Zuhause in der Welt. Zu Amartya Sens Erinnerungen

Im Alter von vierzig Jahren gründete der Schriftsteller Rabindranath Tagore in einem ländlichen Teil des heutigen indischen Bundesstaats Westbengalen, etwa 150 Kilometer nördlich von Kalkutta, eine kleine Schule und gab ihr den Namen Shantiniketan – Heimstatt des Friedens. Das war im Jahr 1901. Zwanzig Jahre später rief er gleich daneben eine Universität ins Leben und gab ihr den Namen Visva-Bharati – eine Verbindung der beiden Sanskrit-Wörter für Welt und Weisheit. Das Motto: »Wo die ganze Welt in einem Nest zusammenkommt«.

(Dieser Text ist im Märzheft 2023, Merkur # 885, erschienen.)

Die pädagogische Ausrichtung dieser Einrichtungen war ein großes Experiment. Jungen und Mädchen wurden zusammen unterrichtet. Es gab anders als in den meisten Schulen keine körperliche Züchtigung und sowieso wenige Disziplinarmaßnahmen. Der Unterricht fand bei gutem Wetter stets im Freien unter Bäumen statt. Schöne Künste, Musik, Sport und Theater standen hoch im Kurs, auf Prüfungen und Zeugnisse gab man allgemein nicht viel. In den Pausen saßen die Lehrerinnen und Lehrer mit den Schülern beisammen und redeten über Gott und die Welt. Vorrangiges Ziel war es, die Fantasie und die Freiheit des Denkens der Schüler und Schülerinnen zu fördern und ihnen eine Vorstellung von der großen geistigen und kulturellen Vielfalt auf der Erde (und dem indischen Subkontinent) zu vermitteln. Zu diesem Zweck war der Lehrplan sehr breit gefächert und umfasste die indische Geschichte, Kunst und Literatur genauso wie die Kulturen des Westens, Afrikas, Lateinamerikas und anderer Teile Asiens.

In Tagores Vision spiegelte sich seine Unzufriedenheit mit dem konventionellen Schulsystem ebenso wider wie seine kosmopolitische Erziehung. Er selbst war nie lange auf einer Schule geblieben, weder in Indien noch in England, wohin er als Jugendlicher kam. In Brighton brach er die für ihn ausgewählte öffentliche Schule bald ab; in London verbrachte er als Student nur einige Monate am University College; am Presidency College in Kalkutta hielt er es sogar nur einen Tag aus. Seine Kenntnisse in Sanskrit, Englisch, Musik, Philosophie und anderen Fächern vertiefte er hauptsächlich mithilfe von Privatlehrern und seinen talentierten älteren Geschwistern, von denen manche vielbeachtete bengalische Autoren, Komponisten, Aktivisten und Intellektuelle waren.

In den Genuss einer solchen maßgeschneiderten, multikulturellen Bildung kam er nicht nur deshalb, weil Tagore bereits das vierzehnte Kind seiner Eltern war, sondern weil seine Familie zu den führenden Dynastien Bengalens zählte. Gegen Ende des 17. Jahrhunderts hatten sich seine Vorfahren als erfolgreiche Zwischenhändler für die East India Company hervorgetan. Mit dem exorbitanten Aufstieg der Company wuchs auch das Vermögen der Familie. Im 19. Jahrhundert waren sie die Medici von Kalkutta. Rabindranaths Großvater Dwarkanath Tagore war ein Kaufmann, Philanthrop und Sozialreformer, dessen sagenhafter Reichtum der gehobenen europäischen Gesellschaft den Atem verschlug. Er wurde von Queen Victoria im Buckingham Palace empfangen und als der bedeutendste Inder seiner Zeit gefeiert.

 

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