„Zeitenwende“ und Wissenschaftspolitik

In der Semantik der Gegenwart ist in der letzten Zeit die Konjunktur zweier Begriffe beobachtbar, die im Zentrum der folgenden Überlegungen stehen sollen: Zerknirschung und Zeitenwende. Beide Begriffe beschreiben die Hoffnung auf Wandel, und, wie im Falle von Zeitenwende, die Hoffnung auf andere Zeiten, die erst einmal nur anders sind. Neben diesen eher auf Zukunft ausgerichteten Bedeutungselementen reflektieren beide Terme den Bruch mit der Vergangenheit. Im Falle der Zerknirschung wird die Vergangenheit als fehlerhaft, geradezu als sündhaft empfunden, im Falle der Zeitenwende wird der Augenblick, ein Moment intensivster Gegenwart, zum Bruch mit der Vergangenheit und zum Aufbruch in eine andere Zukunft. Beide Begriffe beschreiben unserer Lage, sie verändern aber die wissenschaftspolitische und wissenschaftsdiplomatische Tektonik.

Bundeskanzler Scholz hatte in seiner, wie man schon heute nicht müde wird zu betonen, ‚historischen‘ Rede am 27.02.2022 im Bundestag die sogenannte „Zeitenwende“ in den Mittelpunkt seiner Rede gestellt. Es ist indes nicht davon auszugehen, dass im Bundeskanzleramt Lesekreise zu finden sind, in denen regelmäßig die Schriften Reinhart Kosellecks oder Friedrich Hölderlins gelesen werden. Aber doch lässt die Verwendung des Ausdrucks „Zeitenwende“ im politischen Diskurs durch den Bundeskanzler und andere den Imperativ der Gegenwart deutlich werden. Dieser Imperativ der Gegenwart ist der Imperativ der Moderne. Denn der Zeitenwende folgt die neue Zeit, so dass die Gegenwart, der gegenwärtige Augenblick, zum Umschlagpunkt wird.

So kann man sagen, dass die Erwartungen, die an die Zukunft nach der Zeitenwende gerichtet werden, nichts oder nur wenig mit den Erfahrungen zu tun haben, die vor der Zeitenwende gemacht worden sind. Der Umbruch, der durch den Zeitenwende eingeläutet werden soll, lässt sich mit Hölderlins Text „Das untergehende Vaterland“ (auch bekannt als „Das Werden im Vergehen“, vermutlich aus dem Jahre 1799) von als „immerwährendschöpferisch“ beschreiben. Auf den Trümmern der alten Ordnung, erhebt sich, so heißt es bei Hölderlin, „eine neue Welt“. Die Semantiken der Selbstbeschreibung erodieren. „Wandel durch Handel“ oder „Wandel durch Austausch“ funktionieren nicht mehr.

Die ‚neue Welt‘ zeichnet sich durch die Fülle ihrer geschichtlichen Möglichkeiten aus. „Dieser Untergang oder Übergang des Vaterlandes“, analysiert Hölderlin, „fühlt sich in den Gliedern der bestehenden Welt so, daß in eben dem Momente oder Grade, worinn sich das Bestehende auflöst, auch das Neueintretende, Jugendliche, Mögliche sich fühlt. Denn wie könnte die Auflösung empfunden werden ohne Vereinigung, wenn also das Bestehende in seiner Auflösung empfunden werden soll und empfunden wird, so muß dabei das Unerschöpfte und Unerschöpfliche der Beziehungen und Kräfte“, das aus der Auflösung entsteht, akzentuiert und in den Blick genommen werden. Der „Schmerz der Auflösung“ und die „Furcht“ vor dem Unbestimmten der Zukunft machen Hoffnung auf das Bessere schwierig. Hölderlin setzt, ganz im Gegensatz zur SPD, auf die Kraft der Erinnerung an den Augenblick des Umbruchs, auf die Erfahrung der Zeitenwende. Die „Lüke“, die der Augenblick lässt, ist der Moment der Erkenntnis. Erst in der Rückwendung auf das Vergangene und sein Vergehen im Moment der Zeitenwende, der der Untergang ist, wird Erinnerung das, was Zukunft herstellt und nicht mehr die Vergangenheit anbetet. Die Unbestimmtheit des Möglichen wird so evident und ist damit der Horizont der Zukunft. Die Zeitenwende der Politik, deren Schnelligkeit Beobachter verwundert, ist ein krisenhafter Umbruch. Dieser Umbruch, die Negation des Gewesenen, ist, wie es in Hölderlins „Anmerkungen zur Antigonä“ heißt, „vom reißenden Zeitgeist“ in „Rapidität“ versetzt worden. „Zerstörungsfroh“ folgt die SPD der „reißenden Zeit“. Ein Bruch auch mit der eigenen Tradition, der der SPD womöglich gar nicht klar ist. Im berühmten Lied „Wenn wir schreiten Seit‘ an Seit‘“, das die Mitglieder der SPD gerne auf Parteitagen und zum 1. Mai singen, heißt es bekanntlich: „Mit uns zieht die neue Zeit“. Die SPD wähnte sich mit der Zeit, jetzt folgt sie ihr nur. Die SPD ist auch in ihrem Verhältnis zur Zeit in der Krise.

Was könnte die ‚Zeitenwende‘ für die Innenwissenschaftspolitik und die Außenwissenschaftspolitik bedeuten? Das ist die Frage. Zunächst muss man davon ausgehen, dass es zu Verschiebungen innerhalb des Budgets der Organisationen kommt. Die Prioritätensetzung unter der Chefin des Auswärtigen Amtes, Annalena Baerbock, wird zu einer veränderten Außenwissenschaftspolitik führen. Wie genau, weiß man derzeit noch nicht. Auf der anderen Seite muss sich die Außenwissenschaftspolitik, so darf man vermuten, auch inhaltlich neu orientieren und sich nicht als Fortsetzung der Vergangenheit, sondern als deren Negation verstehen. Umzugehen sein wird fortan mit einer verstärkten Nationalisierung der Entwicklung von Hochschulsystemen; was insbesondere für die ehemaligen Republiken der Sowjetunion, zu denen Russland und die Ukraine gehören, gilt.

Als ich 2016 zum ersten Male auf Einladung einer politischen Stiftung in Kiew war, war die grundsätzliche Projektidee, die Entwicklung von Hochschulsystemen, in deren Zentrum der Bologna-Prozess stand, in Osteuropa zu regionalisieren und in zivilgesellschaftliche Entwicklungen einzubetten. Wissenschafts- und Hochschulsysteme lassen sich nicht isoliert entwickeln. Sie sind immer Teil einer Geschichte und einer Gesellschaft, die sich unbedingt als ‚Zivilgesellschaft‘ verstehen muss. Ziel war, ganz im Zeichen der Prämisse, aus der Vergangenheit Schlüsse zu ziehen, eine regionale Bolognaidentität zu entwickeln, in der die baltischen Staaten, die Republik Belarus, Russland und die Ukraine gemeinsam an einen Tisch geholt werden. Ihr Gemeinsames war die sowjetische Vergangenheit, die so offensichtlich präsent war in den Institutionen, dass man sie nicht ignorieren konnte.

In Absprache mit dem Auswärtigen Amt und in Übereinstimmung mit dem Programm der europäischen Außenpolitik „Östliche Partnerschaft“ ist versucht worden, einen Prozess zu initiieren, der versucht, aus der gemeinsamen sowjetischen Vergangenheit Möglichkeiten für die Zukunft zu schaffen. Viele an ost- und mitteleuropäischen Universitäten begreifen Reformen als Ausverkauf des kulturellen Erbes und der Tradition, in der die Universitäten stehen. Man muss diese Tradition und dieses Erbe nicht unbedingt bejahen. Es steht westlichen Beobachtern aber nicht zu, die Trauer über die Verluste als Reformwiderstand abzuqualifizieren.

Das Bekenntnis zur gemeinsamen Vergangenheit hätte aber, insbesondere für die baltischen und ukrainischen Vertreter, bedeutet, die sowjetische Vergangenheit in ihr Selbstbild und das ihrer Institutionen zu integrieren. Leider war das Vergessen-Wollen und die nationale Identität, die sich als Abgrenzung von der Sowjetgeschichte versteht, stärker. Die offene Zukunft nach der Zeitenwende wird zeigen, inwieweit es der deutschen Außenwissenschaftspolitik gelingt, ihre Regionalkompetenzen zu bündeln und einem nachhaltigen Wiederaufbau von Vertrauen und Kooperationsbereitschaft zu dienen. Auch mit Russland wird man sich wieder an den Tisch setzen müssen, so unvorstellbar dies auch im Moment zu sein scheint. Politik, auch die Außenwissenschaftspolitik, hat es aber mit der Vorbereitung von Zukunft zu tun, nicht mit deren Verhinderung und dem Befolgen des Imperativs der Gegenwart.

Die durch die Semantik der ‚Zeitenwende‘ ausgelöste Lage der Wissenschaftspolitik lässt sich am ehesten mit ‚Zerknirschung‘ beschreiben. Zerknirschung ist die Vorbedingung des Geständnisses und Bekenntnisses im Beichtritual. George Duby hat Zerknirschung folgendermaßen beschrieben: „Der reuige Sünder reinigte sich vom Makel seiner Sünde durch Zerknirschung, durch den Wunsch nach Erneuerung, durch die Arbeit an sich selbst.“ Offensichtlich ist Frank-Walter Steinmeier der Erwartung der Öffentlichkeit nach einer Zerknirschung seines sozialdemokratischen und außenpolitischen Herzens entgegengekommen. Er hat sich zu seiner verfehlten Russlandpolitik öffentlich bekannt, aber als Protestant eben keine Absolution erhalten. Um das Verfahren der Zerknirschung zu verstehen, muss man einen kleinen Ausflug in die Theologie machen oder wagen. Für das Verfahren der Negation ehemaliger Absichten hat die Theologie der Beichte den Term ‚contritio cordis‘ eingeführt. Diese „Zerknirschung der Herzens“ ist die notwendige Bedingung für das Sündenbekenntnis. Verlangt wird, dass in der immer wieder zu erlangenden Bewusstseins der Schändlichkeit vergangener Taten und Politiken ein Schmerz darüber offenbar wird, überhaupt solche Absichten gehabt zu haben, zum Beispiel auf Annäherung oder auf das Bauen von Brücken, auf eine gemeinsame Zukunft West- und Osteuropas. Zerknirscht ist man in mancher Community darüber, dass die Osteuropahistoriker zu viel über die Geschichte Russlands gelehrt und geforscht haben, aber zu wenig die Geschichte der ehemaligen Sowjetrepubliken. Zerknirscht ist man nunmehr über die einseitige russozentrische Ausrichtung der Slavistik und die literatur- und sprachwissenschaftliche Marginalisierung des Ukrainischen und Belorussischen.

In einem Grundsatzpapier aus dem Jahr 2018 formuliert das Außenministerium unter der Ägide von Heiko Maas, dass die „internationale Zusammenarbeit Kanäle und Zugänge dort offenhält, wo Wissenschaftsfreiheit in Bedrängnis ist und die hochschul- und forschungspolitischen Rahmenbedingungen schwierig sind. Sie eröffnen vorpolitische Freiräume für Dialog und Zusammenarbeit.“ Genau diese Ausrichtung auf Zukunft und auf vorpolitische ‚Freiräume“ ist nun vorbei. Das ‚Offenhalten‘ wird jetzt gestoppt. Die Türen sind zu, auch die zu den ‚vorpolitischen‘ Räumen, in den Vertrauen zueinander entwickelt wird. Das hört sich gut an. Aber wie ist die Praxis? Werden jetzt die Humboldt-Stipendiaten, die aus dem Iran, Saudi-Arabien und anderen Ländern nach Deutschland kommen, einer Befragung und Überprüfung unterzogen? Wie gehen wir mit Leuten aus den genannten und hiesigen Ländern um, die, von Steuergeldern bezahlt, sich noch im Jahre 2022 weigern, mit israelischen Kollegen zusammenzuarbeiten? Hier von Wandel zu sprechen, der als Ergebnis des Austauschs erwünscht wird, erübrigt sich anhand von antisemitischen, misogynischen und islamistischen Haltungen. Wenn nun russische Kollegen gecancelt werden, weil sie Russen sind oder Putin gut finden, dann sollten die Universitäten und die Institutionen der Internationalisierung auch bei anderen Profiteuren diktatorischer Regimes, die sich in Instituten und Fakultäten tummeln, einmal ganz genau nachfragen.

Es zeigt sich einmal mehr eine grundsätzliche Problematik: Freiheit der Wissenschaft bedeutet nun einmal auch Freiheit von den Zumutungen der Moral, der Politik und der Religion. Die positive Freiheit ist notwendige Bedingung einer Freiheit des Fragens, die ihre Grenzen kennt. Aber diese Freiheit des Fragens ist in vielen Ländern eingeschränkt. Mit dem Canceln von russischer Kultur und Wissenschaft reagiert die Wissenschaftsdiplomatie auf den Imperativ der Gegenwart. Es ist die Fortsetzung der Sanktionspolitik mit anderen Mitteln. Will die Außenwissenschaftspolitik aber glaubwürdig bleiben, muss sie bald sagen, wie es weitergehen soll. Auch Außenwissenschaftspolitik ist Arbeit an der Zukunft.