Das komplexere Spiel

Bei der jüngsten Rugby-Weltmeisterschaft in Großbritannien, im Herbst 2015, auf dem Rasen des St James Park, dem Heimstadion des Fußballvereins Newcastle United, hat sich der Schiedsrichter Nigel Owens, einer der angesehensten Referees weltweit, über einen Spieler der schottischen Nationalmannschaft lustig gemacht. Der Star im Team, der wohl beste Spieler des Turniers auf seiner Position, der 15 (full back auf Englisch, arrière auf Französisch), musste sich anhören, wie ihn der walisische Unparteiische wegen unsportlichen Verhaltens schalt: „There was nothing wrong with the tackle. If you want to dive like that again, come back here in two weeks and play, not today. Watch it.“ Alle TV-Zuschauer bekamen mit, wie Hoggs Schwalben-Versuch von Owens als Fußballer-Unart bespöttelt wurde – zwei Wochen nach dem Spiel sollte im St James Park der normale Ligabetrieb wiederaufgenommen werden – und lachten mit. Denn beim Rugby hört man zu Hause vor seinem Fernseher so ziemlich alles mit, was der Schiri auf dem Platz sagt.

Dabei redet ein Rugby-Schiedsrichter nicht mit jedem. Wie im Fußball wird jede Mannschaft von einem Kapitän aufs Spielfeld geführt. Dieser „Spielführer“ trägt zwar keine Binde am Oberarm, spielt aber eine ungemein wichtige Rolle. Nicht nur, dass er seinen Mitspielern mit gutem Beispiel vorangehen soll und überdurchschnittliche Leistungen von ihm erwartet werden, sondern er steht auch in besonderer Beziehung zum Referee. Als einziger Spieler darf er ihn von sich aus ansprechen. Und wenn der Schiedsrichter während des Spiels mit dem Verhalten eines oder beider Teams unzufrieden ist, ruft er die Kapitäne zu sich, erklärt ihnen, was ihm missfällt, welche Strafen drohen, und schickt sie dann zu ihren Mannschaften zurück mit Worten, die stark ans Militär erinnern: „Allez parler à vos hommes. Dites-leur de se discipliner.“, „Talk to your men. I want no more of that.“

Auch wenn der Referee mit einem anderen Spieler als dem Kapitän spricht, wie im Falle Hogg, wendet er sich immer zuerst an den Kapitän – hier Greg Laidlaw –, und nicht selten wird der „Sünder“ in Anwesenheit des Kapitäns in der dritten Person adressiert. Sollte der Schiri eine gelbe – zehn Minuten Auszeit – oder gar eine rote – endgültiger Platzverweis – Karte zücken, wird diese Entscheidung systematisch begründet – wiederholtes Foulspiel, gefährliches Tackling, Schlag mit der geballten Faust zum Beispiel –, wogegen der Kapitän der Form wegen protestiert, wohl wissend, dass es keinen Zweck hat. Dann entfernt sich der bestrafte Spieler im Trab Richtung Ersatzbank. Sein Frust kommt meistens in einem enttäuschten Kopfschütteln zum Ausdruck. Zu Rudelbildungen wie im Fußball nach einem Elfmeterpfiff oder einem wegen Abseits aberkannten Tor kommt es im Rugby niemals. Jedes Mal, wenn ich mit Uneingeweihten Spiele geschaut habe, nahmen sie erstaunt und belustigt zur Kenntnis, wie sich zentnerschwere Muskelberge – im Zuge der Professionalisierung des Sports seit Mitte der Neunziger gibt es immer mehr Spieler, vor allem auf den kampfbetonten Positionen 4 bis 8 (second and third rows, deuxième et troisième ligne), die schon mit Anfang Zwanzig 130 Kilo auf die Waage bringen und um die zwei Meter in die Höhe ragen – von einem Normalsterblichen im bunten Poloshirt zurechtweisen lassen. Oft macht es den Eindruck, als würde ein Siebtklässler einer Handvoll durchtrainierten Abiturienten zeigen, wo der Hammer hängt – und sie hören auf ihn.

Kommentatoren von Fußballspielen pflegen den Schiedsrichter zur Abwechslung auch mal Spielleiter zu nennen. Das ist dann ein bloßes Austauschen von Synonymen, um der Vielfalt des Wortschatzes willen. Der Rugby-Schiedsrichter hätte eine solche Bezeichnung viel eher verdient. Anders als sein Kollege beim Spiel mit dem runden Ball leitet er tatsächlich das Geschehen auf dem Platz, bestimmt das Tempo, gibt ganz konkrete Anweisungen, wie sich einzelne Spieler in bestimmten Situationen verhalten sollen, und nimmt bewusst Einfluss auf die Spielweise. Ein grundlegender Unterschied zum Fußball und den meisten übrigen Ballsportarten ist, dass der Schiedsrichter nicht nur bei Spielunterbrechungen, wenn der Ball ruht, sondern während des Spiels zu den Spielern spricht und ihnen praktisch Befehle erteilt: „Hands off!“, „Step back!“, „Release!“, „Use it [the ball]!“… Beiden Sportarten aber ist gemeinsam – und im Prinzip trifft das auf alle Sportarten zu –, dass der Schiedsrichter als Garant der Einhaltung der Spielregeln auftritt. Doch im Rugby ist sein Deutungsspielraum um ein Vielfaches größer. Das Regelwerk des Rugbyspiels ist nämlich deutlich komplexer als die siebzehn Laws of the Game der FIFA – und unterliegt zudem häufigen (wenn auch leichten) Änderungen . Nicht selten wurde die These aufgestellt, der Siegeszug des Fußballspiels als Weltsport beruhe auf seiner Einfachheit. Dieser Standpunkt kann von dem Gegenbeispiel Rugby aus gesehen nur bestätigt werden.

Der Sport wird nur in einem Dutzend Ländern auf professionellem Niveau praktiziert: Commonwealth-Mitgliedsnationen wie Neuseeland (the All Blacks, die Mannschaft schlechthin), Südafrika, Australien (wobei die Konkurrenz von verwandten Sportarten den Rugby-Verband vor eine ständige Herausforderung stellt) – merkwürdigerweise diejenigen, die nicht im Cricket glänzen –, Frankreich, die britischen Inseln (Wales, Schottland und England getrennt, Irland ausnahmsweise einschließlich Nordirland), Japan, neuerdings Argentinien, und das ist, abgesehen von Pazifischen Inselnationen wie den Samoa oder Fidschi fast schon alles. Zu allem Überfluss werden die Regeln in den Nord- und Süd-Hemisphären unterschiedlich ausgelegt, teils lauten sie auch anders. Trotzdem finden seit der ersten Austragung 1987 alle vier Jahre Weltmeisterschaften statt. Den Weltmeistertitel haben allerdings erst vier Nationen geholt: Neuseeland (1987, 2011 und 2015), Australien (1991 und 1999), Südafrika (1995 und 2007) und England (2003). Während im Fußball außer bei Handspiel und harten Zweikämpfen die Anzahl der heiklen, weil nicht eindeutigen Spielsituationen überschaubar bleibt, ergeben sich im Rugby aus nahezu jedem Spielzug eine Fülle an Problemen für den Schiedsrichter. Um es auf den Punkt zu bringen: Die Regeln sind derart kompliziert, dass ein Referee öfter ein Auge zudrücken muss, wenn das Spiel einigermaßen flüssig verlaufen soll, denn er hätte im Prinzip fast immer einen Grund zum Pfeifen.

Obwohl der bei unerfahrenen Zuschauern entstehende Eindruck meist der einer brutalen Rauferei ist (vgl. Asterix bei den Briten), war Rugby immer ein sehr ordentlicher Sport und wurde historisch von eher ordnungsliebenden Menschen bzw. Gesellschaftsschichten gepflegt. In Großbritannien gilt Rugby im Vergleich zum Proletenhobby Fußball als Elitesport, als Ertüchtigung für die angehende upper class – Ex-Premierminister Gordon Brown verlor ein Auge beim Universitätssport in Edinburgh. In Frankreich war Rugby lange Zeit eine Hochburg der Kleinstadt-Honoratioren im von der Parti radical dominierten Südwesten. In Südafrika blieb Rugby bis Ende des 20. Jahrhunderts eine Angelegenheit der weißen Afrikaners – bis heute ist die Frage des Anteils von schwarzen Spielern bei den „Springboks“ (so wird die Nationalmannschaft genannt) ein brisantes Thema. Auch in Argentinien stammen die Rugbyspieler meist aus denselben Familien, in denen auch Polo gespielt wird. Das einzige Land der Welt, wo Rugby wirklich zum Volkssport wurde, ist Neuseeland. Die Ordnungsliebe bei Rugby-Menschen zeigt sich noch an einem anderen vielsagenden Detail. Jeder Position auf dem Platz und innerhalb der Mannschaft entspricht eine bestimmte Nummer. Lange Zeit war das auch im Fußball so, bevor der unaufhaltsame Durchmarsch der Individualisierung das überlieferte Schema zerbrach und die Spieler ihre Lieblingsnummer für sich in Anspruch nehmen durften. Rugby-Trikots tragen nur selten Spielernamen, in den allermeisten Fällen nur Nummern, besonders bei internationalen Wettbewerben.

Aber zurück zum Mann mit der Pfeife. Natürlich wird auch im Rugby über den Schiri hergezogen. Verärgerte Trainer schimpfen an der Seitenlinie, Fans fühlen sich benachteiligt, und natürlich unterstellt man dem Schiedsrichter, dass er einseitig pfeift (immer für die Heimmannschaft, immer für die Engländer, immer für den großen Verein usw.). Langgediente Rugby-Liebhaber beklagen übrigens immer öfter einen angeblichen Prozess der Angleichung an das Fußball-Geschäft mit all seinen Untugenden. Erst vor ein paar Wochen kam es in der französischen Liga – zurzeit die reichste, in der die saftigsten Löhne gezahlt werden – zu einem Vorfall, der als Symptom eines tieferen Übels gedeutet wurde. Silvère Tian von US Oyonnax, mit 35 eher ein alter Haudegen als ein hitzköpfiger Jungspund, verlor im Spiel gegen den FC Grenoble die Nerven und ließ, nachdem er die gelbrote Karte gezeigt bekam, seinem Frust freien Lauf. Schiedsrichter Romain Poite, der auch auf internationaler Ebene tätig ist, wurde von ihm angemotzt und bedroht. Wieder hörten alle mit. Tians Gebaren wurde einstimmig verurteilt: An ihm sollte ein Exempel statuiert werden, um zu verhindern, dass Rugby auf das Niveau des Fußballs sinkt. Tian wurde für 15 Monate suspendiert, und sein Verein zu einer Geldstrafe verurteilt. Der Spieler hat Berufung eingelegt, doch die Sache gilt als zufriedenstellend erledigt. Trotzdem wird in der Sportpresse immer häufiger von scharfer Kritik an der Kompetenz der Schiedsrichter berichtet, vor allem seitens der Trainerstäbe und Vereinsbosse. Etliche Trainer wurden schon wegen Beleidigungen für längere Zeit auf die Tribüne verbannt.

Es steht Geld auf dem Spiel. Großes Geld. Die Vereine rüsten auf (teure Spieler, erweiterte Kader, hochmoderne Trainingsanlagen), locken Sponsoren, peilen hohe Ziele an. Und der Leistungsdruck wächst entsprechend. Auch Trainerwechsel mitten in einer laufenden Saison sind inzwischen keine Seltenheit mehr. Die meisten Spieler in der ersten französischen Liga sind Profis, die als solche ausgebildet wurden. Auch zahlreiche Trainer können sich nur noch dunkel an die Zeiten vor 1995 erinnern, als die Statuten des International Board Rugby ausdrücklich im Amateursport verorteten. Ihr Verhältnis zu den sehr oft noch nebenberuflich arbeitenden Unparteiischen gerät zunehmend in eine Schieflage, weil viele Spieler und Trainer mit den Regeln und ihrer Auslegung vertrauter sind als die Referees. Oder dies zumindest glauben.

Lustig ist nur, dass die Schiedsrichter im Amateur-Fußball genau das Gegenteil beklagen. Sie sehen den Grund dafür, dass die Spieler ihre Entscheidungen lauthals kritisieren und auch mal handgreiflich werden, darin, dass jene die Regeln nicht gut genug kennen…