Inverses Schönreden. Kommentar zu Geert Lovinks „Die Plattformfalle“

»Es liegen Nuggets im Schlamm« hieß die Parole einst, als im Netz und im Web noch Goldgräberstimmung herrschte. Nicht alles, was glänzt, ist Gold, das war natürlich auch damals schon allen bewusst. Rasch war aus der Kathedrale der Basar geworden, mit all seinem Lärmen und nicht selten viel Lärm um Nichts.1 Nur sollten dennoch, sollten gerade in diesem Tohuwabohu auch Perlen zu finden sein. Oder eben Gold: »Es werden unglaubliche Mengen an Schwachsinn und Redundanz um den Globus bewegt, aber es liegen Nuggets im Schlamm.«2

(Dieser Text ist im Märzheft 2023, Merkur # 885, erschienen.)

Nicht, dass die Zahl immer neuer Bücher über sämtliche Aspekte des Online-Seins seit jenen Tagen abgenommen hätte. Aber man hat sich längst – auch – an diese Überflutung gewöhnt. Schon vor rund dreißig Jahren schossen die einschlägigen Titel wie die Pilze aus dem Boden (auch wenn es bis zur Rede von einem »Wood Wide Web«, einem Pilz-Internet, noch etwas dauern sollte). Allein 1995, im selben Jahr, in dem Peter Glaser ein Journal über vierundzwanzig Stunden aus dem Leben eines »Netzpfadfinders« als Vorblick auf das 21. Jahrhundert veröffentlichte, erschienen Bill Gates’ Road Ahead, Nicholas Negropontes Being Digital, Clifford Stolls Second Thoughts on the Information Highway und Sherry Turkles Life on the Screen – Identity in the Age of the Internet – und alle in kurzer Folge jeweils auch in deutscher Übersetzung. 1996 folgten Manuel Castells Rise of the Network Society (als erster Band seiner Information Age-Trilogie) und 1997 Michael Dertouzos’ What Will Be.

Was wurde einem da nicht alles verheißen (und hat sich dann auch noch erfüllt)! Es werde der Desktop-Rechner alias PC sich nicht nur verkleinern zum Laptop, wie er es längst getan hatte, sondern er werde sich noch weiter verhandlichen zum »Wallet-PC« oder »Brieftaschencomputer«, der dann allerdings gar nicht mehr als vollausgestatteter, eigenständiger Rechner in Erscheinung träte, sondern eher als kleines Funkgerät, mit dem man sich drahtlos in die entstehenden großen Computernetze einschalten kann: Das Smartphone lässt grüßen. Auch würden die Computer lernen, auf gesprochene Sprache zu hören, und so »den Eindruck vermitteln, als gäbe es zwischen Ihnen und dem Gegenstand Ihres Interesses überhaupt keine vermittelnden technischen Einrichtungen mehr. Sie teilen Ihren Wunsch mit, und sogleich geht er in Erfüllung.« So werde sich »die Art und Weise, wie wir leben, arbeiten und lernen, grundlegend verändern« (Gates). Jeder und jede werde zu einer »digitalen Persönlichkeit«, einfach weil der Umgang mit den entsprechenden gadgets »ein Lebensstil geworden« sein werde (Negroponte).

 

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