Das Doppelgesicht der deutschen Flüchtlingsfrage
Die Heimatvertriebenen aus dem Osten, die zu Millionen in das südliche und westliche Deutschland eingeströmt sind, nehmen auf dem Boden ihrer neuen Wohnheimaten in doppelter Hinsicht eine Sonderstellung ein. In ihrer Flüchtlingssituation verkörpern sie einen Typus, der durch eine besondere soziale Krisenlage bestimmt und von ihr her soziologisch faßbar ist. Die Nivellierung durch Entwurzelung und Enterbung verwischt bis zu einem gewissen Grade die stammliche Differenzierung, die nicht dem sozialen, sondern dem ethnischen Bereich zugehörig ist. Für diesen Fragenbereich ist weniger die Soziologie als die Volkskunde zuständig, sofern man ihr Thema nicht in der üblichen Weise auf Elemente einer archaischen Primitivkultur einschränkt. An diese Polarität sozialer und ethnischer Aspekte denken wir, wenn wir von einem Doppelgesicht der deutschen Flüchtlingsfrage reden.
In der Tat handelt es sich bei diesen 8—9 Millionen vom Schicksal geschlagener Deutscher aus dem Osten, die allein auf dem Boden der Bundesrepublik Unterschlupf gefunden haben, keineswegs um ein in sich gleichgeartetes, vielmehr schon sozial und erst recht stammlich-kulturell um ein äußerst vielfarbiges Element. Der pommerische oder ostpreußische Großgrundbesitzer, der in Bayern oder Hessen zum Forstarbeiter abgesunken ist, paßt in sein neues Milieu weder sozial noch ethnisch hinein, auch wenn seine Arbeitsleistung befriedigt und wenn es ihm sogar gelingt, sich auf menschlicher Grundlage mit seiner neuen Umgebung freundlich zu stellen. Umgekehrt wird sich ein sudetendeutscher Industriearbeiter besonders schwer in eine holsteinische Kleinstadt harmonisch einfügen. Aber nicht nur in solchen extremen Fällen kommt es zu vielschichtigen Spannungen des Zuzüglers mit der neuen Umwelt, die der einzelne selbst hei bestem Willen und hohen ethischen Qualitäten um so weniger zu überwinden vermag, als es sich dabei eben um echte kollektive Phänomene handelt.
Der Vertriebene tritt in aller Regel in seiner neuen Umwelt nicht als Einzelgänger, sondern gruppenweise oder gar in Massen auf. Dabei überdeckt vielfach die soziale Situationsgebundenheit die ethnische Färbung oder umgekehrt. Auf beiden Seiten verdichten sich vorschnelle Verallgemeinerungen nur zu leicht zu abschätzigen Kollektivurteilen, die die Beziehungen von Mensch zu Mensch vergiften. Und je überwältigender das Schicksal der Vertreibung über den einzelnen hereingebrochen ist, desto unfähiger ist er selber — ganz abgesehen von wichtigen Unterschieden der geistigen Bewußtseinshöhe und sittlich-religiösen Reife — sich in der neuen Problematik mit ihrem seltsamen Doppelgesicht seelisch zurechtzufinden, das Zufällige vom Durchgängigen, das Vermeidbare und Überwindbare vom Unabwendlichen und Schicksalhaften, die bedrängte Situation von der gefährdeten Substanz klar zu trennen.
Hinzu kam, daß nur zum Teil durch Haß und Bosheit, großenteils auch durch Ungeschick der entscheidenden Stellen und Zwang der Umstände der einzelne durch sein persönliches Schicksal als Flüchtling zunächst wenigstens in eine Einsamkeit verstoßen wurde, die seine Desorientierung aufs Höchste steigern und den Vorgang des Sich-Zurechtfindens in der neuen Lage und Umgebung künstlich erschweren mußte. Alle Faktoren einer Atomisierung wirkten zusammen, um die von Austreibung und Flucht Betroffenen entweder ganz auf sich selbst zu stellen oder an Zufallsgenossen desselben Schicksals zu verweisen und auf diesem Wege Menschen höchst ungleicher Herkunft, Mundart, Sitte, Konfession oder sozialen Prägung wenigstens zeitweise zu elementaren \otgerneinschaften zu vereinen, die in ihrer Gruppierung kaum ein Urbild einer neuen Lebensordnung bieten, ja oft genug — z. B. in Ehedingen zur Quelle neuer Verwirrung werden konnten. Und diesem aus allen überkommenen Bindungen und Ordnungen herausgerissenen Flüchtling wurde nun noch auf Jahre hinaus das elementarste demokratische Bürgerrecht, das Recht zum freien Zusammenschluß mit seinesgleichen, fast vollkommen verwehrt. Auch als der erste Schock der Lähmung und Verzweiflung schon überwunden war und der Wille zur Schaffung neuer Ordnungen aus der Kraft der Selbsthilfe bereits erwachte, stieß dieser Impuls ins Leere, weil das Koalitionsverbol aufrechterhalten wurde. Vergeltungsmotive bei den Besatzungsmächten und ihre damalige Angst vor „irredentistischen" Gruppenbildungen, Ohnmacht und Unverstand kurzsichtiger Länderbehörden und stumpfe Gleichgültigkeit der nach dem Zusammenbruch neuentstandenen Parteien, Hartherzigkeit, Konkurrenzneid und sturer Beharrungsgeist der einheimischen Gesellschaftskreise aller Schichten wirkten zusammen, um den Akt der Atomisierung und Vermassung des ausgetriebenen Ostdeutschtums gewissermaßen zu einer Dauererscheinung zu machen. Der Anschlag traf den persönlichsten Lebenskern jedes einzelnen. Denn immer und immer wieder erlebte der (lesen ...)
Der Newsletter der Kulturzeitschrift MERKUR erscheint einmal im Monat mit Informationen rund um das Heft, Gratis-Texten und Veranstaltungshinweisen.