Mystische Dialektik. Maurice Blanchot im Merkur

Wer in den 2000er Jahren ein geisteswissenschaftliches Studium mit Interesse an Theorie absolvierte, dem begegnete Maurice Blanchot höchstwahrscheinlich erst einmal als Nebenfigur. Er tauchte in Foucaults Schriften zur Literatur (dt. 1974) auf, bei Barthes oder Deleuze und schließlich bei Derrida, der ihm die Studien Gestade (1986, dt.1996) und Bleibe (1998, dt. 2003) widmete. Derridas Nachruf auf den Schriftsteller, Literaturkritiker und -theoretiker wurde zudem unter dem Titel Ein Zeuge von jeher (2003) in Übersetzung im Merve-Verlag veröffentlicht. Blanchot kam in jenen Jahren eher durch die Aufmerksamkeit der Theorie-Größen für seine Texte in den Blick als durch eigene Veröffentlichungen. Dass dies nicht immer so war und nicht so geblieben ist, lässt sich an den Nennungen des Namen Blanchot im Merkur ablesen. Blanchot war vor und nach dem „langen Sommer der Theorie“ (Felsch) präsenter als währenddessen.

Blanchot ist im Merkur früh Referenzautor. In der zweiten Ausgabe der Zeitschrift im Jahr 1948 taucht sein Name erstmals auf. In einer Rezension der Tagebücher Kafkas von dem Theaterregisseur Gerhard F. Hering wird er als einer in einer Reihe von französischen Schriftstellern genannt, die vom Autor des Proceß beeinflusst seien. Drei Jahre später führt Merkur-Gründer und Herausgeber Hans Paeschke in einem Text mit dem Titel Der Geist des Auslands im Spiegel seiner Zeitschriften Blanchot mit Georges Bataille als Teil der wichtigsten unter verschiedenen Gegnern Jean-Paul Sartres ein. Im Umfeld der Zeitschrift Critique würden Blanchot und Bataille „aus hoch gespannter Intelligenz eine gleichsam mystische Dialektik entwickeln […], die existentialistischen Theorien unermüdlich revidierend und fortbildend, oft schwer verständlich“ (1951, 582). In den Fokus rückt Blanchot hier also im Rahmen einer Zeitschriftenschau, bei der man im Ausland Verwandtes, möglicherweise auch Inspiration für das eigene Projekt sucht. Es ist eine von zwei Nennungen Blanchots in dieser Ausgabe von 1951. Auch in einer Rezension wird er als Referenz herangezogen.

Dass Paeschke die Bemühungen von Bataille und Blanchot trotz schwerer Verständlichkeit eher positiv wertet, ist nicht selbstverständlich. Denn vier Hefte später, immer noch 1951, veröffentlicht der Merkur unter dem Titel Wider die Unart eines pseudo-dialektischen Sprachgebrauchs eine zweiteilige Polemik gegen die Protagonisten der von Paeschke so genannten „gleichsam mystischen Dialektik“. Den ersten Teil bilden Überlegungen des französischen Kritikers Gabriel Venaissin, die stark an die Vorwürfe erinnern, die Derrida später immer wieder begegneten. Venaissin geißelt die zweite Version von Blanchots Roman Thomas l’Obscur aus dem Jahr 1950 unter anderem als „bloßes Spiel“ und „Rhetorik“. Venaissins Text wird durch einen Kommentar des Romanisten und Übersetzers Friedhelm Kemp ergänzt, der ihm sekundiert. Während Blanchot bei Venaissin als Paradebeispiel der kritisierten Strömung auftritt, taucht sein Name bei Kemp nicht auf. Dies ist gewiss nicht zufällig, wird Kemp doch 1972 eine Übersetzung eines kurzen Textes von Blanchot mit dem Titel Der Tod des letzten Schriftstellers im Verlag R. Oldenbourg veröffentlichen. Der Blick nach Frankreich motiviert auch die nächste Erwähnung Blanchots: 1952 wird ein Text des Phänomenologen Maurice Merleau-Ponty mit dem Titel Der Mensch und die Widerständigkeit des Daseins veröffentlicht, in dem dieser sich auf Blanchot beruft.

Im Jahr 1962 tritt Blanchot dann das erste und einzige Mal selbst als Autor auf. In der Übersetzung des Curtius-Schülers Karl August Horst, des mit 154 Beiträgen fleißigsten Rezensenten in der Geschichte der Zeitschrift, erscheint ein kurzer Essay über die Romane Becketts. Es ist ein Ausschnitt aus Blanchots Le livre à venir (1959), die im gleichen Jahr wie der Essay im Merkur unter dem Titel Der Gesang der Sirenen im Hanser-Verlag publiziert wird. Der Autor des Beckett-Essays wird wie folgt vorgestellt: „Maurice Blanchot gehört zu den führenden Literaturkritikern und Essayisten des modernen Frankreich und ist ständiger Mitarbeiter der literarischen Chronik der ,Nouvelle Revue Française‘.“ Wie schon bei Paeschke wird er als eine wichtige Stimme der französischen Literaturkritik eingeführt. Sein Übersetzer, Horst, ist mit für die meisten Nennungen von Blanchot im Merkur verantwortlich. Zwischen 1951 und 1965 bringt er immer wieder Blanchots Namen und Blanchot-Zitate in Kritiken zu den Büchern anderer Autoren als Schmuggelgut unter. In Rezensionen zu so unterschiedlichen Schriftstellern wie Hans Henny Jahnn, José Ortega y Gasset, Jorge Luis Borges oder Thomas Bernhard wird Blanchot zum Maßstab dessen, was gute Literatur ist. Dieter Wellershoff greift zudem den Faden des Beckett-Texts im Jahr 1963 wieder auf, wenn er sich in einem weiteren Text über den irischen Autor auf Blanchot bezieht. Zehn Jahre später ist es erneut Wellershoff, der einen Essay über den Gesang der Sirenen mit Blanchot eröffnet.

Die 1970er bringen jedoch die Entdeckung anderer französischer Autor*innen mit sich. Die ersten Studien von Derrida, Foucault und Kristeva kommen im deutschsprachigen Raum an. Im Suhrkamp-Verlag wird 1971 Die Ordnung der Dinge und 1972 Die Schrift und die Differenz publiziert, kurz darauf, 1974, die Grammatologie. Neben Kristevas Studie zur Rolle der Frau in China (Die Chinesin, dt. 1976) waren auch mehrere wichtige Aufsätze von ihr veröffentlicht worden, unter anderem die wegweisende Schrift Bachtin, das Wort, der Dialog und der Roman (dt. 1972). Blanchots Einfluss schwindet derweil. Zwar sind in den 1980er Jahren wieder mehr Nennungen im Merkur zu notieren. Ohne die Begleitung seiner nun berühmteren Kolleg*innen kommt allerdings kaum eine Erwähnung mehr aus. Wenn er nicht gleich – wie in zwei Rezensionen von Texten Foucaults (1982, 1997) – als Gegenstand von diesen Kolleg*innen eingeführt wird, dann wird ihm zumindest einer an die Seite gestellt. So in Christian L. Hart-Nibbrigs Essay zu Nietzsches Lachen (1983): „Krumm ist auch der Weg der bildlichen Gedankenführung, in der sich Bedeutung lavaartig fortschiebt und metaphorisch verschiebt, in der sich Sinn nicht festlegen, sondern letztlich nur – und das hat vor allem Maurice Blanchot und Jacques Derrida an Nietzsche fasziniert – als glissement, als permanentes Überschreiten, als Ausklinken jeder Festlegung von Sinn fassen läßt.“ Oder in einer von Marianne Kesting verfassten Rezension eines Textes von Pierre Klossowski (1988): „Schon der Rowohlt Verlag schickte ihn nicht ohne Rüstung auf den Markt; er gab den Gesetzen der Gastfreundschaft Marginalien bei, ein Heft mit bedeutenden Aufsätzen inzwischen auch bei uns so renommierter Autoren wie Michel Foucault, Gilles Deleuze, Maurice Blanchot, George Bataille u.a.“  Nach seiner Rolle als Referenzautor der zeitgenössischen Literaturdiskurses und als wichtiger französischer Kritiker trat Blanchot nun nur noch im Hintergrund einer Bühne auf, die jetzt anderen gehörte.

Zu eigenen Ehren kommt er erst wieder in den 1990ern. Wolfram Nitsch stellt in einem kurzen Essay mit dem Titel Irrfahrten im Totenreich der Literatur Blanchots Poetik vor. Sein Einfluss auf Derrida wird aber auch hier zum Argument für seine Relevanz. Schriften wie Die Literatur und das Recht auf den Tod könnten „heute als einer der Urtexte dekonstruktiver Literaturtheorie“ (1994, 166) verstanden werden. Nitsch Reflexionen zu Blanchots Poetik sind allerdings an einer Schwelle angesiedelt. Sein Essay ist ein frühes Zeugnis der langsamen Wiederentdeckung Blanchots seit den 1990er Jahren, die, wenn man auf die Übersetzungen von Blanchots Schriften schaut, insbesondere ab 2003, dem Jahr seines Todes, Fahrt aufnahm. In diesen Jahren wird Blanchot im Merkur wieder zum Stichwortgeber – für verschiedene Themen und verschiedenste Autor*innen. Um nur einige zu nennen: Friedrich Balke schreibt mit Blanchot über Medien (2000), Heinz Bude über Totalitarismus (2009), Karin Westerwelle über die Figur des Artisten (2011) und Wolfgang Hagen über Aktualität (2013). Immer passt ein Zitat Blanchots in die eigenen Überlegungen. Natürlich geht es dann auch um die Geschichte der Theorie, so bei Ulrich Raulff (2014). Seinen bisher letzten Auftritt hat Blanchot in einer Literaturkolumne von Eva Geulen im Jahr 2019: Sie outet ihn als Lovecraft-Leser.

Unerwähnt blieb bisher der beständigste Leser Blanchots, der zugleich für die meisten Nennungen seines Namens sorgte. Noch bevor er 1984 die Herausgeberschaft des Merkur antrat, zieht Karl Heinz Bohrer 1978 in einem Auszug aus seiner Habilitationsschrift Die Ästhetik des Schreckens Blanchot als Leser Virginia Woolfs und als Theoretiker des Augenblicks heran. Es folgen sechs weitere Texte (1988, 1998, 1998, 1999, 2010, 2011), unter anderem zur Romantik, ein Nachruf auf Jünger, zur Postmoderne, in denen er sich an der einen oder anderen Stelle auf Blanchot beruft – ganz unabhängig von den Konjunkturen der Theorie.