkriterium der vergleichenden Kulturanalyse zu liefern; als das Andere Europas taugt Japan nicht mehr.

Medientheologie und Medienanthropologie, dieser Eindruck läßt sich schwer abweisen, vollziehen eine Lage nach, in der sie die Literatur, auch wenn sie sie noch in den Blick nehmen, für eine abgewirtschaftete kulturelle Form halten oder ihr allenfalls eine Rolle als Medienpoesie zuweisen. Diese Funktionszuweisung ist ein Aspekt der Tyrannei, die Medien auf Medien ausüben, von der McLuhan spricht. Medienwissenschaft hätte ihr Kriterium auch darin, daß sie sich nicht umstandslos zum Vollzugsorgan dieser Tyrannei macht.