Das Doppelgesicht der deutschen Flüchtlingsfrage

Die Heimatvertriebenen aus dem Osten, die zu Millionen in das südliche und westliche Deutschland eingeströmt sind, nehmen auf dem Boden ihrer neuen Wohnheimaten in doppelter Hinsicht eine Sonderstellung ein. In ihrer Flüchtlingssituation verkörpern sie einen Typus, der durch eine besondere soziale Krisenlage bestimmt und von ihr her soziologisch faßbar ist. Die Nivellierung durch Entwurzelung und Enterbung verwischt bis zu einem gewissen Grade die stammliche Differenzierung, die nicht dem sozialen, sondern dem ethnischen Bereich zugehörig ist. Für diesen Fragenbereich ist weniger die Soziologie als die Volkskunde zuständig, sofern man ihr Thema nicht in der üblichen Weise auf Elemente einer archaischen Primitivkultur einschränkt. An diese Polarität sozialer und ethnischer Aspekte denken wir, wenn wir von einem Doppelgesicht der deutschen Flüchtlingsfrage reden.

In der Tat handelt es sich bei diesen 8—9 Millionen vom Schicksal geschlagener Deutscher aus dem Osten, die allein auf dem Boden der Bundesrepublik Unterschlupf gefunden haben, keineswegs um ein in sich gleichgeartetes, vielmehr schon sozial und erst recht stammlich-kulturell um ein äußerst vielfarbiges Element. Der pommerische oder ostpreußische Großgrundbesitzer, der in Bayern oder Hessen zum Forstarbeiter abgesunken ist, paßt in sein neues Milieu weder sozial noch ethnisch hinein, auch wenn seine Arbeitsleistung befriedigt und wenn es ihm sogar gelingt, sich auf menschlicher Grundlage mit seiner neuen Umgebung freundlich zu stellen. Umgekehrt wird sich ein sudetendeutscher Industriearbeiter besonders schwer in eine holsteinische Kleinstadt harmonisch einfügen. Aber nicht nur in solchen extremen Fällen kommt es zu vielschichtigen Spannungen des Zuzüglers mit der neuen Umwelt, die der einzelne selbst hei bestem Willen und hohen ethischen Qualitäten um so weniger zu überwinden vermag, als es sich dabei eben um echte kollektive Phänomene handelt.

Der Vertriebene tritt in aller Regel in seiner neuen Umwelt nicht als Einzelgänger, sondern gruppenweise oder gar in Massen auf. Dabei überdeckt vielfach die soziale Situationsgebundenheit die ethnische Färbung oder umgekehrt. Auf beiden Seiten verdichten sich vorschnelle Verallgemeinerungen nur zu leicht zu abschätzigen Kollektivurteilen, die die Beziehungen von Mensch zu Mensch vergiften. Und je überwältigender das Schicksal der Vertreibung über den einzelnen hereingebrochen ist, desto unfähiger ist er selber — ganz abgesehen von wichtigen Unterschieden der geistigen Bewußtseinshöhe und sittlich-religiösen Reife — sich in der neuen Problematik mit ihrem seltsamen Doppelgesicht seelisch zurechtzufinden, das Zufällige vom Durchgängigen, das Vermeidbare und Überwindbare vom Unabwendlichen und Schicksalhaften, die bedrängte Situation von der gefährdeten Substanz klar zu trennen.

Hinzu kam, daß nur zum Teil durch Haß und Bosheit, großenteils auch durch Ungeschick der entscheidenden Stellen und Zwang der Umstände der einzelne durch sein persönliches Schicksal als Flüchtling zunächst wenigstens in eine Einsamkeit verstoßen wurde, die seine Desorientierung aufs Höchste steigern und den Vorgang des Sich-Zurechtfindens in der neuen Lage und Umgebung künstlich erschweren mußte. Alle Faktoren einer Atomisierung wirkten zusammen, um die von Austreibung und Flucht Betroffenen entweder ganz auf sich selbst zu stellen oder an Zufallsgenossen desselben Schicksals zu verweisen und auf diesem Wege Menschen höchst ungleicher Herkunft, Mundart, Sitte, Konfession oder sozialen Prägung wenigstens zeitweise zu elementaren \otgerneinschaften zu vereinen, die in ihrer Gruppierung kaum ein Urbild einer neuen Lebensordnung bieten, ja oft genug — z. B. in Ehedingen zur Quelle neuer Verwirrung werden konnten. Und diesem aus allen überkommenen Bindungen und Ordnungen herausgerissenen Flüchtling wurde nun noch auf Jahre hinaus das elementarste demokratische Bürgerrecht, das Recht zum freien Zusammenschluß mit seinesgleichen, fast vollkommen verwehrt. Auch als der erste Schock der Lähmung und Verzweiflung schon überwunden war und der Wille zur Schaffung neuer Ordnungen aus der Kraft der Selbsthilfe bereits erwachte, stieß dieser Impuls ins Leere, weil das Koalitionsverbol aufrechterhalten wurde. Vergeltungsmotive bei den Besatzungsmächten und ihre damalige Angst vor „irredentistischen“ Gruppenbildungen, Ohnmacht und Unverstand kurzsichtiger Länderbehörden und stumpfe Gleichgültigkeit der nach dem Zusammenbruch neuentstandenen Parteien, Hartherzigkeit, Konkurrenzneid und sturer Beharrungsgeist der einheimischen Gesellschaftskreise aller Schichten wirkten zusammen, um den Akt der Atomisierung und Vermassung des ausgetriebenen Ostdeutschtums gewissermaßen zu einer Dauererscheinung zu machen. Der Anschlag traf den persönlichsten Lebenskern jedes einzelnen. Denn immer und immer wieder erlebte der Flüchtling sich selbst als reines Objekt, dem persönlich und vollends in der Gruppe das Recht und die reale Möglichkeit zur sozialen Subjektwerdung hartnäckig verschlossen blieb.

Gerechtigkeit und Vernunft gebieten es, offen anzuerkennen, daß das hier gezeichnete Bild eine Schwarz-Weißmalerei ist: in erster Linie dazu bestimmt, die Gefühlslage des Flüchtlings dem Einheimischen nahezubringen, dem es offenbar selbst hei gutem Willen außerordentlich schwer fällt, sich in die seelische Situation des Vertriebenen einzufühlen. Aber eben dieser überreizte seelische Zustand der Vertriebeneriinassen ist mitsamt den Fehlurteilen, Übertreibungen und Verkennungen zwangsläufiger Umstände ein Tatbestand von größter objektiver Bedeutung. Denn er und nicht etwa der objektive Wahrheitsgehalt der gegenseitigen Beurteilung von Einheimischen und Vertriebenen setzt sich unmittelbar in soziale und nunmehr auch politische Wirkungen um, seit den Flüchtlingen das allzu lange vorenthaltene Koalitionsrecht endlich eingeräumt und damit auch eine gleichsam dynamische Summierung all der individuellen Einstellungen gegenüber den Einheimischen zu kollektiven Willensäußerungen möglich geworden ist, die nun als nicht mehr zu übersehender Faktor im sozialen und politischen Leben der Bundesrepublik, ja als eine schlechthin revolutionierende Kraft unseres öffentlichen Lebens nüchtern in Rechnung gestellt werden müssen. Auf das Vorurteil der einen Gruppe antwortet dabei das Gegenvorurteil der andern. Auf welcher Seite Verhärtung und Verkrampfung ihren Anfang genommen haben, wird sich schwer entscheiden lassen. Schulderörterungen sollten nach Möglichkeit vermieden werden. Denn in einer unheilvollen Kette von Aktionen, Reaktionen und Gegenreaktionen bedingen und steigern sich diese Abirrungen des nüchternen Urteils und der Behandlungspraxis naturgemäß gegenseitig. Im übrigen ist von einer allmählichen Normalisierung der wirtschaftlichen Verhältnisse und einer Behebung der gröblichsten Notstände der Vertriebenen beispielsweise durch Soforthilfe oder anlaufenden Lastenausgleich keineswegs unmittelbar eine soziale und politische Entspannung zu erwarten. Historische Erfahrungen lehren bekanntlich, daß Revolutionen keineswegs immer dann ausbrechen, wenn eine unterdrückte oder in natürlichen Rechten geschmälerte Gruppe sich auf dem Tiefpunkt des Elends befindet, sondern oft genug gerade in einer Phase des beginnenden Wiederaufstieges. In dieses Stadium ist die Vertriebenenbewegung unleugbar eingetreten, und gerade darum beginnen die Flüchtlinge jetzt ein Faktor zu werden, der sich einstweilen auf der Ebene der Länder mit besonders gestörter Revölkerungsstruktur meldet.

Völkerwanderung der Landflüchtlinge

Unter den vier großen ,S‘, die Wilhelm Heinrich Riehl auf Grund der Revolutionserlebnisse von 1848 als Hort und Stütze jeder konservativen Ordnung ansah, befanden sich auch Stand und Stamm. Beide Begriffe, die ihren Glanz in Deutschland und bei seiner gebildeten Oberschicht noch dem Zeitalter der Romantik verdankten, sind besonders im exakten Sprachgebrauch der Wissenschaft seit längerem fragwürdig geworden. Und die trügerische Schminke, mit der der Nationalsozialismus Stand wie Stamm wenigstens an Festtagen verschönte, konnte nicht darüber hinwegtäuschen, daß die fortschreitende Zerrüttung der Ständeordnung wie des Stammesgefüges des deutschen Volkes bereits eine lange Vorgeschichte hat. In beiden Fällen waren Wanderungsbewegungen, die der jüngsten gewalttätigen Massenverpflanzung von Ost nach West vorangegangen sind, an der ständischen und stammlichen Destruktion und Pseudomorphose der deutschen Volksexistenz mitbeteiligt. Diese Vorgänge sind als historischer Hintergrund der doppelpoligen Flüchtlingsproblematik von heute so wichtig, daß sie kurz charakterisiert werden müssen. [1. Eine eingehendere Analyse habe ich in meinem Vortrag „Zur Problematik der Flüchtlingsexistenz“. Der Bund. Jahrbuch 1948—49. Wuppertal 1949, Seite 51 ff. versucht.]

Die Verwandlung Deutschlands aus einer politisch ohnmächtigen und stark dezentralisierten Agrarlandschaft mit zurückgebliebenem Städtewesen in einen modernen Großstaat mit starkem Übergewicht der Industriewirtschaft und des Großgewerbes war eng mit dem Vorgang einer rapiden Vergroßstädterung und damit einer lebhaften Binnenwanderung verknüpft. Diese trug weithin das Gepräge einer Landflucht, wobei die entwurzelte Landbevölkerung, die in ihren Strudel gerissen wurde, einmal konzentrisch aus dem Umland der jäh anwachsenden Großstädte in diese einströmte, darüberhinaus aber aus dem industrie- und städtearmen Osten westwärts geschwemmt wurde, so daß z. B. am Aufbau des Industriereviers von Groß-Berlin und des Ruhrgebietes ostdeutsche Landflüchtlinge stark beteiligt waren. Es ist ein besonderes Verdienst von Wilhelm Brepohl, erst neuerdings den „Aufbau des Ruhrvolkes im Zuge der OstWest-Wanderung“ (Recklinghausen 1948) gründlich untersucht zu haben.

Obwohl sich diese Vorgänge gemäß den liberalen Wirtschaftsanschauungen jener Zeit im Element freier persönlicher Entscheidung vollzogen, standen doch schon die Vorläufer der Ostvertreibung unserer Tage unter dem Druck wirtschaftlicher Verhält nisse, in denen eine gewisse überindividuelle Zwanghaftigkeit dieses ,Rutsches nach  dem Westen‘ begründet, liegt. Dieses Moment verstärkt sich in den ersten Jahrzehnten unseres Jahrhunderts, wo die Deutschenverdrängung aus dem Osten durch die Stoß- kraft des Nationalismus der Slawenvölker Plan und Stetigkeit gewinnt. Allein aus dem an Polen ausgelieferten ,Korridor‘ wurde nach dem ersten Weltkrieg rund eine Million Deutscher weiter nach Westen abgedrängt. Auch aus Elsaß-Lothringen und aus überseeischen Gebieten strömten damals große Massen ins verengte Mutterland zurück und vermehrten das mobilisierte und fluktuierende Element der Reichsbevölkerung.

Aber gerade die industrialisierten und überwiegend vergroßstädterten Landllüchtlinge und Rückwanderer des 19. und 20. Jahrhunderts waren es, die der bestehenden .bürgerlichen Gesellschaft‘ die bedrängende und erregende ,soziale Frage‘ stellten, auf die die totalitären Regime eine letzte Antwort zu geben vermeinen. Auch sie stießen zunächst an eine Mauer sozialer Vorurteile, die sie nötigte, sich als ,Proletarier‘ vor den Toren der bürgerlichen Welt zu formieren und mit Hilfe des hart erkämpften Koalitionsrechtes ihre Eingliederung in eine Gesellschaftsordnung zu erzwingen, die sich ebenfalls anfangs reaktionär verhärtete, dann aber allmählich neue, in die Zukunf! weisende Formen fand. Auch dieses entlaufene Landvolk fühlte sich zunächst im städtischen Milieu fremd und hilflos und stellte der aus den Fugen geratenen älteren Ständeordnung des Vormärz das Gegenbild einer zwieschichtigen Klassengesellschaft gegen- über, die mit dem Schema: Einheimische—Flüchtlinge von heute eine unverkennbare Ähnlichkeit hat. Die Problematik, die sich aus diesem Zusammenprall des landflüchtigen Proletariates und der bürgerlich-feudalen Gesellschaftsordnung ergab, ist auch keineswegs dadurch gelöst worden, daß die Proletarier von der letzteren einfach assimiliert und aufgesogen wurden, sondern die Anähnelung war ein Vorgang der Wechselwirkung, der noch nicht abgeschlossen ist, wohl aber im Westen als eine evolutionäre Bewegung, zu der sich jetzt auch die Sozialdemokratie bekennt, in sich selber die Gefahr katastrophischer Entladung der sozialen Gegensätze weithin eingebüßt hat. Die Landflüchtlinge sind längst in der städtischen Welt heimisch geworden, stellenweise ist auch die Industrie aufs Land gegangen und hat wiederum das Landvolk mit modernen Lebens- und Gesittungsformen vertraut gemacht. Aber diese werdende neudeutsche Gesellschaftsordnung hat ihren älteren statischen Charakter weithin eingebüßt und ist in hervorragendem Maße mobil und dynamisch geworden.

Der Vorgang im ganzen ist, soviel er auch im letzten Jahrhundert in der Öffentlichkeit mit Leidenschaft durcherörtert worden ist, unserem Volk in seinen umfassenderen Zusammenhängen nicht genügend klargeworden. Begriff und Zielsetzung der sog. Sozialpolitik hat sich ungebührlich verengt. Zwei an den deutschen Hochschulen noch immer mißachtete und vernachlässigte Wissenschaften, die aus dem Westen übernommene Soziologie, einseitig dem Urbanen Bereich zugewandt, und die noch stark auf Überreste einer archaischen Grundkultur ausgerichtete sog. Volkskunde, sind trotz den fruchtbaren Anregungen Riehls und späterer Volksforscher nicht zu einer befriedigenden Zusammenarbeit gekommen. Und da sich Ideologien und Doktrinen vorschoben, die ihren Ursprung aus den überhitzten Interessenkämpfen zwischen dem landflüchtigen Proletariat und der reaktionär verhärteten bourgeoisen Welt deutlich verraten, ist insbesondere die ethnische, die Volkstumsseite dieser deutschen .Vorflüchtlingsbewegung‘, nicht genügend beachtet worden.

Das „stammhafte Gefüge“ des deutschen Volkes (Josef Nadler) ist mit seinen relativ festen Konturen in dem Jahrtausend der Völkerverwurzelung und Volkstumsentfaltung entstanden, das zwischen dem stürmisch dynamischen Zeitalter der Völkerwanderungen und der offenbar sogar hyperdynamischen Ära seinen historischen Platz hat, in die Europa durch die neuen Mächte des modernen Industrialismus und Imperialismus eingetreten ist. Binnenwanderung, überseeische Auswanderung, Verdrängung nach dem Mutterland, Umsiedlung, Zwangsverschleppung und langfristige Zurückhaltung großer Bevölkerungsmassen als ,Kriegsgefangene‘ in Friedenszeit sind lediglich Spielarten einer bevölkerungspolitischen Dynamisierung Europas und besonders Deutschlands, die nicht nur das Verhältnis der Länder und Völker untereinander, sondern auch deren innere Struktur und Gliederung erheblich in Mitleidenschaft zieht. In anderen Weltteilen bieten sich hierzu zahlreiche Parallelen. Erst die globale Erscheinung dieser modernen Hyperdynamisierung und totalen Mobilisierung der Erdbevölkerung mit der äußerst vielfältigen, daraus erwachsenden Problematik auf allen Lebensgebieten bietet Hintergrund und Maßstab, um die Tragweite einer Teilerscheinung wie der Ost-Westvertreibung von etwa 15 Millionen Deutschen und der weithin willkürlichen und unüberlegten Neuverteilung der Überlebenden auf das zwiegeteilte Deutschland durch die Besatzungsbehörden einigermaßen abschätzen zu können.

Schon die frühere Binnenwanderung in Deutschland, namentlich seit Begründung des Bismarckreiches, führte einmal zu einer gewissen Verwischung der Stammesgrenzen durch häufige Kreuzungen zwischen Deutschen verschiedener regionaler Herkunft, darüber hinaus aber auch zu einer gewissen Aushöhlung und Verflachung der Stammestümer in ihrer Volkstumssubstanz und Traditionsfestigkeit, die sich überall von den Großstädten her durch ihre standardisierende Wirkung auf den deutschen Lebensstil vollzieht. Schon immer war im Unterschied vom Land die Stadt eine Stätte überstammlicher Begegnung und zwischenstammlicher Kreuzung, die z. B. durch einheiratende Handwerker und später besonders durch Militär, Beamtenschaft und Bildungsschicht zustande kam. Auf den Handelsstraßen, die die Städte in sich zu einem volksverklammernden Netz verbanden, ehe es den verdichteten Allverkehr auf Eisenbahnen und Fernverkehrsstraßen gab, wanderten von je nicht nur Waren, sondern vielfältiges Volksund Kulturgut aller Art. Auch heute sind weitentfernte Großstädte und Wirtschaftszentren einander in vieler Hinsicht nähergerückt als ihrem agrarischen Hinterland. Die Strahlung aus der Großstadt in ihre stammbetonte Umgebung ist stärker als deren Rückwirkung auf den Geist dieser Stadt. Heimat im alten Sinn — also gerade das Gut, dessen Verlust die Heimatvertriebenen beklagen — ist in dieser veränderten Welt zu einem romantisch verklärten, aber existentiell fragwürdigen Gebilde geworden. Obgleich dieser Tatbestand zum Teil durch die fortbestehenden Mundarten als hauptsächliches Stammesmerkmal verdeckt wird, das dem Nachwuchs der .Neubürger‘ aller Art schnell anfliegt, ist doch in den Städten auch sprachlich eine Annäherung der Umgangssprache an das Hochdeutsche und den Großstadtjargon und damit eine Abblassung der Sondersprachprägung in den einzelnen Teilen Deutschlands zu beobachten. Militär- und Arbeitsdienst, Beamtenaustausch und Wanderung der Arbeitskräfte nacli Marktgesetzen, verdichteter Verkehr jeder Art nivelliert weniger sprachlich, als vielmehr in Sitte und Lebensstil unsere früher so eigenwüchsigen Stammestümer sehr erheblich im Sinn einer Standardisierung von überstammlicher und gesamtvolklicher, zum Teil schon europäischer Präsnm«.

Auch diese Entwicklungen, die sich im Zeitalter großstaatlicher und gro Li räumlicher Bildungen auf dem deutschen Volksboden vollzogen, dürfen wir nicht übersehen, wenn wir die Auswirkungen der Ostaustreibung auf den Strukturwandel Westdeutschlands prüfen wollen. Der Ostdeutsche, der von Haus aus vielfach ein viel gefestigteres und existentiell bewährtes Heimatbewußtsein mitbringt, das nun seinen Ausdruck in den landsmannschaftlichen Organisationen der Ostvertriebenen sucht, findet im Westen besonders in den Großstädten, in denen er wirtschaftlich am ehesten Fuß fassen kann, ein gelockerteres, abgefiachteres und stärker romantisch verfälschtes Heimatbewußtsein vor. Und da ihm gerade die konservativere Heimatprägung des Landes und der kleinen Städte den stärksten seelischen Widerstand der Einheimischen entgegensetzt, die mit sicherem Instinkt im Zuwanderer den Träger verstärkter Standardisierung wittern, findet er nicht nur wirtschaftlich, sondern auch seelisch und geistig den Einschlupf in die ihm verschlossene Umwelt am leichtesten da, wo der Prozeß der Auslaugung der stammestümlichen und heimatlichen Substanz im Westen selber schon am weitesten vorgeschritten ist. Er wird daher gerade dann, wenn man ihn zur Mimikry oder zur schnellen Anpassung, zur Verleugnung und Überwindung der eignen Heimatbindung und Stammesprägung zwingt, um so eher selber zu einem „Ferment der Dekomposition“ der stammestümlichen Kulturgrundlage seiner neuen Wohnheimat. Er wirkt nicht nur sozial, sondern auch ethnisch nivellierend. Nicht durch Betonung seines Heimatbewußtseins, wie viele verängstigte Einheimische meinen, sondern ganz im Gegenteil durch dessen Verdrängung ins Unterbewußte wird er auch ethnisch für seine neue Umwelt, sobald er in einiger zahlenmäßiger Stärke auftaucht, zu einer wirklichen Gefahr. Denn er beschleunigt einen Vorgang der Zersetzung der deutschen landschaftlichen Grundkultur und der Überwucherung einer großstädtischen Talmizivilisation, der sich schon lange angebahnt hat, nunmehr aber motorisch außerordentlich verstärkt wird.

Aufstand der Deklassierten von heute

Wir gewinnen damit für die eigentümliche Doppelgesichtigkeit der Vertriebenenexistenz in Westdeutschland und für deren revolutionierende Wirkung auf die deutsche Sozialstruktur einen klareren Blick. Die wirtschaftlich-soziale ist von der stammlich-kulturellen Wirkung zu trennen, obgleich beide Faktoren in Wechselwirkung miteinander stehen. Sozial gesehen stellt sich der Vorgang der Ostvertreibung als ein ungeheuerliches Deklassierungsexperiment dar. Soweit dieses durch den Bolschewismus in die Wege geleitet wurde, ist dessen Interesse an der damit zwangsläufig eingeleiteten Entwicklung offensichtlich und leicht verständlich, während die Mitverantwortung der Westmächte nur auf eine unwahrscheinliche Ahnungslosigkeit und Verblendung zurückgeführt werden kann, da diese Erschütterung der ohnehin stark zerrütteten deutschen Gesellschaftsordnung naturgemäß die Konsolidierung Europas aufs äußerste erschwert.

Die Heimatvertriebenen aus dem Osten und ihre unaufhörlich nachsickernden Zuzügler aus der Sowjetzone bilden eine Millionenarmee von Enterbten, die, ihrer Heimat, ihres Besitzes, ihrer Stellung und ihres öffentlichen Ansehens beraubt, zunächst auf die Basis von ,Nullpunktexistenzen‘ herabgedrückt und damit — durchaus vergleichbar den .Proletariern‘ vor 100 Jahren, die im Bolschewismus ihre Schlußrechnung präsentieren – zu einer neoproletarischen Klasse präformiert sind. Sie unterscheiden sich aber von ihren historischen Vorläufern dadurch, daß sie nicht wie jene nur eine große Vielfalt ungeweckter Talente, sondern ein geradezu unerschöpfliches Potential sozusagen bereits gebrauchsfähiger und unmittelbar einsetzbarer Fertigkeiten jeglicher Art vom Landarbeiter bis zum Erbbauern und Großgrundbesitzer, vom Arbeiter über den Direktor zum Unternehmer, vom Volksschullehrer bis zum Universitätsprofessor. vom Büroschreiber bis zum Minister (gleichsam als ein Volk im Volk) in den Westen mitbringen. Der Motor eruptiven Wiederaufstiegswillens ist dabei nicht der bloße soziale Wunsch träum, sondern vor allem das zutiefst gekränkte Rechtsgefühl. Je länger jedem einzelnen Mitglied dieser brutal plattgewalzten Masse der als klarer Rechtsanspruch empfundene Wunsch versagt wird, nicht einfach von Gnaden des Westens fortzuvegetieren, wie es bislang großenteils geschehen ist, sondern zu vollberechtigtem Einsatz zu gelangen und die schuldlos verlorene Lebenshöhe nach Möglichkeit wiederzugewinnen, desto mehr staut sich in diesen ,Entrechteten‘ ein Ressentiment auf, dessen Explosivkräfte die äußerst labile Sozialordnung unserer restaurativen Demokratie mit Recht zu fürchten hat. Da die langsam erwachende Weltöffentlichkeit, die über ein paar Tausend DP’s die Masse der Ostvertriebenen lange Zeit hindurch völlig übersah, die Besatzungsmächte und der einheimische politische Apparat, die in ihnen lediglich ein gefügiges und widerstandsunfähiges Verwaltungsobjekt sahen, die Wurzel dieses Ressentiments nur in der Austreibung mit ihren oft barbarischen Begleiterscheinungen suchen, muß mit aller Ruhe und Nüchternheit betont werden: durch vermeidbare Behandlungsfehler nach 1945, deren Schuld sich auf die verschiedensten Stellen verteilt, ist in der Seele dieser Vertriebenen ein Maß an Verbitterung und Verzweiflung aufgehäuft worden, das noch auf lange hin jede verspätet einsetzende konstruktive Vertriebenenpolitik aufs schwerste belasten muß.

Die bisherige Praxis der Flüchtlingspolitik läßt vorwiegend die Absicht erkennen, das Problem zunächst karitativ und sozialpolitisch anzupacken und damit das Nivellement der Flüchtlinge und ihre Atomisierung fortzusetzen. Auch daran kann Moskau seine Freude haben. Vielleicht ist ein historischer Vergleich hier von Interesse. Als der Große Kurfürst in sein keineswegs reiches Staatswesen die Hugenotten aufnahm, die auch größtenteils nicht mehr als das Hemd auf dem Leib mitbrachten, verschlangen die diesen Flüchtlingen gewährten Unterstützungen anfangs mehr als zwei Drittel der gesamten Staatseinnahmen. [2. Vgl. die heute sehr instruktive Schrift meines Schülers Helmut Erbe : Hie Hugenotten in Deutschland, 1937.] Eine westdeutsche Fürstin. Elisabeth Charlotte von Nassau-Schaumburg, entäußerte sich zugunsten der Flüchtlinge sogar ihres Schmuckes und aß aus hölzernen Gefäßen, um durch Verkauf ihres kostbaren Geschirres deren Not zu lindern. Die Zuwendungen waren (wie übrigens noch die Familienunterstützungen im ersten Weltkrieg) nach dem bisherigen Lebensstandard abgestuft und nicht dazu bestimmt, diesen allgemein auf ein proletarisches Existenzminimum herabzudrücken. sondern die Differenzierung des Lebensniveaus sorglich zu schonen. Die systematische Proletarisierung und Vermassung — ein Hauptkennzeichen der heutigen Flüchtlingspolitik wurde damals bewußt vermieden. Dabei machten anfangs die Refugianten in Berlin ein Viertel, in Magdeburg fast die Hälfte der neuen Gesamtbevölkerung aus.

Die Folge der Behandlung der Flüchtlingsmassen nach 1945 war, daß das Berufsund Standesethos der Vertriebenen weitgehend mißachtet und aufgelöst wurde. .Teder wa r und ist, soweit nicht landsmannschaftliche Hilfe der Schicksalsgenossen einsetzl. elementar genötigt, sich persönlich emporzuarbeiten, wobei der einheimische Berufsgenosse in ihm viel eher den Konkurrenten, als den in Not geratenen Kollegen sieht. Das Ergebnis der seither verflossenen 5—6 Jahr e ist, daß etwa ein Drittel der Vertriebenen doch wieder einen gewissen Anschluß an den ursprünglichen Beruf gefunden hat. ein weiteres Drittel berufsfremd beschäftigt ist und ein letztes Drittel noch keinen wirtschaftlichen Boden unter den Füßen ha t und überwiegend von öffentlicher oder privater Fürsorge lebt. Dabei bedeute t aber die Wiederverwendung im eignen Beruf keineswegs immer die Aufhebung einer gewissen Deklassierung oder Rangminderung (etwa des Großgrundbesitzers zum Landarbeiter, des ordentlichen Professors zum Lehrbeauftragten oder Privatdozenten usw.). Die berufsfremde Beschäftigung kann je nach den Umständen eine wirtschaftliche Verschlechterung oder Verbesserung bedeuten, gefährdet aber in jedem Fall die Stetigkeit der sozialen Tradition und Standfestigkeit. Hinte r dieser groben Drittelung, die ohnehin nur auf Schätzungen beruht, verbergen sich also sehr wesentliche Differenzierungen der wirklichen sozialen Befriedigung, so daß es ein verhängnisvoller Kurzschluß wäre, daraufhin die Vertriebenenfrage wirtschaftlich zu zwei Dritteln für .gelöst‘ zu halten. Die Zahl der Vertriebenen, die sich noch für ,echte Flüchtlinge‘ im Sinne einer unbefriedigenden und provisorischen Existenz halten, und die als solche den Nährboden für ein gefährliches Klassenbewußtsein und soziales Ressentiment der Vertriebenen bilden, läßt sich statistisch nicht ermitteln. Man wird sie annäherungsweise hie und da vielleicht, aus den Wahlziffern von Wahlkämpfe n erschließen können.

Die Vordringlichkeit elementarer Notstände und das allüberschattende Interesse an den Grundvoraussetzungen einer Existenzbefestigung durch Gewinnung von Obdach, Kleidung, Stellung und Besitz ha t zunächst innerhalb der künstlich atomisierten Flüchtlingsmassen zu einem gewissen Wettlauf um Arbeitsplätze und Existenzmöglichkeiten geführt, der alle kollektiven Bedürfnisse der Vertriebenen — beginnend schon mit dem Zusammenhalt der Familie und endend in der Wiederzusammenführung grö- ßerer traditionell zusammengehöriger Gemeinschaften – zunächst in den Hintergrund gedrängt hat. Sogar die Wiederherstellung der häuslichen Gemeinschaft und erst recht alle weiteren Bedürfnisse kollektiver Reintegration sind jahraus jahrein durch bürokratischen Formalismus und das Fehlen jedes höheren Gesichtspunktes einer wirklich konstruktiven Flüchtlingspolitik maßlos erschwert und großenteils vereitelt worden. Es ist zuzugeben, daß die enorme Wohnraumverknappun g eine planvolle Lenkung selbst bei gutem Willen und besserer Einsicht in die wirklichen Bedürfnisse der Volksgemeinschaft stark bedindert hat. Zugleich waren aber für diese behördlichen Mißgriffe und Widerstände bei den Besatzungsmächten und später auch bis zur jüngsten Zeit bei westdeutschen Instanzen — meist uneingestanden und vielfach vielleicht sogar unbewußt — Komplexe der Furcht vor jeder Art von aktivistischer Gruppenbildung der Vertriebenen maßgebend: Hemmungen also, die ebenfalls an die jahrzehntelangen Kämpf e des Industrieproletariates um sein Koalitionsrecht und den sturen Widerstand der beali possidenles von damals erinnern. Man hielt und hält oft noch heute eben den Flüchtling für leichter assimilierbar und verkennt völlig die Gefahren für die Volks-Ordnung im ganzen, die von jeder gewaltsamen, überstürzten und bewußten Assimilierung ausgehen.

Die Folge dieser teils gedankenlosen, teils böswilligen oder irregeleiteten Flüchtlingspolitik war nun, daß die Vertriebenen von dem viel zu spät gewährten Koalitionsrecht zunächst einen überwiegend interessenpolitischen Gebrauch machten und sich überlandsmannschaftlich in Verbänden zusammenschlössen, die sich vor allem die Wahrung der gemeinsamen Flüchtlingsinteressen gegenüber den Einheimischen zum Ziel setzten. Die Formen der Organisation sind von Land zu Land verschieden, aber in Gestalt des Zentralverbandes vertriebener Deutscher (ZvD) mit dem Sitz in Bonn sind die Ostflüchtlinge heute in einem Spitzenverband zusammengeschlossen, wodurch das Bundesministerium für die Vertriebenen, dem ein eigner bürokratischer Unterbau fehlt, einen gewissen Ersatz dafür oder doch einen geeigneten Verhandlungspartner gefunden hat. Gegenüber gewissen Versuchen dieses Interessenverbandes, auch ostdeutsche Kulturaufgaben zentral zu steuern, macht sich nun in zunehmendem Maße eine Gegenbewegung geltend, die die Ostvertriebenen in Landsmannschaften zu gliedern und insbesondere die Angelegenheiten der Kultur und Wohlfahrtspflege und die Pflege traditionsgebundenen Zusammenhaltes diesen ebenfalls in den Spitzen zusammengeschlossenen Stammesvertretungen zu übertragen. Es ist gerade als ein Zeichen der trotz allem fortschreitenden wirtschaftlichen und sozialen Sanierung der Vertriebenen zu verstehen, daß der Wille zu landsmannschaftlicher Geschlossenheit immer mehr an Boden gewinnt.

Durchbruch des landsmannschaftlichen Prinzips

Die Ansätze zu einer solchen Gliederung reichen freilich schon in eine frühere Zeit zurück. In der ersten Zeit nach dem Zusammenbruch waren es vor allem die Kirchen, die unter dem damals absoluten Besatzungsregime am meisten Freiheit genossen und den aufgelösten landeskirchlichen Gemeinschaften der Ostvertriebenen eine Art Notdach gewährten. So konnten sich schon damals im kirchlich umhegten Kaum — unterstützt von den großen karitativen Verbänden beider Konfessionen hauptsächlich zum Zwecke der Wohlfahrtspflege gewisse landsmannschaftliche Gliederungen herausbilden, die nunmehr in die eigentlich landsmannschaftlichen Verbände übergeleitet werden. Je mehr diese eine ihnen gemäße Form suchen, desto deutlicher wird eine gewisse Rivalität zwischen der zentralisierenden Tendenz der in Landesverbände aufgegliederten Interessenorganisation der Flüchtlinge und diesen über die Ländergrenzen hinweggreifenden Landsmannschaften. Indem diese ihre Selbständigkeit nicht nur gegenüber den Einheimischen, sondern auch gegenüber andersstämmigen Flüchtlingsgruppen wahren, taucht jenseits der anfänglich vorherrschenden wirtschaftlich-sozialen eine neue, eine ethnisch-volkstumhafte Problematik auf.

Aus diesem Vorgang ergibt sich eine Fülle neuartiger Fragen volklicher Selbstbesinnung, die hier nur kurz gestreift werden können. Eis läßt sich nämlich auf die Dauer nicht übersehen, daß nicht nur die Volkstumssubstanz und stammhafte Eigenart. sondern auch die Interessenlage der einzelnen Landsmannschaft starke Unterschiede aufweist. Dasselbe gilt für ihr Verhältnis zu der neuen stammestümlichen Umwelt. Es stellt sich nämlich heraus, daß die Verteilung der Ostvertriebenen auf Rumpfdeutschland durch den Zwang der geographischen Verhältnisse und nicht durch überlegte Planung der Besatzungsbehörden in einer Weise erfolgt ist, die man nicht als absolut sinnlos bezeichnen kann. Sehen wir von der Sowjetzone ab, dann ist zunächst einmal das Deutschtum aus dem Nordosten, aufgegliedert in eine Reihe verschiedner Landsmannschaften von sehr verschiedener Prägung und Tradition, im wesentlichen bislang in seine Urheima t im Nordwesten, das Ursprungsland der mittelalterlichen Ostbesiedlung, zurückgedrängt worden. Ein Teil dieser Gruppen hatt e sich sogar noch im Osten die alte niederdeutsche Mundart in etwas abgewandelter Form bewahrt, die der des Nordwestens verwandt ist. Jedenfalls sind im wesentlichen Norddeutsche zu Norddeutschen und (von Ausnahmen abgesehen) auch Protestanten zu Protestanten gekommen, so daß bei allmählicher Behebung der sozialen Gegensätze und fortschreitender Eingliederung in den Wirtschaftsprozeß auch für eine stammestümliche Reintegration immerhin gewisse natürliche Voraussetzungen gegeben sind. Von den 3,7 Millionen vertriebenen Nordostdeutschen leben bisher 2,1 Millionen (57%) hauptsächlich in der britischen Zone, während der Rest auf dem Treck im norddeutschen Teil der Sowjetzone hängen geblieben ist.

Die sehr viel kleinere Gruppe der Südostdeutschen, überwiegend sog. Donauschwaben aus Ungarn, Jugoslawien und Rumänien, erreicht nicht einmal eine halbe Million. Auch sie ha t nicht in einer eigentlichen stammfremden Umgebung Obdach gefunden, ein Teil sogar in der südwestdeutschen Urheimat, aus der ihre Vorfahren im Unterschied zu den Nordostdeutschen erst im 18. Jahrhundert ausgewandert sind, so daß die stammestümliche Differenzierung nicht soweit vorgeschritten und teilweise sogar noch familiengeschichtliche Beziehungen nachweisbar sind, deren Pflege unte r den Donauschwaben schon vor Jahrzehnten durch den schwäbischen Dichter Ludwig Finckh mit Erfolg angeregt wurde. Auch die konfessionellen Verhältnisse werden vielfach dem kleinen Teil des Südostdeutschtums, das durch die Ostvertreibung ins deutsche Mutterland zurückgeschwemmt worden ist, die Wiederverwurzeluntr zweifellos erleichtern.

Sehr viel schwieriger als bei den Nordostdeutschen und Südostdeutschen liegen aber die Verhältnisse bei den beiden mittelostdeutschen Gruppen, den Schlesiern und den auch stammlich in sich differenzierten Sudetendeutschen. Denn diese Gruppen sind durch die Neuansiedlung einmal sehr viel stärker aufgesplittert als beispielsweise die Nordostdeutschen. Darübe r hinaus sind sie aber großenteils in eine stammestümliche Umwelt geraten, mit der sie nach ihrem Naturell wenig harmonieren und die ihnen — vom wirtschaftlich-sozialen Moment abgesehen — das Hineinwachsen wesentlich stärker erschwert. Dazu kommt, daß es sich bei beiden um zahlenmäßig sehr erhebliche, kulturell eigenwüchsige und sozial stark differenzierte Gruppen handelt.

Von den 2,6 Millionen vertriebenen Schlesier sind 1,6 Millionen, also über drei Fünftel, von fast 2,5 Millionen Sudetendeutschen 1,6 Millionen, also etwa zwei Drittel nach Westdeutschland gelangt. Ein Fünfte l der Schlesier lebt in Niedersachsen und Westfalen in völlig stammfremde r Umgebung. Das besonders spröde Element der Sudetendeutschen stellt allein in Bayern etwa 1 Million und verstärkt dort zum Teil das fränkische auf Kosten des eigentlich bayrischen Stammestums. Aber auch Württemberg und Hessen haben je etwa ein Drittel Millionen Sudetendeutsche als einen stammesfremden Bevölkerungsbestandteil aufgenommen, wodurch sich auch die konfessionelle Struktur dieser Länder verändert hat. Kein Wunder, daß der sudetendeutsche Soziologe Eugen Lemberg in Hessen in einer kürzlich erschienenen Sammelschrift geradezu von der „Entstehung eines neuen Volkes aus Binnendeutschen und Ostvertriebenen“ spricht, wodurch (in einer bis zu einem gewissen Grade übertreibenden und terminologisch anfechtbaren Sprechweise) doch ein sehr bedeutsames ethnisches Problem angerührt wird.

Die angeführten Zahlen, die auf der Zählung von 1946 beruhen, geben nur einen ungefähren Anhalt und sind zum Teil bereits überholt, zumal durch die Einsickerung aus der Ostzone noch neue, sozial verelendete und kulturell stammesfremde Elemente in Westdeutschland auftauchen. Vor allem aber ist die Verteilung der Vertriebenen nach dem ursprünglichen Plan der Besatzungsmächte so ungleichmäßig erfolgt, dal.f neue Umsiedlungen (sog. Umsetzungen) innerhalb Westdeutschlands von den am meisten mit Flüchtlingen überlasteten Ländern (Schleswig-Holstein, Niedersaclisen und Bayern) mit zwingenden wirtschaftlichen Argumenten gefordert werden. Denn in der Tat bedeutet es eine gewisse Ungerechtigkeit, daß insbesondere die Länder der französischen Zone im Südwesten bisher von der Fürsorge für die Vertriebenen fast völlig befreit geblieben sind. Und auch im äußersten Westen, in Rheinland-Westfalen, können aus wirtschaftlichen Gründen noch erhebliche Mengen von Flüchtlingen Aufnahme linden, sobald das vordringliche Wohnungsproblem einigermaßen gelöst’ist. Es ist also zu erwarten, daß sich nunmehr nicht auf Grund kollektivistischer Maßnahmen, sondern durch einen Prozeß der individuellen Auslese die soeben nur grob skizzierte Neuordnung von Stammeselementen in Westdeutschland noch wesentlich ändern wird.

Es ist dringend zu hoffen, daß sich durch Regelungen dieser Art die wirtschaftliche und soziale Lage der Vertriebenen allmählich verbessern und der bisherige Zustand der Übermächtigung durch elementare Notstandsorgen überwunden wird. Dabei dürften aber auf stammlichem und auch auf konfessionellem Gebiet neue Probleme auftauchen. Denn da Schleswig-Holstein und Niedersachsen ganz besonders unter dem Überdruck durch nordostdeutsche Flüchtlinge leiden, wird im Zuge der neuen ,Völkerwanderung‘ vor allem ein Zug norddeutscher Protestanten von ursprünglich niedersächsischer Abstammung in den teils alemannischen, teils fränkischen Südwesten einsetzen, wo diese nordostdeutsche Stammesdiaspora vielfach in überwiegend katholischen Gebieten die bisherige konfessionelle Struktur in Frage stellen wird. Dieser fortschreitende Prozeß der Auflockerung des überkommenen Stammesgefüges und der Herbeiführung zahlreicher Stammes- und Konfessionskreuzungen wird also, wenn nicht bald eine Rückkehr großer Massen von Zwangsumsiedlern in die inzwischen verödeten und verwahrlosten Ostgebiete möglich ist, auf altdeutschem Kulturboden sowohl biologisch wie sozial und kulturell Wirkungen von schwer absehbarer Tragweite zeitigen.

Gefahren der Hyperpolitisierung

Die damit entfaltete soziale und kulturelle Problematik, die Folge einer fieberhaft angefachten Hypermobilisierung des deutschen Volkskörpers, wird nun vor allem unter dem Druck ungelöster inner- und außenpolitischer Probleme neuerdings durch eine Bewegung der Politisierung überspielt und abgelenkt, die eine Quelle neuer Verwicklungen darstellt. Vom Krisenherd Schleswig-Holstein her breitet sich im Laufe des letzten Jahres in Gestalt des : .Blocks der Heimatvertriebenen und Entrechteten‘ (BIIE) eine politische Bewegung aus, die einen Versuch darstellt, die Interessengruppe der sozial unbefriedigten Flüchtlinge in die Form einer politischen Parte i zu kleiden und zugleich ein bedenkliches politisches Bündnis zwischen Vertriebenen und einheimischen „Entrechteten“ , d. h. anderen Opfern der Zeitkrise herzustellen, zu denen soziale Gruppen ganz verschiedener Art ohne spezifische ethnische Prägung gehören. Ein beachtlicher Anfangserfolg unter den Ausnahmebedingungen des „Armenund Siechenhauses“ Westdeutschland ha t auf der einen Seite Erwartungen auf große Erfolge, auf der anderen Furcht vor diesen neuen , Geuzen‘ geweckt, deren Berechtigung sich demnächst nach dem hessischen, württembergischen und bayrischen Wahlkampf in Niedersachsen erweisen wird. Die eigentliche Bewährungsprobe steht dem BH E also noch bevor, und es ist fraglich, wieweit es seiner Führun g gelingen wird, die erheblichen Interessengegensätze und Führungsrivalitäten zu überwinden, die sich innerhalb einer so heterogenen und weltanschaulich wie auch konfessionell stark differenzierten Wählermasse zweifellos melden werden. Jedenfalls liegt hier ein bemerkenswerter Versuch vor, das zahlenmäßige Gewicht der Vertriebenen politisch in die Waagschale zu werfen, was trotz gegenteiligen Beteuerungen zu einer Vertiefung der Kluft zwischen Zugewanderten und Einheimischen führen muß und einen stetigen Kurs in der deutschen Innenpolitik stark erschweren wird. Auch wird sich nicht vermeiden lassen, daß diese politische Formierung der Flüchtlinge auf Grund ihrer stammestümlichen Prägung im Nordwesten zur Herauskristal isierung einer Art von ,Preußenpartei‘ führen wird, während die politische Flüchtlingsbewegung im Süden und in Hessen ausgesprochen sudetendeutsche Züge annehmen dürfte. In den Ländern mit schwachen Flüchtlingskontingenten wird der BH E nur Erfolge erzielen können, wenn er das Schwergewicht von den Heimatvertriebenen auf die „Entrechteten“ verlagert und damit einem Zuge zur sozialen Radikalisierung nachgibt, den auch der gegenteilige Wille der derzeitigen Parteiführung kaum aufhalten wird.

Aber auch die landsmannschaftliche Bewegung kann dadurch ein politisches und zwar vornehmlich ein außenpolitisches Gesicht gewinnen, daß sie Aufbau und Organbildung der Landsmannschaften vornehmlich durch das Ziel der Grenzrevision im Osten und der Wiedergewinnung der verlorenen Heima t bestimmen läßt. Dadurch münde t sie unausweichlich in eine irredentistisch e Bewegung ein, auf deren Strategie und Taktik angesichts der Ohnmacht Deutschlands und der Verschärfung der globalen Ost-West-Spannung eine große politische Verantwortung ruht. Da die Voraussetzungen dieser landsmannschaftlichen Fernziele der Ostvertriebenen die Wiedervereinigung West- und Ostdeutschlands und die Wahrung des gesamtdeutschen Zusammenhanges wenigstens in den verengten Grenzen der gegenwärtigen vier Zonen sind, bietet diese Bewegung zwar ein gesundes Gegengewicht gegen Gefahren einer westdeutschen Horizontverengung und der Abkehr eines atlantisierten Westdeutschlands vom Osten überhaupt. Es ist aber nicht zu verkennen, daß das unmittelbare irredentistische Interessement der ostdeutschen Landsmannschaften zum mindesten starke Gradunterschiede aufweist, und daß es im ethnischen wie im sozialen Sektor der Flüchtlingsbewegung Gefahren einer Hyperpolitisierung gibt, deren Auswirkungen nicht zu unterschätzen sind.

Auf jeden Fall entfaltet sich auf dem Boden der Flüchtlingsbewegung eine außerordentlich vielschichtige Problematik, durch die ersichtlich wird, in welchem Maße das Vertriebenenproblem das in seiner Tragweite zumeist völlig verkannte Zentralproblem Westdeutschlands ist. Es ist äußerst fragwürdig, ob insbesondere die Westmächte, soweit sie eine Mitverantwortung an der Ingangsetzung dieser ostdeutschen Völkerwanderung tragen, sich auch nur einigermaßen der tragischen Verwicklungen bewußt sind, in die nicht nur Deutschland, sondern auch Europa durch dieses zynische Sozialexperiment und diesen vivisektorischen Versuch am deutschen Volkskörper gestürzt worden ist. Aber das Unheil ist geschehen und nimmt nun seinen Lauf. Die Zeiten, wo man die Frage verharmlosen oder in ihrem Ausmaß übersehen konnte, sind vorüber. Auch die Zeit der bloßen Improvisationen sollte deshalb vorbei sein. Und wer das Doppelgesicht der deutschen Flüchtlingsfrage verkennt und Probleme isoliert, die nur in ihrem wechselseitigen Zusammenhang erfaßt und gelöst werden können, der wird kaum zum schweren Werke tauglich sein, das hier uns Deutschen in erster Linie, aber nicht uns allein auferlegt worden ist.