„Der Roman setzt den Punkt“. Gespräch mit Michail Schischkin und Andreas Tretner

Passend zum russisch-georgischen Schwerpunkt des Augustheftes und dem deutsch-russischen KulturaustauschAnlässlich des Internationalen Literaturpreises (Haus der Kulturen der Welt) für seinen Roman „Venushaar“ im Jahr 2011 sprach Ekkehard Knörer mit dem Autor Michail Schischkin und dessen Übersetzer Andreas Tretner. Das Interview wurde zuerst im Freitag veröffentlicht – online dort allerdings nur in einer etwas verstümmelten Fassung zugänglich. Hier die integrale Version.

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Herr Schischkin, Sie befinden sich in einer eigentümlichen Situation. Sie sind ein in Russland viel gelesener, gefeierter und mit den bedeutendsten Preisen ausgezeichneter Autor. Aber Sie leben seit 1995 recht unberühmt in der Schweiz, erst jetzt wurde mit „Venushaar“ – der im Original 2005 erschien – erstmals einer Ihrer Romane ins Deutsche übersetzt.

Michail Schischkin: Etwas merkwürdig war das schon: Das Deutsche ist die Sprache in meinem Lebensraum. Meine Romane sind in viele Sprachen übersetzt – aber ausgerechnet in meinem Lebensraum gab es nichts. Deshalb freue ich mich sehr, dass DVA endlich eine Übersetzung gewagt hat. Zuvor gab es viele, viele Absagen von deutschen Verlagen: Fast immer mit dem Argument, meine Bücher seien zu anspruchsvoll und deshalb zu riskant. Da musste ich mich schon fragen: Für wie dumm halten diese Verlage denn ihre Leser?

Und in die andere Richtung gefragt: Wie sehen Sie Ihr Verhältnis zur russischen Literatur?

Schischkin: Leider ist die russische Literatur im Lauf des 20. Jahrhunderts ins Abseits geraten. Wenn man die Menschen in eine Art Käfig steckt, dann grenzen sie sich ab, dann entsteht eine Art Subkultur, eine eigene Sprache mit eigenen Witzen, dann interessieren sie sich nicht mehr dafür, was draußen passiert. Die russische Literatur hat über Jahrzehnte die ganze erzähltechnische Entwicklung der Moderne und der Weltliteratur verpasst. Das musste sie erst einmal aufarbeiten, nachholen, bevor sie wieder zu einer eigenständigen Entwicklung finden konnte. Nun aber ist es an der Zeit, selbst einen Schritt nach vorne zu tun. Und schon deshalb denke ich: Ja, ein Autor muss auch einmal im Ausland leben. Wer das nie tut, lebt in einem Haus ohne Spiegel. Und man braucht Spiegel, um sich selbst zu verstehen.

Andreas Tretner: Übrigens ist es sehr viel schwieriger, Texte aus einem solchen Käfig ohne Spiegel zu übersetzen. Man muss dem Leser da oft umständlich Sachen erklären, noch dazu in Worten, die gar nicht wirklich angemessen sein können. Eine weltoffene Literatur, eine Literatur, die auf diese Weise den abgeschlossenen eigenen Raum überschreitet, ist viel übersetzbarer. Und „Venushaar“ ist für mich ein exemplarischer Fall einer solch offenen Literatur.

Schischkin: Ich saß da also in Zürich, in meiner kleinen Wohnung gegenüber vom Krematorium Nordheim und schrieb meine russischen Texte. Dabei hatte ich aber immer ganz kompromisslos meinen „idealen Leser“ in Russland vor mir.

Wie sieht der aus?

Schischkin: Nun, der steht neben mir und es gefällt ihm alles, was mir gefällt. Und er hasst alles, was ich hasse. Das Risiko hinterher ist dann, dass du ganz allein bleibst mit deinem idealen Leser. Ich hatte das Glück, dass ich dann doch viele Leser in Russland, meiner Heimat gefunden habe. Auch die Preise sind schön, die Theaterinszenierungen ebenso. Aber viel wichtiger waren für mich die Treffen mit meinen wirklichen Lesern in der Provinz. Vor einem Jahr habe ich eine Lesereise im Gebiet um Wologda gemacht, ein mittelalterliches Städtchen, ein richtiges russisches Krähwinkel. Häuser wie aus der Zeit Peters des Großen, aber mit einer großen Satellitenantenne oben drauf. Da kam die russische Provinzintelligenz zusammen: die Lehrer, die Apotheker, die Bibliothekarin. Und sie hatten meine Bücher dabei und erklärten, wie wichtig sie ihnen sind. Das hat mich sehr berührt. Die Rolle der Literatur in Russland ist mit kaum einem anderen Land zu vergleichen. Lesen ist dort Kampf um die Selbsterhaltung, um die Bewahrung der menschlichen Würde angesichts einer erniedrigenden politischen Realität.

Können Sie sich Ihre deutschen Leser vorstellen?

Schischkin: Es ist schwierig. Ich hoffe natürlich, dass es auch hier Leser geben wird, denen mein Buch etwas gibt. Wobei es dann nicht meine Worte, sondern die von Andreas sind, denen sich diese Wirkung verdankt. Aber es ist doch etwas anderes in Russland. Es gibt ein Erlebnis, das ich nie vergessen werden: Ich saß in einem Café in Moskau, damals war gerade mein Roman „Die Eroberung von Ismail“ erschienen, da kam eine Frau auf mich zu, sie hatte mich offenbar erkannt und sagte den unerhörten Satz: „Sie haben die russische Literatur für mich gerettet.“ Das ist eigentlich der Moment, in dem man beruhigt sterben kann.

Herr Tretner, in einer Hinsicht war „Venushaar“ auch für Sie eine ungewöhnliche Erfahrung: Sie mussten einen Autor übersetzen, der selbst sehr gut Deutsch spricht, versteht und liest.

Tretner: Das war in der Tat das erste Mal für mich. Die Nervosität war größer also sonst, aber wir haben sehr schnell eine Grundlage gefunden. Wir kannten uns schon, ich kannte seine „Stimme“, was ich sehr wichtig finde. Er war sozusagen mein erster Lektor. Wir konnten besonders schwierige, heikle Dinge immer diskutieren. Aber reingeredet hat er mir nicht. Insgesamt war das zwar etwas aufwändiger als sonst, aber sehr angenehm.

Und wie war es für Sie, Herr Schischkin?

Schischkin: Ich würde die Situation mit dem Theater vergleichen – ein Übersetzer muss sich wie ein Regisseur absolut frei fühlen. Die Übersetzung ist die Inszenierung, die Interpretation. Ich habe meine Funktion nur darin gesehen, Dinge zu erklären, die ich mit meinem russischen Hintergrund erklären kann. Aber sehr bald war er dann allein gegen den Text, allein gegen die deutsche Sprache.

Tretner: Ich denke, dass ich als Übersetzer etwas wie der vorhin beschriebene ideale Leser sein muss. Mich ihm jedenfalls so weit wie möglich annähern sollte. „Venushaar“ ist nun ohnehin ein besonderer Fall: Denn auf einer Ebene handelt das Buch ja von der Wiederauferstehung oder der Wiederherstellung der Welt durch Sprache. Nichts anderes ist das Übersetzen. Vieles, was in diesem Buch explizit verhandelt wird, ist ganz nah dran an dieser Unmöglichkeit, mit der man es beim Übersetzen zu tun hat. Man muss vieles erst einmal einreißen, um es dann als ein Abbild des Originals wieder erstehen zu lassen.

Schischkin: Genau das ist aber auch die Aufgabe des Schriftstellers selbst. Die Worte, die Sätze, die wir haben, sind längst tot – abgenutzt, verbraucht, tausendmal gesagt. Und doch ist die Aufgabe des Schriftstellers genau diese: die Worte wieder auferstehen zu lassen. Durch die toten Wörter etwas Lebendiges zu sagen.

Wiederauferstehen ist ein gutes Stichwort. Ein Satz aus dem Motto von „Venushaar“ lautet: „Denn durch das Wort ward die Welt erschaffen, und durch das Wort werden wir einst auferstehen“. Das ist aus dem Buch der Offenbarung Baruchs, einer apokryphen Schrift – steht da. Ich habe nachgelesen. Den Rest des Mottos habe ich gefunden – aber diesen Satz, eine Art Credo, will mir scheinen, den gibt es in der Offenbarung gar nicht.

Schischkin: Sieh an. Ich muss es freilich zugeben, den Satz habe ich Baruch in den Mund geschoben. Ich wollte diesen Satz in meinem Motto haben. Ich habe gesucht und gesucht und war sicher, es gibt so etwas in der Bibel. Ich wurde aber nicht fündig – was blieb mir da übrig?

„Venushaar“ ist ein Buch, das reich ist an Stimmen, Materialien, Verweisen, Bezügen, auf Augenhöhe mit der Weltliteratur von Xenophon bis Gogol, von russischen Volksmärchen bis zu Poe. Was für den Übersetzer wiederum eine große Herausforderung ist – ein ständiger Wechsel der Tonlagen, der Stimmen, ein An- und Abschwellen eines gewaltigen Chors. Herr Tretner, wie erging es Ihnen damit?

Tretner: Ja, in den Teilen, die Sie ansprechen (es gibt ja auch andere), wechseln und wandeln sich Stimmen rapide, manchmal beinahe ein “Morphing”, so dass ich immer wieder nachjustieren, nachfokussieren musste. Am schwierigsten war das dann in dem Crescendo am Ende, in dem sich die Figuren und Stimmen komplex und bis beinahe zur Ununterscheidbarkeit überlagern. In solchen Passagen finde ich das Buch wirklich in musikalischen Metaphern fassbar: es geht um Tonlagen, um die Exposition von Themen und den Wechsel von Tonarten. Das macht übrigens auch klar, dass bestimmte Fragen an das Buch nicht leicht zu beantworten sind: Wovon handelt eine Sinfonie von Penderecki? Was haben wir da erfahren? Ähnlich kann es einem auch mit „Venushaar“ ergehen.

Schischkin: Für mich ist das Buch sehr einfach gebaut. Eine sehr klare Konstruktion. Am Anfang gibt es verschiedene Stimmen, Wirklichkeiten, Realitäten, die einander entgegengesetzt sind: Wie kann man weiter voneinander entfernt sein als ein Asylsuchender und die Person, die ihm den Zugang verweigert? Es bewegt sich in Richtung einer gegenseitigen Verständigung. Diese Stimmen, Bewusstseinsebenen kommen zueinander, verflechten sich. So einfach ist das.

Tretner: So einfach ist das aber bei weitem nicht. Jedenfalls sobald man näher rangeht. Es bleiben Abstoßungen, Wirbel, Gegensätze trotz dieser klaren Grundrichtung.

Da muss ich die Frage an den Autor gleich anschließen: Wie entsteht das, dieser Chor, diese Verwirbelungen einzelner Stränge, dieses An- und Abschwellen von Stimmen? Wie fängt es an, wie komponiert sich das?

Schischkin: Ehrlich gesagt: Ich weiß es nicht. Es ist immer der Kampf zwischen meinem Kopf und meiner Hand. Ich denke mir etwas aus, ich plane eine Handlung, gefällt mir alles gut – aber die Hand will das nicht machen. Sie hört nicht auf mich. Dann muss ich aufgeben und warten, bis die Hand selber schreibt. Es gibt da einen Diener und einen Herrn. Der Herr ist der Roman, ich bin sein Diener. Darum kann ich die Fragen: Warum schreiben Sie das, warum so und nicht anders, nie beantworten. Ich schreibe einfach und kann dann sagen: Ja, es ist gut.

Aber es gibt doch sicher auch den Schlag auf die Schreibhand und die Ermahnung: Das war jetzt nix.

Schischkin: Natürlich, immer. Darum schreibe ich ja auch nicht jährlich einen Roman, sondern brauche jedes Mal wieder fünf Jahre. Ich beschleunige nie, ich kann es nicht erzwingen. Ich muss einfach warten, bis er fertig ist. Wann das ist, weiß ich aber nie vorher. Ich setze nicht den Schlusspunkt. Nur der Roman weiß das. Er setzt den Punkt.