Im Wolfspelz. Michel Houellebecq und Bernard-Henri Lévy haben sich etwas zu sagen

Auf Michel Houellebecq ist Verlass. Kaum ein anderer Schriftsteller pflegt sein Bad-Boy-Image mit solch eiserner Konsequenz. Als er im November, wie immer betont nachlässig gekleidet, zur Verleihung des Prix Goncourt erschien, der bisherigen Krönung seiner Karriere, zelebrierte er im Blitzlichtgewitter mit routinierter Hingabe die Rolle, mit der er seit gut fünfzehn Jahren auch abseits der Feuilletons medial dauerpräsent ist: den sperrigen Sonderling und zynischen Nihilisten, vom Rummel um die eigene Person unbeeindruckt, dabei aber doch immer gut für einen kleinen Eklat oder wenigstens eine bedachtsam unbedachte Geschmacklosigkeit. Die wenigen Kritiker, die La carte et le territoire, dem Roman, mit dem Houellebecq sich bei Frankreichs bedeutendstem Literaturpreis durchgesetzt hatte, treuherzig aufrecht mit literarischen Kategorien be- gegneten, standen angesichts der perfekten Show von vornherein auf verlorenem Posten. Während die Auflage unaufhaltsam in die Höhe schoss, dominierten schillernde Charakterbilder und kraftmeierische Wilder-Mann-Folklore die Berichterstattung. Zumindest in Frankreich scheint sich die Kunstfigur Houellebecq endgültig verselbständigt zu haben.

Da Karte und Gebiet bei uns erst im Frühjahr erscheinen wird, ist die aktuellste Veröffentlichung, die hierzulande zu einer literarischen Kontrollpeilung einlädt, ein schmales Bändchen mit dem Titel Ich habe einen Traum. »Houellebecq pur«, bewirbt es der Verlag, die »Essenz seines Schaffens«, »Expeditionen ins Herz der Gesellschaft«, geformt »zu messerscharfen Analysen des Zeitgeists«, kurz: »nicht weniger als Weltkritik«. In Wahrheit ist Ich habe einen Traum schlicht verlegerischer Straßenraub.  [1. Michel Houellebecq, Ich habe einen Traum. Neue Interventionen. Köln: DuMont 2010.] Inwiefern die bunt zusammengewürfelten Interviews und Gelegenheitstexte, die meisten davon bereits mehrere Jahre alt, an dem Ort, für den sie ursprünglich gedacht waren, einst ihre Berechtigung hatten, ist schwer zu sagen. Ob man allerdings, sofern man nicht gerade glühender Houellebecq-Verehrer ist, überhaupt erfahren muss, dass für ihn persönlich »der Pädophile« das »abscheulichste und zugleich lächerlichste Wesen der Welt« darstelle, dass er »Feministinnen immer für liebenswerte und prinzipiell harmlose Idiotinnen gehalten« habe oder dass er diejenigen Songs von Neil Young bevorzuge, »in denen es ihm möglich wurde, wieder zum Kind zu werden«, erscheint doch eher fraglich.

Dabei ist es gar nicht so sehr der durchgehend idiosynkratische, subjektiv willkürliche Charakter der Einlassungen, der die Lektüre von Ich habe einen Traum so unbefriedigend macht. Bei einem Schriftsteller wie Houellebecq, der seine Person sehenden Auges zu einer öffentlichen Figur hat werden lassen, der seine Interviews nach wie vor bereitwillig mit steilen Thesen zu Swinger-Clubs, Islamismus und Drogenkonsum anreichert und dabei nachdrücklich den Eindruck vermittelt, das Image des antriebslos selbstbezogenen Libertins liebevoll zu pflegen, verschwimmen die Grenzen zwischen dem Privaten und dem Öffent- lichen zwangsläufig. Es liegt auch nicht daran, dass er der begnadete Denker gar nicht ist, zu dem ihn sein Verlag gerne stilisieren möchte.

Houellebecq hat zweifellos ein ausgeprägtes Sensorium für die Brüche und Inkohärenzen des Lebens. Aber er begegnet ihnen nicht mit analytischer Stringenz. Er unterläuft vielmehr methodisch jeden Versuch, sie auf den Begriff zu bringen. Der trockene Witz, den er dieser unheroischen Ausweichbewegung immer wieder zu geben versteht, ist eine seiner Stärken. Es wäre also reichlich albern, luzide Gesellschaftsdiagnosen von ihm zu verlangen, das ist nicht sein Genre. Das Problem ist vielmehr, dass sein inszeniertes Détachement, wenn es einem als bloße Aneinanderreihung zusammenhangloser Meinungssplitter ohne jede inhaltliche oder dramaturgische Klammer begegnet, zu belanglosem Gerede wird.

Zu welcher Form Houellebecq unter günstigeren Rahmenbedingungen auflaufen kann, zeigt ein Buch, das bereits im Jahr zuvor erschienen ist und in der deutschen Fassung den ein wenig hölzernen Titel Volksfeinde trägt, was das doppeldeutige Ennemis Publics der Originalausgabe leider nicht einfangen kann. Volksfeinde ist ein Briefwechsel, den Houellebecq zwischen Januar und Juli 2008 mit dem Philosophen und Publizisten Bernard-Henri Lévy führte. [1. Michel Houellebecq/Bernard-Henri Lévy, Volksfeinde. Ein Schlagabtausch. Köln: DuMont 2009.] Das ist eine bemerkenswerte Paarung.

Im Gegensatz zu dem acht Jahre jüngeren Houellebecq, dessen Karriere erst 1994 mit dem Roman Ausweitung der Kampfzone in Fahrt kam, steht der 1948 geborene Lévy bereits seit mehr als drei Jahrzehnten ständig im Rampenlicht der Öffentlichkeit. Als Schriftsteller, Kolumnist, Verleger, Herausgeber ist er eine der schillerndsten Figuren der intellektuellen Szene Frankreichs und die Marke BHL in den Medien nicht nur der frankophonen Welt ubiquitär präsent. Kosmopolitisch, extrovertiert, gebildet, wohlhabend, elegant, gewandt, eloquent, gutaussehend stellt er in Habitus, Temperament und Auftreten zudem das genaue Gegenteil des im Vergleich dazu provinziell und linkisch wirkenden Houellebecq dar.

Auch inhaltlich verbindet die beiden wenig. Lévy sucht, so sehr das mitunter in selbstverliebter Rhetorik und routiniert inszenierter Emphase untergehen mag, in seinen Argumentationen stets Anschluss an grundsätzliche ethische Fragestellungen. Er äußert sich dezidiert zu politischen und sozialen Problemen und sieht sich dadurch ständig in Debatten verstrickt, die nicht allein in der Öffentlichkeit ausgetragen werden, sondern zugleich öffentliche Relevanz für sich beanspruchen können. Houellebecq dagegen kreist ostentativ nur um sich selbst, pflegt das zynische Image des Nichtwählers und Steuerflüchtlings, der sich nicht als teilnehmender Bürger, sondern lediglich als zahlender Kunde des Staates begreift, und er lässt keine Gelegenheit aus, zu betonen, dass er keinerlei über seinen privaten Lebenskreis hinausreichende Verantwortung anzuerkennen bereit sei.

Was beide über diese Differenzen hinweg verbindet, ist die Heftigkeit und Emotionalität der Reaktionen, die ihre Person wie auch ihre Thesen in der Öffentlichkeit auslösen. Natürlich bieten sie, jeweils auf unterschiedliche Weise, schon allein durch die markante Selbststilisierung und die bewusst provokant zur Schau getragene Selbstgewissheit eine ideale Angriffsfläche für hämische Kommentare und gehässige Anmerkungen. Lévy und Houellebecq tun nicht allzu viel dafür, besonders sympathisch zu wirken. Auch schwankt die Qualität ihrer Veröffentlichungen mitunter ziemlich heftig. Aber das Maß an Ablehnung, das ihnen seitens ihrer Kritiker entgegenschlägt, geht doch deutlich über das hinaus, was auf dem literarischen Feld im Allgemeinen als normal empfunden wird.

Volksfeinde beginnt als der Versuch, den Gründen für die öffentliche Erregung öffentlich nachzuspüren: »Warum wir?«, fragt Houellebecq in einem der ersten Briefe und gibt sich zunächst ratlos. Er selbst verspüre keinerlei »Verlangen nach Feinden, nach erklärten und entschiedenen Feinden. Ich habe schlichtweg kein Interesse daran.« Und doch sähen sie sich beide ständig mit demselben »Blutdurst« konfrontiert, mit Abscheu, Diffamierungen, Schlägen unter die Gürtellinie. »Oft, wenn Ihr Name in einem Gespräch fiel, blickte ich in maliziös verzerrte Gesichter. Es war ein Gesichtsausdruck, den ich sehr gut kenne, der Ausdruck niederer Freude, der üblicherweise dann auftaucht, wenn man an jemanden denkt, den man ohne jedes Risiko verhöhnen kann.«

Es macht den Reiz des dreihundert Seiten langen Gedankenaustauschs aus, dass die beiden selbsternannten Volksfeinde auf Dauer weder in Larmoyanz versinken noch der Versuchung erliegen, endlich einmal ausgiebig zurückzuschlagen. Das Bauprinzip von Rede und Gegenrede, auf das sie sich verständigt haben, entwickelt eine Dynamik, an der die »Entschlossenheit, so wenig wie möglich über sich zu sagen«, von der Lévy zu Anfang spricht, unweigerlich abgleitet. Briefwechsel, merkt Houellebecq einmal ironisch an, führten nun einmal zwangsläufig zu »Bekenntnisliteratur«, um dann ganz ernsthaft anzuschließen: »Der Briefwechsel hat etwas, das einen zur Wahrheit, zur Präsenz zwingt; oder nicht?«

Zwar lässt der Einspruch des professionellen Posers auf der anderen Seite nicht lange auf sich warten: Bekenntnisse, nein, um Gottes willen. Es könne doch in der Literatur nicht darum gehen, irgendetwas von sich preiszugeben, sondern, im Gegenteil − der Verweis auf Gides Falschmünzer darf nicht fehlen −, sich kunstvoll zu verbergen. Doch eben das lässt sich auf der langen Strecke und angesichts der vom jeweils anderen immer wieder überraschend vorgenommenen Kursänderungen einfach nicht durchhalten.

Das wiederum führt dazu, dass sich, angetrieben von Houellebecqs Vergnügen an selbstquälerischem Exhibitionismus, die Aufmerksamkeit beider zunehmend von der empörten Verwunderung über die Feindseligkeit der anderen auf die eigene Person und deren Unzulänglichkeiten richtet − die Eitelkeit etwa, die beide gleichermaßen dazu bringt, wieder und wieder nach dem eigenen Namen zu googeln, obwohl sie genau wissen, wie kümmerlich dieses Interesse ist und dass ihnen zudem höchst selten gefällt, was da von irgendwem über sie geschrieben wird; oder die »einzigartige Selbstüberschätzung« (Houellebecq), die Sucht nach Anerkennung, den Wunsch, »in allem der Erste und Beste zu sein« (Lévy), den unbezähmbaren Drang nach dem Auftritt im Rampenlicht.

Aus dem Versuch, gemeinsam nachzuvollziehen, wie sie zu dem geworden sind, der sie sind, der zunächst völlig unsystematisch an zufälligen Kindheitserinnerungen, Anekdoten, Leseerlebnissen und ad hoc eingestreuten Reflexionen entlangspaziert, entwickelt sich mit der Zeit ein so intensives wie unterhaltsames Gespräch über die Frage, in der beide am weitesten auseinanderliegen: wie wohl in einer Welt radikaler Kontingenz ein geglücktes Leben aussehen könnte. Auch dabei gibt zunächst Houellebecq den Takt vor, der dem Problem mit derselben nonchalanten Indifferenz begegnet wie seine Romanhelden, also freimütig zu- gibt, angesichts der »absoluten Unumkehrbarkeit« des Verfalls der westlichen Kultur »die moralischen Muskeln« nur ungern anzuspannen und sich einfach seinen Neigungen und seiner Schwermut zu überlassen. Damit zwingt er Lévy in die undankbare Rolle des moralischen Kettenhunds, der ständig mit großem Getöse für die abstrakten Prinzipien kämpfen muss, die Houellebecq gleich darauf mit überlegener Geste wieder einkassiert.

Glücklicherweise kippt das Kräfteverhältnis aber schon nach kurzer Zeit, weil es Lévy durch seine Hartnäckigkeit gelingt, seinen Gesprächspartner in ein Legitimationsgefecht zu verstricken, das dieser, wäre es ihm wirklich ernst mit der totalen Indifferenz, niemals mit solchem Einsatz führen würde. So siegt am Ende doch das Interesse an der Sache über die Lust am Applaus.

Das macht Volksfeinde zwar nicht zu einem großen Wurf. Man muss, gerade im ersten Drittel, wo beiden noch anzumerken ist, wie schwer die doppelte Hypothek auf dem Zwiegespräch lastet, sich sowohl dem anderen wie auch dem Publikum gegenüber in Szene setzen zu müssen, jede Menge nihilistischer Koketterie auf der einen und jede Menge preziöser Bildungshuberei und Geschwätzigkeit auf der anderen Seite ertragen. Zudem nutzen die beiden die offene Form zu oft dazu, den Gedanken einfach abzubrechen, anstatt ihn zu Ende zu denken. Aber da beide gleichermaßen bereit sind, sich gegenseitig ernst zu nehmen, treten diese Schwächen mit dem Fortgang des Gesprächs immer mehr in den Hintergrund. Am Ende wird man Zeuge eines Dialogs, der, so sehr er stets an das persönlich Individuelle gebunden bleibt, doch in der Summe darüber hinausweist und der es einem als Leser zunehmend schwer macht, die beiden manischen Selbstdarsteller nicht doch ein wenig zu mögen.