Akzelerationismus vs. Akademismus (im Centre Pompidou)

Letzten Montag wurde im Centre Pompidou das »Manifesto for an Accelerationist Politics« von Alex Williams und Nick Srnicek vorgestellt. Vor genau einem Jahr hatte Armen Avanessian zur deutschen Buchpremiere des Manifests bei Merve über fünfhundert Leute am Alexanderplatz versammelt. Nachdem das Manifest inzwischen in knapp zwanzig Sprachen vorliegt, reagiert auch Paris. Übersetzt und rausgebracht hat den Text nun Yves Citton, Literaturprofessor aus Genf, in seiner Zeitschrift Multitudes. Die hat einen so lupenreinen linken Ruf, dass ich sie im Prinzip für eine der besten halte, tatsächlich aber noch nie gelesen habe. Auch in Paris zieht der Akzelerationismus. Von über zweihundert Interessenten müssen, weil der Saal zu klein ist, etwa fünfzig draußen bleiben.

Wie nimmt das französische Establishment ein politisches Programm wahr, das von zwei Londoner Doktoranden in International Relations aufgesetzt wurde und seit einem guten Jahr die internationale Theoriebranche mit Schlagworten beliefert? Um das Ende vorweg zu nehmen: als Ärgernis, ja als Bedrohung. Ein paar anerkennende Worte gab es zwar, die wirkten aber wie minimale Höflichkeitsadressen in einer ansonsten allergischen Abwehrreaktion. Williams und Srnicek, die wegen eines Visumsproblems (Srnicek ist Australier) nicht hatten anreisen können, durften sich per Skype zwei Totalverrisse ihres Manifests anhören.

Bevor es dazu kam, führte der Künstler und Theoretiker Fabien Giraud einen wohlwollenden Rezeptionsmodus im Rahmen der Kunst vor: konzeptuelle Anarchie. Seine performance-conférence funktionierte nach dem Prinzip kumulativer Re-Definition: „Akzelerationismus ist… Akzelerationismus ist… Akzelerationismus ist…“ Zuletzt sagte Giraud etwas mit Trepanation und Lossagung von Angst, zeigte dazu Bilder von aufgebohrten („trepanierten“) Schädeln und von einer Erde mit einem Krater so groß wie Australien. Außerdem eine längere Passage über Dyson-Sphären, die nach einem astronomischen Modell der 1960er planetare, stellare und schließlich galaktische Energiegewinnung ermöglichen. Vom literarischen Standpunkt fand ich Girauds Retro-Science-Fiction ziemlich gelungen. Nur einmal, als er von seinem Manuskript aufblickend „c’est clair ?“ in den Raum fragte und schon vor dem Ausklang seines Fragezeichens zu grinsen anfing, vermasselte er den rhetorischen Effekt.

Dann war der Spaß aber vorbei. Es wurde politisch (und einigen Zuhörern schnell zuviel, denn nach und nach verließ ein Drittel den Raum). Yves Citton las, um eine Textgrundlage zu schaffen, eine Viertelstunde aus seiner Übersetzung des Manifests vor. Eigentlich ein toller didaktischer Ansatz. Nachdem Srnicek und Williams ein paar Grußworte und Zusatzerklärungen loswerden konnten, kam es zum Kern der Veranstaltung, der „Diskussion“. Die bestand allerdings nicht in einem Gespräch (das wegen Skype und Simultanübersetzung auch phasenverschoben ausgefallen wäre), sondern im Verlesen zweier Kommentare.

Zuerst sprach Sophie Wahnich, Historikerin am CNRS und spezialisiert auf Revolutionen. Sie ließ für eine halbe Stunde nicht von den beiden Londonern ab. Man konnte wunderbar beobachten, was ein rhetorischer Angriff mit den Körpern der Kontrahenten macht. Wahnichs Körperspannung nahm mit ihrer Erregung zu, sie packte das Mikro immer fester, wurde lauter und gestenreicher, als ihre Pointen in Publikum erste Lacher provozierten. Währenddessen sah man Williams und Srnicek auf der Leinwand stummgeschaltet und in Großaufnahme. Beide machten anfangs wie wild Notizen, ließen damit aber schnell nach. Williams raufte sich ab und zu die Haare, ruderte auf der Couch hin und her und trank zwei Flaschen Wasser. Srnicek blieb cool. Das einzige, was sich in seinem Gesicht bewegte, waren die Augenbrauen, die immer steiler zur Mitte anstiegen. Jede Minute wurde sein Pokerface ein bisschen perfekter. Was werden die beiden antworten, fragte ich mich die ganze Zeit.

Schnell war klar, dass Wahnich nicht das Manifest »diskutieren«, sondern es mit allen Mitteln akademischer Herabsetzung diskreditieren wollte (Historisierung, Moralisierung, Philologisierung, Wortfetischismus, Kontextverkürzung, begriffliche Enteignung – sie nannte die Autoren zum Beispiel ständig „Futuristen“). Als deswegen beim Publikum und beim Gastgeber Citton nicht mehr nur Amüsiertheit, sondern schon Beklemmung merkbar wurde, versuchte sich Wahnich an einer Auflockerung. Sie mache den beiden („Alex et Nick“) „den Prozess“. Was selbstironisch oder lustig klingen sollte, machte, weil es die Empfindung im Saal exakt wiedergab, ihren Vortrag nur noch autoritärer.

Von meiner politiktheoretisch versierteren Begleiterin Viviana Lipuma (promoviert gerade zu Kognitivem Kapitalismus bei Anne Sauvagnargues) ließ ich mir später erklären, dass Wahnichs Lesart die Akzelerationisten den linken Autonomen zuordnet, die Selbstermächtigung in vertikalen Strukturen anstreben. In Italien hätten sie in Kommunen wie Palermo, Turin und Bologna mittlerweile eine paramilitärisches, quasi-staatliches Niveau der Machtausübung erreicht, als linke Gegner stünden ihnen libertäre, „horizontalistische“ Anarchisten gegenüber. Tatsächlich erwähnt §13 des Manifests, dass „zum wirksamen politischen Handeln ebenfalls (wenn auch selbstverständlich nicht nur) Geheimhaltung, Vertikalität und Exklusion [gehören]“. Nur ein Beispiel: Wahnich warf Williams und Srnicek einerseits mangelnde Konkretheit vor, verteufelte ihren vorsichtigen Aufruf zu etwas-mehr-Vertikalität aber schon als potenziellen Techno-Stalinismus.

Völlig grotesk wurde es dann beim Zweitredner, Yann Moulier-Boutang, Mitherausgeber von Multitudes und Miterfinder des Kognitiver Kapitalismus-Begriffs. Er beglückwünschte die beiden „Engländer“ dazu, endlich ein wenig Nietzsche(!) auf die Insel („outre-Manche“) importiert zu haben. Seine Rede war rhetorisch total verschwurbelt und voller Insider-Spitzen gegen Konkurrenten im eigenen linken Lager. Antonio Negri, der sich anerkennend zum Akzelerationismus geäußert hatte, bekam sein Fett weg, und indirekt auch der Kollege auf dem Podium, der den Abend verantwortete. (Yves Citton ist übrigens Schweizer und hat als Moderator mit gutem Englisch und einer gewissen Internationalität den Abend vorm kommunikativen Zusammenbruch gerettet.)

Nachdem auch Moulier-Boutangs mühselig langer Verriss, der eher eine Verhöhnung sein wollte, verlesen war (Wahnich sah nun müde aus) bekamen Srnicek und Williams das Wort. Ihre Antwort war nicht akademisch-defensiv, sondern politisch-strategisch: Sie hatten hier schließlich, anders als ihre Ankläger (habilitiert, verbeamtet etc.) den Eindruck gaben, keine Studienarbeit „zu verteidigen“, sondern sprachen für eine politisches Programm, zu dem auch die Entwicklung besserer Umgangs-, Diskussions- und Organisationsformen innerhalb der Linken gehört. Die beiden prekär beschäftigten Jungakademiker bedankten sich ruhig für Kritik und Anregungen, übergingen Polemik und Lächerlichmachung, hatten dabei ihre Körpersprache total im Griff und arbeiteten noch einmal Punkt für Punkt ganz nüchtern den Kern ihres Manifests heraus, was als Erwiderung auf die gerade stattgefundenen Verfremdungsversuche auch vollkommen genügte.

Warum soll man nicht, wie sie es tun, den Klimawandel als imminente globale Katastrophe beschreiben, die „die Normen und Organisationsformen unserer Politik“ wie einen „Witz“ erscheinen lässt (§1 des Manifests). Warum nicht auf technologische Akzeleration und Automatisierung setzen, um Gesellschaften und Biosysteme nachhaltig zu steuern? Warum nicht mit allen verfügbaren und findbaren Mitteln Zukunft und Handlungsfähigkeit für eine soziale Rationalität zurückgewinnen? Warum nicht all das im Rahmen einer politischen Organisation versuchen, anstatt die Kollektivierung der Menschheit kommerziellen Akteuren wie Google zu überlassen?

Wahnich und Moulier hatten auf solche Fragen keine einzige Antwort. Die Akzelerationisten haben auch nichts gegen lokalen Aktivismus, der die Zerstörung von Sozio- oder Biotopen verzögert oder verhindert. (In Frankreich gilt der spektakulärste Widerstand gerade dem Flughafen Notre-Dame-des-Landes bei Nantes und dem Wasserkraftwerk von Sivens, wo Ende Oktober der Demonstrant Rémi Fraisse von einer Polizeigranate getötet wurde). Williams’ und Srniceks entscheidende Frage ist einfach „How could you scale up?“ Was braucht’s für einen planetaren Aktivismus? Zwei smarte, höfliche, sachliche Doktoranden (inzwischen Postdocs) aus London haben zur Antwort auf diese Frage seit einem guten Jahr viel mehr beigetragen, als ein ganzes Korps alteingesessener linker Akademiker, das Wahnich und Moulier-Boutang an diesem Abend im Modus des bornierten Besserwissens vertraten. Yves Citton, das sei zu seiner und einer allgemeinen akademischen Ehrenrettung gesagt, hat seiner Übersetzung des Manifests eine sehr schöne und differenzierte Einführung für den französischen Kontext mitgegeben.