Generativität. Über ein Desiderat in der Philosophie

»It is hard to speak precisely about mothering. Overwhelmed with greeting card sentiment, we have no realistic language in which to capture the ordinary /extraordinary pleasures and pains of maternal work.« [1. Sara Ruddick, Maternal Thinking. Toward a Politics of Peace. Boston: Beacon Press 1995.]

Meine Arbeit an diesem Aufsatz wurde jäh unterbrochen, als die Pandemie mein Heimbüro um einen Privatkindergarten erweiterte. Die Lage von Eltern weltweit zeigte mir aber umso deutlicher, dass die von der Philosophie bisher kaum beachtete Frage, was Eltern eigentlich tun, aktuell ist. Denn einerseits galten Eltern plötzlich als die stillen Helden der Krise, andererseits wurde mit überraschender Selbstverständlichkeit angenommen, dass berufstätige Eltern im Homeoffice ihre Kinder nebenbei noch betreuen und beschulen können.

(Dieser Text ist im Maiheft 2023, Merkur # 888, erschienen.)

Wer nach Rat suchte, wurde schnell auf technische Mittel verwiesen. Ja, ein Universitätspräsident dachte sogar, Mütter in der Wissenschaft durch das »Tablet in jeder Schultüte« zu entlasten. [1. Christian Thomsen, Die Publikationslücke der Frauen. In: FAZ vom 10. Juni 2020.] Offenbar werden Eltern immer noch als Verwalter ihrer Kinder angesehen. Eltern bewahren ihre Kinder aber nicht auf wie eine Garderobe Kleider. Was ist es, was Eltern eigentlich tun?

Gibt es eine Philosophie der Elternschaft?

Vor einigen Jahren beschrieb die Lyrikerin Dagmara Kraus die Banalität der Mutterschaft: Müttern fehlt es demnach nicht nur an Muße zum Dichten, sondern ihr Leben sei angesichts von Windeln und Rotznasen aller Poesie beraubt. Kein Wunder, dass Mütter schon mal den Tod ihrer Kinder fantasierten. [1. Dagmara Kraus, »… grammatickt mamal aus …«. In: Merkur, Nr. 808, September 2016.]

Ja, es fehlt Müttern – heute auch immer mehr Vätern – an Muße. Kaum ein Beruf fordert so radikal den pausenlosen Einsatz: tags, nachts, tags. Aber fehlt es auch an Poesie? »Il est gracieux«, sagte eine Französin im Vorbeigehen über meinen Sohn. Sie hat Recht. Mit ihm ist meine Welt voller Anmut. Wer mir nicht glaubt, soll Schlegels Lucinde zur Hand nehmen, denn beschreiben kann ich sie nicht. Unweigerlich glitte das Erzählen vom ästhetischen Entzücken am eigenen Kind ins Kitschige ab.

Doch nicht nur die Dichtung ist kinderlos, sondern auch die Philosophie. Obwohl es ihr Wesen ausmacht, auch das scheinbar Selbstverständliche mit Staunen zu betrachten, wurde die Tatsache, dass Menschen andere Menschen zeugen können, in der langen Geschichte der Philosophie so gut wie nie als Wunder oder auch nur als ein erwähnenswertes Thema angesehen. [1. Zumindest Augustinus scheint einen Sinn für das alltägliche Wunder des Lebens zu haben: »Ein Toter ist auferstanden, die Menschen haben sich verwundert; aber so viele werden täglich geboren, und niemand wundert sich. Wenn wir genauer darüber nachdenken, so ist es ein größeres Wunder, daß einer, der nicht war, das Leben empfängt, als daß einer, der gelebt hat, wieder auflebt.« Aurelius Augustinus, Vorträge über das Johannes-Evangelium (Tractatus in Iohannis Euangelium). München: Kösel 1913.] Während Tod und Sterblichkeit von der Antike bis zur Existenzphilosophie im Zentrum philosophischer Überlegungen standen, war der Anfang des menschlichen Lebens kaum je ein Thema.

Die Fruchtbarkeit als Gegenstück zur Sterblichkeit, also die Möglichkeit der Fortpflanzung, und die Frage, was dies für den Einzelnen bedeutet, wurden so gut wie nie reflektiert. Verblüffend ist das philosophische Desinteresse an Elternschaft, wenn man bedenkt, welchen Stellenwert all diejenigen Schaffensprozesse haben, welche die erste, leibliche Geburt überlagern: Angefangen von der »zweiten Geburt« des Menschen durch Bildung und Erziehung, über den Geniekult, der im Künstler den Menschen an sich entdeckt, bis hin zu den gegenwärtigen Versuchen, künstliches Leben, Künstliche Intelligenz oder transhumane Menschen zu erschaffen, kreist das Denken um die Schöpferkraft der Menschen. Warum also gibt es keine Philosophie der Elternschaft?

Naheliegend ist, die Gründe hierfür in den Geschlechterverhältnissen zu suchen: »Sehr wahrscheinlich ist es mir«, schrieb Günther Anders, »daß gewisse philosophische Motive niemals aufgetaucht wären, wenn nicht Männer, sondern Frauen den Faden der Geschichte der Philosophie gesponnen hätten. Fichtes monströser Homunkulus-Gedanke eines ›sich selbst setzenden Ich‹ ist zum Beispiel von einer schwangeren Frau einfach unnachvollziehbar […] Ebenso scheint mir plausibel, daß der Begriff ›Welt‹ anders aussehen würde, wenn er seine Artikulierung durch Wesen erfahren hätte, die andere Wesen ›zur Welt bringen‹ können, also durch Frauen.« [1. Günther Anders, Lieben gestern. Notizen zur Geschichte des Fühlens. München: Beck 1997. Anders weiß, dass er Fichte damit Unrecht tut.]

Allzu naheliegend vielleicht. Anders als die Geburt im engeren Sinne betrifft die Elternschaft schließlich beide Geschlechter. Sicher ließe sich damit argumentieren, dass die maßgeblichen Philosophen nicht nur fast ausschließlich Männer waren, sondern in erstaunlich hoher Zahl kinderlose Männer – von Platon angefangen über das christliche Mittelalter, in dem die Philosophie Angelegenheit des Klerus war, über Descartes, Leibniz oder Kant bis ins 20. Jahrhundert mit Wittgenstein, Sartre oder Foucault.

Die Väter Sokrates, Aristoteles, Rousseau, Hegel, Heidegger oder Derrida sind hier eher Ausnahmen – und ihr Umgang mit den eigenen Kindern ist in einigen Fällen berüchtigt. [1. Ich denke natürlich an Rousseau, der seine fünf Kinder ins Waisenhaus gab, wo sie aller Wahrscheinlichkeit nach starben. Dagegen ist es eine der wenigen sympathischen Anekdoten, die sich über Heidegger erzählen lassen, dass er als »moderner Mann« allein mit seinem Sohn im Zug reiste und ihn zum Erstaunen der übrigen Fahrgäste auch »kunstgerecht« zu versorgen wusste (Martin Heidegger, »Mein liebes Seelchen!« Briefe Martin Heideggers an seine Frau Elfride, 1915–1970. Hrsg. v. Gertrud Heidegger. München: DVA 2005).] Auch viele Philosophinnen haben – aus eigener Entscheidung oder durch die Zeitumstände bedingt – oft keine Kinder bekommen (Elizabeth Anscombe mit ihren sieben Kindern ist eine völlig verblüffende Ausnahme). Dass es eigener Kinder tatsächlich nicht bedarf, zeigen aber die Überlegungen von Philosophinnen wie Hannah Arendt und Simone de Beauvoir, auf die ich später zurückkomme.

Will man wie Günther Anders mit dem Geschlecht argumentieren, dann nicht mit dem faktischen Geschlecht der Philosophen, sondern eher mit ihrer Abgrenzung gegen das »andere« Geschlecht und seine angeblich naturwüchsigen Tätigkeiten. Tatsächlich bestätigen die wenigen Beispiele, in denen sich Philosophen und Philosophinnen scheinbar mit der menschlichen Generativität auseinandersetzen, [1. Ich entlehne diesen Begriff Erik H. Erikson, Identität und Lebenszyklus. Frankfurt: Suhrkamp 1966: »Generativität ist in erster Linie das Interesse an der Erzeugung und Erziehung der nächsten Generation.«] eher die Behauptung, dass Elternschaft in der Philosophie keine Rolle gespielt hat: So nimmt sich Sokrates zwar die Hebammenkunst seiner Mutter zum Vorbild, und Platon lässt ihn im Symposion vom »Zeugen im Schönen« sprechen. Doch weder die bloß assistierende Maieutik des »unfruchtbaren« Sokrates noch die Idee schöpferischer Transzendenz sind Ansätze zu einer Philosophie der Elternschaft, denn sie wenden sich ganz explizit von den leiblichen Geburten der Kinder – durch Frauen – zugunsten der geistigen Schöpferkraft – der Männer – ab. Das »Kind« der »intelligenten Wesen« ist nämlich der logos. [1. W. F. Hegel, System der Sittlichkeit. Hamburg: Meiner 2002.]

Angestoßen durch Hannah Arendts Überlegungen zur Natalität [1. Hannah Arendt, Denktagebuch 1950–1973; Vita activa oder Vom tätigen Leben. Beide 2002 in München bei Piper.] hat sich im ausgehenden 20. Jahrhundert zwar ein Bewusstsein dafür entwickelt, dass die Fortpflanzung des Menschen seit der Antike im Schatten der geistigen Selbsthervorbringung des Subjekts stand und Zeugung, Schwangerschaft und Geburt metaphorisch vereinnahmt und überlagert wurden. [1. Christina Schües, Philosophie des Geborenseins. Freiburg: Alber 2008.] Doch selbst wenn die »Geburtsvergessenheit« bemerkt worden ist, [1. Hans Saner, Die philosophische Bedeutung der Geburt. In: Studia philosophica, Nr. 35/147, 1975.] kann von einem »rastlose[n] Umkreisen der Natalität«, [1. Hans Blumenberg, Höhlenausgänge. Frankfurt: Suhrkamp 1996.] gar von einem »Wechsel des philosophischen Paradigmas« [1. Ludger Lütkehaus, Natalität. Philosophie der Geburt. Kusterdingen: Die Graue Edition 2006.] nicht die Rede sein. Tatsächlich sind Arendts Thesen zur »Gebürtlichkeit« nicht weniger metaphorisch als das Platonische »Zeugen im Schönen«. Mit der durch die leibliche Geburt gestifteten Beziehung zwischen Eltern und Kindern hat die Aufwertung der »Natalität« als Fundament der Politik so gut wie nichts gemein.

Die »Familie« spielt zwar in der Politiktheorie hin und wieder eine Rolle, die philosophische Pädagogik beschäftigt sich seit Locke und Rousseau mit dem Kind als Gegenstand der Erziehung. Die Rechts- und Moralphilosophie widmet sich seit einigen Jahrzehnten der Fortpflanzung aus bioethischer Perspektive und diskutiert die moralischen Pflichten verschiedener Familienmitglieder. [1. Monika Betzler /Barbara Bleisch (Hrsg.), Familiäre Pflichten. Berlin: Suhrkamp 2015.] Doch die existentielle Frage, was es Menschen bedeutet, Eltern werden zu können, mit anderen Worten: Leben zeugen zu können, wird kaum thematisiert.

Selbst dort, wo die existentielle Bedeutung der Elternschaft oder »Generativität« ernst genommen und explizit thematisiert wird, nämlich im Rahmen der feministischen Philosophie, setzt sich die ablehnende Haltung gegenüber Geburt und Mutterschaft häufig fort. Auch wenn es feministische Strömungen wie die Fürsorgeethik gibt, die die Mutter-Kind-Beziehung als Paradigma der Moralität überhaupt ansehen und aus diesem Blickwinkel überaus positiv bewerten, [1. Neben Sara Ruddicks Maternal Thinking vgl. Carol Gilligan, Die andere Stimme: Lebenskonflikte und Moral der Frau. Aus dem Amerikanischen von Brigitte Stein. München: Piper 1984; Nel Noddings, Caring. A Feminine Approach to Ethics & Moral Education. Berkeley: University of California Press 1984.] wurde die Mutterschaft von vielen Seiten als »Kern der Unterdrückung der Frau« angesehen. [1. Shulamith Firestone, Frauenbefreiung und sexuelle Revolution. Übersetzt von Gesine Strempel-Frohner. Frankfurt: Fischer 1976.] Wie problematisch die Mutterschaft in ihrer Bedeutung für die Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung der Frau aus Sicht vieler Feministinnen ist, zeigt nicht nur Simone de Beauvoirs Schrift Das andere Geschlecht. Shulamith Firestone forderte beispielsweise eine kybernetische Revolution, deren erstes Ziel »die Befreiung der Frauen von der Tyrannei der Fortpflanzung durch jedes nur mögliche Mittel« sein müsse. Nur eine technische Auslagerung der »barbarischen« Schwangerschaft könne der Asymmetrie der Geschlechter ein Ende bereiten.

Elternschaft als Naturprozess

Diese Abwertung der Elternschaft innerhalb des philosophischen Diskurses wurzelt in ihrer Deutung als bloßem Naturprozess. [1. Beispiele finden sich bei J. O. Urmson, Saints and Heroes. In: A. I. Melden, Essays in Moral Philosophy. Seattle: University of Washington Press 1958 oder bei Nel Noddings, Caring.] Schwangerschaft, Geburt und Fürsorge für Kinder wurden als »Arbeit« im Arendt’schen Sinn, also als ein zyklischer Prozess verstanden, der die Gattung bloß reproduziert – als bestünde das Leben mit und die Sorge für Kinder in nichts anderem als Füttern, Windelnwechseln und wieder Füttern. Selbst dort, wo Elternschaft philosophisch ernst genommen und en detail diskutiert wird – wie bei Hegel und de Beauvoir –, wird sie den Makel der Natur nicht los, die über ihren inferioren Status entscheidet.

Im Bruch mit der philosophischen Tradition betrachtet Hegel zwar die Familie nicht bloß als Naturgemeinschaft, sondern als selbstbestimmte Lebensform, die als freiheitsverbürgende Institution zugleich notwendiger Bestandteil eines guten Lebens ist. Dabei werden naturgegebene Aspekte des Familien- und Geschlechtsverhältnisses nicht überwunden, sondern angeeignet. [1. Susanne Brauer, Natur und Sittlichkeit. Die Familie in Hegels Rechtsphilosophie. Freiburg: Alber 2007; Eva Bockenheimer, Hegels Familien- und Geschlechtertheorie. Hamburg: Meiner 2013.] Der Fortpflanzung kommt sowohl für das Verhältnis der Eltern zueinander als auch für die Beziehung zum Kind eine subjekttheoretische Bedeutung zu: Im Kind erfahren die Eltern ihre Einheit als objektiviert, ihr Verhältnis zum Kind ist eine »Anschauung [ihrer] selbst in einem fremden«. Obwohl Hegel Elternschaft beziehungsweise die Familie als eine Form intersubjektiv vermittelter Selbstverwirklichung versteht, stellt die familiäre Liebe noch keine vollständige Form der Anerkennung dar, denn Anerkennung ist nur in einem symmetrischen Verhältnis möglich.

Hegels Intuition, dass es sich bei der Elternschaft nicht nur um einen natürlichen Prozess handelt, sondern dass sie die Subjektivität wesentlich berührt, wird von Simone de Beauvoir aufgegriffen – ihrer bürgerlich-romantischen Hülle aber entkleidet. In ihrer phänomenologisch-existenzphilosophischen Studie zur Frau als dem »anderen Geschlecht« erscheint Mutterschaft zwar nicht einfach als biologischer Prozess, sondern als komplexes existentielles Verhältnis zum Kind, zum Vater des Kindes und zu sich selbst.

De Beauvoir betont allerdings den Gegensatz zwischen kreativen und generativen Prozessen, zwischen selbstbestimmtem Schöpfertum und fremdbestimmter Mutterschaft: Einzigartig sei, dass in dem Moment, in dem der weibliche Körper sich transzendiere, er als immanent wahrgenommen werde. Während der Schöpferkraft eines homo faber Selbstbewusstsein innewohne, werde der Körper der Mutter zur reinen Natur, »zum passiven Werkzeug des Lebens«, und sei damit einem Selbstverhältnis als bewusstes und freies Wesen entgegengesetzt. Das Gefühl, Leben zu erschaffen, erweise sich damit als Illusion: Nicht die Mutter erschaffe das Kind, sondern es selbst erschaffe sich in ihr als ein reines factum brutum. [1. Simone de Beauvoir, Das andere Geschlecht. Sitte und Sexus der Frau [1949]. Aus dem Französischen von Uli Aumüller u. Grete Osterwald. Hamburg: Rowohlt 2017.]

Gemeinsam ist diesen ganz unterschiedlichen Perspektiven, dass die Generativität in der Hierarchie der menschlichen Tätigkeiten weit hinter dem künstlerischen oder handwerklichen Herstellen eines Werks, hinter dem ökonomischen, politischen oder sozialen Handeln und – natürlich! – auch hinter allen theoretischen Tätigkeiten rangiert. Insofern in der philosophischen Tradition den »geistigen« Geburten ein Vorrang vor den leiblichen eingeräumt wurde, wurde der geistige Gehalt von leiblichen Geburten und ihrer Fortdauer als familiäres Leben kaum beachtet.

In Wahrheit ist Generativität weder ausschließlich noch primär eine natürliche Tatsache – es sei denn, man hält das Leben und Aufwachsen eines Menschen für das Blühen und Welken einer Pflanze. Für Wesen wie uns, selbstbewusste Wesen, sind all jene natürlichen Bedingungen der Existenz – Sterblichkeit, Verletzlichkeit und eben auch Fruchtbarkeit – nie einfach nur biologische Tatsachen. Wir existieren nicht nur, wir verhalten uns immer zugleich reflexiv zu unserer Existenz. Für Menschen ist die eigene Fortpflanzung also zugleich ein geistiger Prozess, eine durch die (potentielle) Beziehung zum Anderen vermittelte Selbstbeziehung.

Hinzu kommt der erstaunliche Strukturwandel, der das Familienleben in der westlichen Welt in den letzten fünfzig bis sechzig Jahren radikal verändert hat: Das Ineinandergreifen von medizinisch-technischen Innovationen und sozialem und rechtlichem Fortschritt hat die Vorstellungen von und die Rahmenbedingen der Elternschaft tiefgreifend und dauerhaft verändert. Elternschaft ist nicht mehr wie eine Krankheit, die uns befällt, oder wie die Sterblichkeit, der wir nicht entfliehen können. Menschen bekommen nicht mehr einfach Kinder, sondern sie verhalten sich zu der Tatsache, dass sie welche bekommen könnten: Ob die eigene Fruchtbarkeit als Fluch oder Segen aufgefasst wird, ob die Zeugung mit allen Mitteln verhindert, resigniert in Kauf genommen oder herbeigesehnt wird, stets steht dahinter eine willentliche Einstellung, die einiges über die individuelle, aber auch die kollektive Auffassung darüber verrät, worin ein gutes Leben besteht.

Generativität oder Kreativität

Auch wenn der Kinderwunsch in hochentwickelten Ländern zunehmend planbar ist und vor diesem Hintergrund vor allem durch Glückserwartung motiviert sein dürfte, weiß keiner, ob die Beziehung zum Kind gelingen wird. Elternschaft bleibt deswegen immer, wie Dieter Thomä treffend formuliert, eine »riskante Lebensform«, [1. Dieter Thomä, Eltern. Kleine Philosophie einer riskanten Lebensform. München: Beck 1992.] ein Wagnis, ein Sprung ins Ungewisse. Vielleicht hat Hegel vor diesem Hintergrund behauptet, es sei rationaler, ein Werkzeug zu machen als Kinder. Das Leben mit Kindern entzieht sich der Planung und Kontrolle.

Zeugung und Geburt sind seit jeher Metaphern für schöpferische Prozesse gewesen, [1. Ulrich Pfisterer, Kunst-Geburten. Kreativität, Erotik, Körper. Berlin: Wagenbach 2014.] die auf sie selbst zurückwirken. Eltern erscheinen dann selbst als Künstler, die ihre Kinder hervorbringen wie Werke. Bequem ist diese Annahme, weil sie die rein aufs Mutterdasein beschränkte Existenz der Frauen rechtfertigt: »Während Frauen seit jeher zum Zurweltbringen von Kindern Zuflucht nehmen konnten, um eine Antwort auf die difficulté d’être zu finden, ist das männliche Bewußtsein vom Zwang, selbst zur Welt zu kommen, gezeichnet«. [1. Peter Sloterdijk, Zur Welt kommen – Zur Sprache kommen. Frankfurter Vorlesungen. Frankfurt: Suhrkamp 1988.]

Diese Behauptung idealisiert nicht nur die Mutter-Kind-Beziehung, sondern ist vor allem eine kategoriale Verwechslung von Schöpfung und Zeugung, von Kreativität und Generativität. Denn es macht ja gerade die Besonderheit der Beziehung aus, dass Eltern zwar Urheber der Existenz ihrer Kinder sind, sie aber weder über deren Wesen noch über den Verlauf des gemeinsamen Lebens wie ein Schöpfergott verfügen können. Eltern setzen durch ihr Handeln Prozesse in Gang, die sie weder vorhersehen noch nachträglich kontrollieren können. Sie wissen nicht, wen sie zeugen und für wen sie einmal – in Hans Jonas’ Worten – total verantwortlich sein werden.

Homo faber bringt mit jedem Werk auch sich selbst zum Ausdruck. Kinder sind zwar wahrhaftig das Eigenste, was ein Paar aus sich »machen« kann; sie sind aber zugleich völlig eigenständige, unabhängige Personen. Das Sein im Anderen, die Identifikation und Spiegelung im Kind, muss sich davor hüten, zur Projektion eigener Ziele zu werden. Elternschaft erfordert deswegen eine fast grenzenlose Bereitschaft zur Bindung, zugleich aber, die Autonomie des Kindes zu respektieren und es sein zu lassen, wie es ist. Wer Kinder hat, erschafft nicht, er wird erschaffen.

Auch wenn de Beauvoir diesen Unterschied zwischen Kreativität und Generativität zu Recht betont, ist ihre eigene Unterscheidung zwischen immanenten und transzendenten Tätigkeiten kaum weniger problematisch, denn Elternschaft verlangt Selbsttranszendenz in radikalem Sinn, eine Öffnung für die Individualität und Alterität des Anderen, und die Bereitschaft, auf den Appell dieses Wesens zu antworten. Will man verstehen, was Eltern eigentlich machen, ist es sinnvoller, an Hannah Arendts dreifache Unterscheidung der menschlichen Tätigkeiten in Arbeiten, Herstellen und Handeln anzuknüpfen: Zweifellos ist Elternschaft Arbeit. Sie umfasst eine Reihe von repetitiven und monotonen Tätigkeiten, die dem Erhalt des »nackten Lebens« dienen – Stillen und Füttern, Windelnwechseln und Waschen, Schlafenlegen und Wecken. Als Erziehung ist Elternschaft auch poesis, der Versuch, Menschen nach einem Zweck zu formen. Doch die Erziehung, die nach Sokrates’ kluger Einsicht nicht der Illusion verfallen darf, sie wisse, was der Zweck des Menschen ist, [1. Platon, Apologie des Sokrates. Stuttgart: Reclam 1987.] sollte nicht an die Stelle der Beziehung treten. So ist der Kern der Elternschaft ein ganz anderer, nämlich Handeln in Beziehung. Eltern stehen idealerweise Tag und Nacht in Beziehung zu ihren Kindern. Sie sind ihr Filter, ihr Schutzschild und ihre Inspirationsquelle, sie regulieren ihre noch instabilen Emotionen, Affekte und Bedürfnisse. Was das konkret bedeutet, hat die Entwicklungspsychologie, insbesondere die Bindungsforschung empirisch erforscht.

Von philosophischer Seite hat es niemand besser beschrieben als die Care-Ethik, wenn sie die Fürsorgebeziehung als durch Präsenz, Empfänglichkeit und Responsivität gekennzeichnet sieht. Die fürsorgende Person öffnet sich für ihren Schützling, versucht seine Bedürfnisse zu erspüren und ist bereit, auf seinen Appell zu antworten. [1. Nel Noddings, Starting at Home. Caring and Social Policy. Berkeley: University of California Press 2002; Eva Feder Kittay, Love’s Labor. Essays on Women, Equality and Dependency. New York: Routledge 1999. Vgl. auch Joan C. Tronto, Moral Boundaries. A Political Argument for an Ethic of Care. New York: Routledge 1993.] Das »transparente« Selbst in solchen asymmetrischen Verhältnissen verwandelt sich in der Begegnung mit der anderen, abhängigen Person, indem es sich für deren Bedürfnisse durchlässig macht. Ethisch gesprochen ist es also die Aufgabe der Eltern, Menschen, die sie nicht entworfen haben und deren Eigenschaften sie nicht verändern können, in ihrer ganzen Schutzlosigkeit willkommen zu heißen, bei sich aufzunehmen und so liebend zu akzeptieren, wie sie sind. Denn Menschen, ausgestattet mit »unerträglicher Einmaligkeit« (Arendt), sind darauf angewiesen, von Anderen in ihrem kontingenten Sosein bestätigt und bejaht zu werden.

Diese ungeheure ethische Aufgabe wurde über der Selbstverständlichkeit der Elternschaft, ihrer scheinbaren Natürlichkeit, die zu ihrer Ausschließung aus dem moralisch-politischen Bereich führte, [1. Susan Moller Okin, Justice, Gender, and the Family. New York: Basic Books 1989.] lange nicht gesehen. Wenn Philosophie, nach dem schönen Hegel’schen Wort, aber »ihre Zeit in Gedanken erfaßt« ist, dürfen sich die Söhne und Töchter der Zeit nicht von den Alltagsphänomenen abwenden und im Namen einer missverstandenen Geistigkeit die Lebenswelt vieler Menschen übergehen. Jenseits von romantischer Idealisierung und pauschalem Ideologieverdacht gilt es, das Verhältnis zwischen den Generationen und die Generativität als solche philosophisch zu entdecken.