Ein Fach diskutiert über sich selbst

Für viele in Deutschland kam der russische Angriff auf die Ukraine am 24. Februar 2022 unerwartet, auch für eine ganze Reihe derer, die sich wissenschaftlich mit Osteuropa beschäftigen. In einer frühen Stellungnahme warf Gerhard Simon, der Doyen der politikwissenschaftlichen Forschung – und Politikberatung – zu Osteuropa und insbesondere der Ukraine, der gesamten deutschen Osteuropaforschung vor, versagt zu haben: Sie habe es nach 1991 selbst in dreißig Jahren nicht geschafft, ihre einseitige Fokussierung auf Russland zu überwinden.

(Dieser Text ist im Märzheft 2023, Merkur # 885, erschienen.)

Dabei habe sie das postkommunistische Russland »vollständig falsch eingeschätzt«. Mit dieser Fehlwahrnehmung habe sie sich zwar im Einklang mit dem Mainstream in Politik und öffentlicher Meinung befunden. Ihre eigentliche Aufgabe, so Simon, nämlich alternative Entwicklungsstränge zu bedenken und auf diese Weise auch als »intellektuelles Frühwarnsystem« zu dienen, habe sie indes eklatant verfehlt.1

Es sei dahingestellt, inwieweit Simon mit seiner Schelte die Geschichtswissenschaft einschließlich der Spezialdisziplin der Osteuropageschichte im Sinn hatte. Grundsätzlich muss sich die Historiografie nicht für mangelhafte politische Prognosefähigkeiten rechtfertigen – sie war im Vorfeld des Kriegs in Politik und Publizistik ohnehin nicht wirklich gefragt. Vor allem aber ignorieren pauschale Vorwürfe, wonach das Fach wesentliche Entwicklungen übersehen habe, die seit langem differenzierte Produktion der international vernetzten historischen Disziplinen.

Grundsätzlich stellt sich dennoch die Frage, wie sich im wissenschaftlichen Umbruch theoretische, methodische und inhaltliche Orientierungen auf der einen und politische beziehungsweise mediale und gesellschaftliche Einflüsse auf der anderen Seite zueinander verhalten. Angesichts des russischen Kriegs gegen die Ukraine stehen Vertreterinnen und Vertreter zahlreicher Wissenschaftszweige vor vielfältigen Herausforderungen. So gewannen Untersuchungen zur Geschichte des Nationalsozialismus bislang wichtige Erkenntnisse auch aus Archivbeständen in Russland und der Ukraine. Am anderen Ende der Skala ist die klimarelevante Permafrost-Forschung des Alfred-Wegener-Instituts angesiedelt, die auf Untersuchungen in Russland angewiesen ist.2

Die multidisziplinäre Diskussion darüber, welche Konsequenzen nationale Vertreterinnen und Vertreter einer insgesamt internationalen Wissenschaftsgemeinde mit transnationalen und globalen Anliegen aus dem russischen Krieg gegen die Ukraine ziehen, steht erst am Anfang. »Wie viel Krieg darf’s denn sein«, damit Wissenschaft ihre Grundlagen »überprüfe«, fragt Stefan Plaggenborg polemisch, aber nicht zu Unrecht.3 Wie viel Wissenschaftsfreiheit muss es denn sein, lässt sich ergänzen, um wissenschaftliche Kooperationen durchzuführen?

 

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