Abschied von der europäischen Geschichte?

Wenn denkende Menschen heute nach einer Antwort auf die Fragen unserer Zeit suchen, wenden sie sich unwillkürlich an die Vergangenheit, in der Hoffnung, in der Geschichte einen Schlüssel auch für das Verständnis der Gegenwart zu finden. Unser Nachdenken über praktische Fragen aktueller Politik greift auf die festen Vorstellungen zurück, die wir uns von der historischen Entwicklung des modernen Europa gebildet haben. So beurteilen wir die uns heute bedrängenden Probleme auf Grund von Analogieschlüssen, indem wir z. B. aktuelle russische Zielsetzungen im Lichte dessen sehen, was wir von der Politik Alexanders II. wissen, und die Gegenwart erscheint uns als eine Verlängerung der Vergangenheit, als die logische Fortsetzung einer Entwicklungslinie, die wir etwa bis zum Berliner Kongreß von 1878 oder bis zum Wiener Kongreß oder noch weiter zurück verfolgen können. Dieses Verfahren ist durchaus natürlich und in begrenztem Maße auch nützlich, da eine gewisse Kontinuität in der Politik der Großmächte zweifellos gegeben ist. Vorbehaltlos angewendet bedeutet es jedoch eine Gefahr, da es nicht berücksichtigt, was man „das Spiel des Zufälligen und Unvorhergesehenen” genannt hat, also alle neuen, spontan auftretenden Faktoren. Und es ist doppelt gefährlich dann, wenn die Auffassung einer historischen Entwicklung, auf die man sich beruft, selbst parteiisch, einseitig oder einfach falsch ist. Gerade das aber scheint mir heute allzuoft der Fall zu sein. Sehr viele unserer historischen Auffassungen sind einseitig und verfehlt und haben daher in die Beurteilung der gegenwärtigen internationalen Probleme ein gut Teil Verwirrung hineingetragen. Ich möchte hier zunächst auf einige kritische Bedenken hinweisen, die seit 1945 von namhaften Historikern erhoben worden sind.

Die Anschauung von der europäischen Geschichte, die in England und Deutschland (weniger vielleicht in Frankreich) allen wesentlichen historischen Werken zugrunde liegt, geht auf den großen deutschen Historiker Leopold von Ranke zurück. Sie wurde von ihm zuerst in der Einleitung zu seiner „Geschichte der romano-germanischen Völker” umrissen und in dem berühmten Aufsatz über „Die großen Mächte” weiter entwickelt. Für Ranke beruht die europäische Geschichte auf der Einheit und der gemeinsamen Entwicklung der „romano-germanischen Völker” — d. h. jenes gemischten Völkerverbandes, der sich infolge der germanischen Wanderungen im 5. und 6. Jahrhundert herausgebildet hatte. Diese Völker stellen, wie er sagt, eine Welt für sich dar, und diese Welt ist die Grundlage, auf der die ganze Entwicklung unserer politischen Ver- hältnisse bis zur neuesten Zeit beruht. Diese Einheit darf natürlich nicht mißverstanden werden. Jedes der großen Völker der romanisch-germanischen Welt (Franzosen, Spanier, Italiener, Deutsche, Engländer und Skandinavier) war eine Einheit für sich, sie bildeten niemals eine einzige Gemeinschaft, sondern „lagen fast immer im Krieg miteinander”. Worin also, fragt Ranke, ist dennoch ihre Einheit zu erblicken? Nicht allein darin, daß alle aus derselben oder doch einer verwandten Wurzel stammen; ihre wahrhafte Einheit, sagt er, ist erkennbar „in Idee, Tat und Entwicklung”. „Ihre inneren Geschichten hängen aufs genaueste zusammen”, und ihre „gemeinschaftliche Entwicklung rief mit Notwendigkeit in ihnen allen dieselben Ideen hervor.”

Die Einheit, von der Ranke spricht, ist also eine Einheit in der Vielfalt, besser vielleicht: eine Einheit in der Verschiedenheit; und eben diese Ansicht von der Einheit in der Verschiedenheit ist charakteristisch für die Gesamtauffassung der europäischen Geschichte, wie er sie dem westlichen Geschichtsdenken hinterlassen hat. Die unbegrenzten Möglichkeiten Europas und mehr noch die Freiheit, diese Möglichkeiten zu entwickeln, sind undenkbar ohne die Verschiedenheit, ohne das freie Spiel der politischen und wirtschaftlichen Kräfte dieser Völker. Was aber praktisch ihrem Wettstreit Existenz und Dauer verleiht, ist das System des Gleichgewichts der Kräfte, welches immer wieder im Ablauf der neueren Geschichteden wesentlichen Charakter der europäischen Kultur bewahrt, indem es die Hegemonie einer der großen Mächte verhindert. Deshalb steht in der Vorstellung Rankes und der auf ihn folgenden Historiker das „Gleichgewicht der Kräfte” im Mittelpunkt.

Für Ranke selbst ist es bezeichnend, daß er sich in seinem frühesten Hauptwerk ausgerechnet mit den Jahren 1494-1514 beschäftigte, der Periode also, in der nach seiner Auffassung der Mechanismus des Gleichgewichts zum ersten Male in der europäischen Geschichte voll wirksam war. Vom Beginn des 16. Jahrhunderts an, als das Ringen um das Gleichgewicht vor allem die Herrschaft über Italien betraf, erweitert sich der Kreis in dem Maße, wie die alten Mächte im Herzen Europas neue Gebiete und Kräfte in ihren Machtbereich einbezogen, um die bisherigen in ihrem Gleichgewicht zu erhalten. Ranke zeigt, wie infolge des Kampfes gegen die französische Hegemonie Rußland zur Zeit Peters des Großen in das europäische Konzert hineingezogen wurde. Die Entdeckung und Kolonisation der neuen Welt verlagerte dann das Ringen um das Gleichgewicht nach Übersee, wie dies in der französisch-englischen Rivalität im 18. Jahrhundert zum Ausdruck kommt. So wurde, was erst nur ein europäisches Ordnungssystem war, allmählich zu einem Weltsystem.

Gegen Ende des 19. Jahrhunderts wurde der Übergang von europäischer zu weltweiter Perspektive immer deutlicher und daher maßgebend für die Forschung einer Generation von Historikern, deren Erfahrungen vom Machtkampf in Afrika und dem nach 1870 einsetzenden neuen Imperialismus geprägt waren. Bemerkenswerterweise blieb jedoch trotz der veränderten Bedingungen ihr Glaube an die von Ranke aufgestellten Prinzipien unerschüttert. Statt diese Prinzipien im Lichte der neuen Verhältnisse kritisch zu betrachten, deuteten sie vielmehr die neuen Verhältnisse im Licht eben dieser Prinzipien. Für die Historiker dieser Generation, welche die Rankeschen Vorstellungen gleichsam mit der Muttermilch eingesogen hatten, schien es unumstößlich festzustehen, daß die eigene Nation ihren Anteil an der Beute in Afrika haben müsse, wenn ihre Stellung im Konzert der Mächte nicht Schaden leiden sollte; und für noch notwendiger erachtete man es, daß durch die Aufteilung Afrikas das Gleichgewicht der Kräfte nicht nur für Europa, sondern auf globaler Ebene bestätigt werde. In den Augen dieser Historiker hatte Ranke eine allgemeingültige, sich auf den ganzen Ablauf der europäischen Geschichte beziehende Regel aufgestellt: daß es nämlich immer einen komplizierten, sich selbst regulierenden Mechanismus politischer Kräfte geben werde, der aus sich heraus jede einseitige Bedrohung der Freiheiten, auf denen die europäische Kultur beruht, verhindern könne — einen in der politischen Sphäre jenen Prinzipien des „Laissez faire”, wie sie Adam Smith als Bedingung für das Funktionieren der wirtschaftlichen Gesellschaft gefordert hatte, verwandten Mechanismus. Beide Weltkriege sind um die Erhaltung der „balance of power” geführt worden; und obgleich beide offenkundig Weltkriege waren, schien es außer Frage, daß der empfindliche Mechanismus des Gleichgewichts der Kräfte in Europa sie ausgelöst habe und daß das Weltgleichgewicht noch immer von einem europäischen Zentrum aus bestimmt werde und von innereuropäischen Reaktionen abhänge. Rankes „romano-germanische Völkergemeinschaft” schien nach wie vor das Feld zu beherrschen, obgleich deren Besitzungen und Einflußsphären sich nunmehr über die ganze Welt erstreckten.

Als sich 1945 der Nebel über den Schlachtfeldern hob, bot das verwüstete und bombenzerrissene Europa ein sehr anderes Bild. Wo waren die großen Mächte, von deren „Einheit in der Verschiedenheit” das Leben der nun weltweit gewordenen europäischen Kultur abzuhängen schien? Was war übriggeblieben von dem System, durch welches das Gleichgewicht innerhalb einer Vielheit von Nationen so lange gewahrt worden war? An die Stelle eines europäischen Konzerts waren zwei Großmächte getreten, Rußland und die Vereinigten Staaten, von denen keine wesentlich europäisch war, und mit einigem Abstand — weil durch den zweiten Weltkrieg, wie Frankreich durch den ersten, ausgeblutet — das britische Commonwealth, dessen Schwerpunkt ebenfalls außerhalb von Europa lag. Der von diesen kontinentweiten Imperien überschattete Rest war auf den Stand von Provinzen herabgesunken, die mehr den Kleinstaaten Deutschlands vor 1870 vergleichbar waren als Großmächten, wie wir sie einst gekannt hatten.

Es war nicht schwierig, aus diesem neuen Zustand sofort praktische politische Folgerungen zu ziehen: die Apparatur internationaler Machtpolitik war den veränderten Verhältnissen bald angepaßt. Weit weniger leicht war es, für die Geschichtsforschung daraus die nötigen Folgerungen zu ziehen und die gegenwärtigen Ereignisse in historischer Perspektive zu sehen; gerade unter diesem Versagen haben die meisten politischen Spekulationen der jüngsten Zeit gelitten. Vor allem fehlte es den beiden Siegermächten an dem Redürfnis nach rückschauender historischer Analyse; beide ergingen sich in kühnen Vereinfachungen. Rußland unternahm es, die Geschichte Osteuropas nach seiner Art neu zu schreiben — und es gab sogar gute Gründe dafür, war doch die Geschichte Osteuropas allzu lange durch die westliche Brille gesehen worden; aber die russische Fassung neigte ihrerseits zu derselben Einseitigkeit wie die westliche, die sie ersetzen wollte. Die Vereinigten Staaten dagegen machten mit großzügiger Kühnheit, jedoch unter erstaunlicher Vernachlässigung der grundsätzlichen Andersartigkeit der Verhältnisse, in Bausch und Bogen Ansprüche auf die Erbschaft der europäischen Geschichte und setzten sich als Erben einer Zivilisation ein, die sich von der ihrigen den gestaltenden Kräften nach in jeder Phase der historischen Entwicklung gänzlich unterschied. In England— vielleicht, weil seine Stellung zwischen Siegern und Besiegten noch recht unsicher in der Schwebe bleibt — hat man merkwürdigerweise wenig Versuche gemacht, eine Inventur der geltenden historischen Theorien aufzunehmen und ihren Wert zu revidieren. Es blieb den Verlierern unter den Völkern vorbehalten — den dezimierten und enterbten wie den besiegten— die Grundlagen der europäischen Geschichte und somit die Grundvoraussetzungen der Forschungen von drei bis vier Historikergenerationen, zu überprüfen. Vor allem waren es die deutschen Historiker, die es nach 1945 unternahmen, die geltenden Theorien, die in Deutschland selbst vor mehr als einem Jahrhundert entstanden waren, kritisch zu sichten. Von dieser Kritik möchte ich hier hauptsächlich sprechen. Der Raum verbietet, mehr als ein paar Worte über ihre wissenschaftlichen Aspekte zu sagen. Ich gehe lieber auf die Fragen ein, die ganz nahe an das Zentrum unserer heutigen Probleme rühren. [1. Im folgenden wird der Versuch unternommen, an Hand einiger seit 1945 erschienener Veröffentlichungen, die sich um eine neue Geschichtsauffassung bemühen, zu bestimmten Schlußfolgerungen zu gelangen. An erster Stelle sind die Schriften von Ludwig Dehio zu nennen, vor allem sein Buch „Gleichgewicht oder Hegemonie. Betrachtungen über ein Grundproblem der neueren Staatengeschichte” (Schwann Verlag, Krefeld 1948). Ferner eine Reihe gewichtiger Aufsätze von ihm in der „Historischen Zeitschrift” (Bde. 170, 173, 174), von denen mir der Artikel „Ranke und der deutsche Imperialismus” (Bd. 170, 1950) am wichtigsten erscheint. Der Einfluß Amerikas auf Europa ist gut herausgearbeitet von Max Silberschmidt in „Wirtschaftshistorische Aspekte der neueren Geschichte” (Ilist. Zeitschrift Bd. 171). Die von Ranke übernommenen traditionellen Auffassungen von der osteuropäischen Geschichte kri- tisiert H. Ludat in „Die Slawen und das Mittelalter” (Die Welt als Geschichte Bd. 12, 1952). Für die Beziehungen zwischen Europa und Asien vgl. besonders René Grousset „Bilan de l’histoire” (deutsch im Europa-Verlag, Zürich 1950). Anregend und interessant, wenn auch nicht immer überzeugend ist das Werk von O. Halecki „The limits and divisions of European history” (London)]

Die erste und wohl entscheidende Frage ist, ob der offensichtliche Zusammenbruch des alten Gleichgewichtsystems nur das Resultat des zweiten Weltkriegs ist und somit vorübergehender Natur wäre, so daß wir mit der Zeit zu dem traditionellen Gleichgewicht zurückzukehren und die Weltherrschaft einer Macht bzw. die Teilung der Weltherrschaft zwischen zwei Mächten zu verhindern vermöchten. Kann das bis 1939 gültige internationale System, zwar mit anderen Partnern und in anderer Zusammensetzung, aber doch mit den gleichen Spielregeln und Grundprinzipien wiederhergestellt werden? Die Optimisten bejahen diese Frage und setzen ihr Vertrauen in die Bildung einer „Dritten Macht”, als dem eigentlichen Waagepunkt des Gleichgewichts zwischen den gegensätzlichen Mächteblocks. Die Pessimisten verneinen sie; ihre Argumente wurden von Alfred Weber in seinem Buch „Abschied von der bisherigen Geschichte” überzeugend dargelegt. Aber Weber sprach hier mehr als Philosoph und Prophet denn als Historiker; wie denn die Behauptungen beider Parteien sich mehr auf politische Spekulationen gründen als auf historische Analyse, mehr auf Prognose zielen als auf Diagnose. Als solche aber liegen sie außerhalb des Blickfelds des Historikers, dessen Aufgabe es vielmehr ist, die geschichtlichen Begründungen solcher Argumentationen zu überprüfen. In diesem Sinne wäre es Aufgabe der historischen Kritik, erstens die Lage um 1939, zweitens das Funktionieren des Gleichgewichtsprinzips zwischen 1919 und 1939 und drittens dessen Entwicklung im Verlauf der neueren Geschichte zu analysieren.

Ich kann hier nur kurz die Resultate einer solchen Untersuchung andeuten, um dann daraus einige Folgerungen für unsere Beurteilung der europäischen Geschichte abzuleiten. Zunächst einmal ist es richtig, daß vor 1939 (und im Grunde bis 1945) das Gleichgewicht der Kräfte in Europa das bestimmende Element der internationalen Politik war. Der Widerstand gegen Hitlers Anspruch auf Vorherrschaft liegt auf derselben Linie wie der frühere Widerstand gegen ähnliche Versuche Napoleons I., Ludwigs XIV., Philips II. und Karls V. Indes ist es ebenso richtig und letztlich wichtiger, daß innerhalb dieses Vergleichs die Unterschiede stärker ausgeprägt sind als die Übereinstimmung, und daß das Übergewicht Europas schon nach 1919 nur mehr scheinbar vorhanden war. Bereits infolge des ersten Weltkrieges hatten die europäischen Mächte in der internationalen Politik beträchtlich an Bedeutung und Ansehen eingebüßt; nur war dies dank dem eher zufälligen Ausscheiden der beiden großen Weltmächte Rußland (nach der Revolution von 1917) und Amerika (nach dem Sturz Wilsons) aus dem politischen Konzert verborgen geblieben.

So schien das System des Gleichgewichts der Kräfte unter Führung Frankreichs fortzubestehen — freilich als ein armseliger Schatten seiner selbst und, wie sich an dem meteorhaften Wiederaufstieg Deutschlands unter Hitler zeigte, gänzlich unfähig, seine wesentliche Funktion auszuüben. Tatsächlich war bereits seit 1918 die Macht von den kontinentalen auf die Randgroßmächte übergegangen. Die Niederlage des kaiserlichen Deutschlands war ebenso durch das erdrückende Übergewicht der Vereinigten Staaten bewirkt worden wie 1945 der totale Zusammenbruch Hitler-Deutschlands Rußland und Amerika zuzuschreiben war. In beiden Fällen soll man den Anteil Englands und des Commonwealth nicht unterschätzen noch behaupten, daß es ohne Rußland und Amerika zu einem totalen Sieg Deutschlands gekommen wäre; dennoch steht fest, daß nur infolge dieses Eingreifens das faktische Ergebnis innerhalb einer verhältnismäßig kurzen Zeit erreicht werden konnte und anders überhaupt nicht denkbar war. Europa allein, selbst wenn wir Großbritannien zu Europa rechnen, war außerstande, seine Probleme zu lösen. Es bedurfte des Druckes außereuropäischer Mächte, um eine Hegemonie zu verhindern, die für die auf einer Vielfalt freier Staaten beruhenden Werte der europäischen Kultur verhängnisvoll geworden wäre.

Blicken wir auf frühere Kämpfe gegen andere, die Vorherrschaft anstrebende Mächte zurück, so sehen wir, daß diese Zuflucht zu außereuropäischen Kräften nicht Ausnahme, sondern Regel ist. Man behauptet gewöhnlich immer noch, daß nationale Erhebungen — der Befreiungskrieg in Deutschland und das „spanische Geschwür” — entscheidend die

Niederlage Napoleons herbeigeführt hätten; doch liegt in beiden Fällen die Übertreibung auf der Hand. Ohne die vorhergehende Niederlage Napoleons in Rußland hätte es keinen Befreiungskrieg gegeben, und die Bedeutung des „spanischen Geschwürs” war, daß es das Eindringen der Armeen Wellingtons ermöglichte. Napoleon wurde durch Mächte niedergeworfen, die ihre Kraftquellen außerhalb Europas hatten: Rußland in seinen weiten asiatischen Gebieten jenseits des Ural, England in seinen Besitzungen in der Neuen Welt. Und schon vorher war dies nicht anders gewesen. Die Seemächte England und Holland besiegten Ludwig XIV. dank ihrer Übermacht zur See und ihrer kolonialen Hilfsquellen. Als im 16. Jahrhundert Karl V. Anspruch auf die Vorherrschaft in Europa erhob, scheiterte er an den Türken. Frankreich und seine europäischen Verbündeten waren nicht stark genug; es bedurfte des Druckes des Osmanischen Reiches, um die Freiheiten Europas zu retten.

Wenn diese Tatsachen lediglich besagten, daß sich, wie es die Schulmeinung war und ist, der Geltungsbereich des Prinzips der „balance of power” gleich einem sich von seinem europäischen Mittelpunkt aus ständig erweiterndem Kreis ausgedehnt habe, so wäre das nicht von entscheidender Bedeutung. Bei näherer Betrachtung ergibt es sich indes, daß es sich damit anders verhält. Die Randmächte, besonders die maritimen, deren Potenz aus nicht-europäischen Quellen stammt, gehorchen eigenen Gesetzen, die von denen des europäischen Gleichgewichts verschieden sind. Bereits im 17. Jahrhundert war es bezeichnend, daß England und Holland trotz ihrer kommerziellen und kolonialen Rivalität, die bereits zu bewaffneten Konflikten Anlaß gegeben hatte, sich gegen Frankreich zusammenschlössen; bezeichnend wiederum, daß trotz der „Russischen Dampfwalze”, die der britischen Politik fast während des ganzen 19. Jahrhunderts Sorge bereitete, sich niemals ein ernsthafter Konflikt zwischen diesen beiden Mächten ergab; am bezeichnendsten aber, daß der Interessenkonflikt zwischen England und denVereinigten Staaten, den die Staatsmänner des Kontinents ein Jahrhundert und länger in ihre Rechnung einer Brechung der englischen Seeherrschaft einsetzten, niemals zum Ausbruch kam. Der wahre Grund dafür ist, daß sich die Politik in zwei verschiedenen Sphären, einer globalen und einer europäischen, abspielte, die, obgleich England das Zwischenglied bildete, nicht aufeinander übergriffen oder gar miteinander verschmolzen. Über vier Jahrhunderte hatte das Prinzip der „balance of power” die Wirkung einer ständig zunehmenden Aufspaltung Europas in immer kleinere Einheiten, bis diese Aufspaltung ihren Höhepunkt in der Schaffung der osteuropäischen Kleinstaaten durch den Versailler Vertrag erreichte, die zu klein, zu schwach und zu zerrissen waren, als daß sie ihre Unabhängigkeit gegen einen Angriff von Osten oder Westen hätten wahren können. Freiheit wurde mit einem steten Verlust an Macht bezahlt, den Europa schließlich in seiner Gesamtheit erlitt.

Wie anders verlief die Entwicklung im außereuropäischen Bereich! Hier hat sich überall die Tendenz durchgesetzt, unter bewußtem Ausschluß des Teilungsprinzips immer größere Herrschaftsräume herauszubilden. Jeder europäische Krieg endete mit einer größeren Aufspaltung, jeder Kolonialkrieg mit größerer Zusammenfassung. Das war bereits im 17. und 18. Jahrhundert erkennbar; im 19. wurde es nur noch deutlicher. Die Verkündung der Monroe-Doktrin bezeichnete den endgültigen Ausschluß des Prinzips des Gleichgewichts der Kräfte für Amerika. In Asien haben England und Rußland trotz ihrer Rivalität bei jeder Krise bewußt den Eintritt einer dritten Macht — sei es Deutschland, sei es Japan — verhindert, die die Möglichkeit zu ausbalancierenden Mächtekombinationen, wie sie in Europa üblich waren, geboten hätte. In Afrika stellten Besitzungen wie die der Belgier und Portugiesen ein bloßes Überbleibsel dar, das man hinnahm, weil es das angelsächsische Übergewicht nicht beeinträchtigte. Innerhalb Europas wurde jedes drohende Übergewicht einer Macht bekämpft und zunichte gemacht, während sich außerhalb Europas das Hegemonial-Prinzip absolut durchsetzte.

Diese Tatsachen haben weitreichende Auswirkungen auf die Politik unserer Zeit; sie erwecken aber auch begründetes Mißtrauen gegen die üblichen Prognosen hinsichtlich des weiteren Verlaufs der europäischen Geschichte. Wenn tatsächlich das europäische Gleichgewicht nicht auf die globale Ebene übertragen wurde und die Weltpolitik einer anderen Gesetzlichkeit folgt als diejenige Europas, wo stehen wir dann heute, da Europa einem ausgebrannten Krater gleicht? Und welchen Nutzen haben unter solchen Umständen die „Lehren” der europäischen Geschichte, wie sie für gewöhnlich verkündet werden? Wenn die Werte, auf denen unsere Kultur beruht, von dem Nebeneinander einer Vielheit kleiner souveräner Staatengebilde abhängen, was soll dann in Zukunft aus diesen Werten in einer Welt werden, in der höchstens drei Mächte ihren Anspruch auf Souveränität im alten Sinn behaupten können? Und wenn die Freiheiten Europas zu ihrer Verteidigung stets auf die Hilfe außereuropäischer Mächte angewiesen waren, was haben wir dann von einer Geschichtstheorie zu halten, die nicht nur die westeuropäischen Völker — diesen „unvergleichlichen Verein” (Ranke) — in den Mittelpunkt stellte, sondern die ganze europäische Geschichte als in sich selbständig und eigenen Gesetzen folgend behandelte — zwar natürlich auf die Welt einwirkend, aber in ihrem Wesen doch nicht entscheidend von außen beeinflußt? Die erste Folgerung, die ich daraus ziehen möchte, ist, daß die alte Auffassung von Westeuropa als einer Welt für sich, als einer komplexen Ganzheit eng miteinander verbundener Völker, die seit dem Zusammenbruch des Römischen Reiches ihrem eigenen Entwicklungsgesetz folgt, aufgegeben werden muß. Man kann die Geschichte Europas — dieser Halbinsel Asiens, wie Valery es nennt — nicht isoliert betrachten. Im Gegensatz zu Toynbee, für den die westliche Gesellschaft für sich genommen ein „in sich überschaubares Forschungsfeld” darstellt, sehen wir in der Verflechtung Europas mit der übrigen Welt den entscheidenden Faktor im Prozeß der europäischen Geschichte; ohne diesen Druck von außen bliebe jede Phase der europäischen — und erst recht der westeuropäischen — Entwicklung unverständlich. Das gilt nicht nur für die Gegenwart, wo es offen am Tage liegt, und für die jüngere Vergangenheit, sondern für die europäische Geschichte in ihrer Gesamtheit. Wenn ich den französischen Historiker Grousset recht verstehe, ist die Quintessenz seiner These, daß Europa sogar im Mittelalter — also zu der Zeit, als es am meisten von der Außenwelt abgeschlossen zu sein schien — von einem Druck von Seiten Asiens niemals frei war; an jedem Wendepunkt der mittelalterlichen Geschichte waren es asiatische Völker (Hunnen, Avaren, Bulgaren, Magyaren, Türken), die eine neue Entwicklung erzwangen. Und wenn dies für den Einfluß Asiens gilt, um wieviel mehr für den der blühenden arabischen Kultur, die von Nordafrika bis nach Spanien und Sizilien reichte.

Ebenso wenig können wir in der ganzen Periode, die wir „Mittelalter” nennen, das westliche vom östlichen Europa trennen. Die Gegenströme laufen nicht nur von und nach Byzanz, sie waren auch zwischen den westlichen Völkern und den Slawen stark und dauerhaft. Auch diese Aspekte der europäischen Geschichte dürfen nicht übersehen werden, wenn wir zu richtigen Einsichten gelangen wollen; denn dieselbe Kurzsichtigkeit, die zur Vernachlässigung des byzantinischen Einflusses in der mittelalterlichen Geschichte geführt hat, verschuldete ja auch die Unterschätzung des amerikanischen Einflusses auf Europa im 19. Jahrhundert. Mit anderen Worten: man darf nicht etwa meinen, die herrschende Auffassung von der europäischen Geschichte sei zutreffend, soweit es sich um die Zeit bis 1914 handelt, und wir brauchten, um sie auf den heutigen Stand zu bringen, nur einige ergänzende Kapitel unter der Überschrift „Rußland” und „Amerika” hinzuzufügen. Vielmehr haben wir es mit einer Geschichtsauffassung zu tun, die im Prinzip irreführend ist, insofern sie Westeuropa in der Betrachtung isoliert und ihm ein falsches Übergewicht gibt. Sie bedarf darum nicht nur in bezug auf die letzten Abschnitte, sondern für den ganzen Geschichtsbereich seit dem frühen Mittelalter einer Revision.

Zwei Beispiele mögen dies erläutern. Das eine betrifft unsere Einstellung zu den zwei großen Revolutionen des 18. Jahrhunderts: Niemand kann heute mehr übersehen, daß die amerikanische Revolution, d. h. die Errichtung der ersten unabhängigen Großmacht in der Neuen Welt, den Beginn der neuen Ära der Weltpolitik bezeichnet, in der wir uns noch heute befinden. Dennoch ist nicht zu leugnen, daß unser Geschichtsunterricht der Französischen Revolution weit breiteren Raum gibt als der amerikanischen. Zwar wird die amerikanische Geschichte heute weder auf den Schulen noch auf den Universitäten mehr vernachlässigt. Aber darum geht es hier nicht; denn sie gesondert zu behandeln, als ein selbständiges Kapitel neben dem der europäischen Geschichte, heißt denselben Fehler begehen, der für die Behandlung der europäischen Geschichte kennzeichnend war. Heute bedarf es eines Geschichtsbildes, das den Einfluß der amerikanischen Republik auf die ganze Welt und auf Europa im besonderen erkennen läßt. Denn obgleich die Vereinigten Staaten fast während des ganzen 19. Jahrhunderts noch außerhalb des Konzerts der Großmächte standen und scheinbar keinen direkten politischen Einfluß auf die internationalen Angelegenheiten ausübten, kann doch ihr wirtschaftlicher Einfluß von der Zeit Napoleons an kaum überschätzt werden. Wer wollte etwa die politische Bedeutung der Auswanderung nach Amerika, die einen großen und vermutlich revolutionären Bevölkerungsüberschuß von Europa abzog, als geschichtlichen Faktor für das Europa des 19. Jahrhunderts leugnen? Und wer könnte die politischen Folgen der amerikanischen Immigrationspolitik nach 1918, die das europäische Sicherheitsventil schloß, außer acht lassen? Gerade weil unser Geschichtsdenken für diese Dinge blind war und die Geschichte Europas als eine unabhängige, nur ihren eigenen Gesetzen folgende Kette von Ereignissen betrachtete, konnte uns das amerikanische Übergewicht im Augenblick, als es akut wurde, so sehr überraschen und uns als ein revolutionäres Eieignis statt als Höhepunkt einer jahrhundertealten Tendenz erscheinen. Die europäischen Historiker hatten solange in europäischen Begriffen gedacht, daß ihnen der Gedanke an ein Ende des europäischen Zeitalters unfaßbar war.

Sie sprachen und sprechen noch — und damit kommen wir zu unserem zweiten Beispiel — von den Jahren zwischen 1870 und 1890 als von dem „Zeitalter Bismarcks”. Inwieweit aber ist diese Bezeichnung zutreffend? In einem ausschließlich europäischen Sinn gewiß. Bismarck hatte Deutschland zu einer der führenden kontinentalen Mächte gemacht; aber zu den führenden kontinentalen Mächten zu gehören, war nicht mehr wie in den Tagen Ludwigs XIV. oder Napoleons gleichbedeutend mit der Tatsache, eine führende Weltmacht zu sein, wie Deutschland nach Bismarcks Sturz zu seinem Schaden erfahren sollte. Ein einziger Historiker, soweit ich sehe, erkannte die wahre Lage — bezeichnenderweise ist sein Ansehen in Vergessenheit geraten: T. R. Seeley. In seiner Darstellung der internationalen Lage von 1883, des Höhepunkts also der Bismarckschen Ära, erwähnt er Bismarck überhaupt nicht und Deutschland nur nebenbei. Für ihn gab es außer dem britischen Empire nur zwei Großmächte: Rußland und Amerika — „riesige politische Gebilde”, die, wie er voraussagt, in 50 Jahren „die heute noch als Großmächte bezeichneten Staaten an Einfluß in dem Maße übertreffen werden wie die großen Nationalstaaten des 16. Jahrhunderts den Stadtstaat Florenz”. Wer möchte heute bezweifeln, daß Seeley damit recht hatte? Bismarck war gewiß ein großer Staatsmann, aber er war es als der letzte des europäischen Zeitalters, der nach den Regeln des europäischen Gleichgewichtsprinzips zu handeln versuchte. Als die kontinentale Aufgabe der Einigung Deutschlands gelöst war, und das neue Deutschland an der Seite Englands, Rußlands und Amerikas „einen Platz an der Sonne” beanspruchte, war Bismarck recht eigentlich in der Lage eines Fisches auf dem Trockenen; es begann jene lange Reihe verzweifelter und hoffnungsloser Unternehmungen, die nur zu klar zeigten, daß das von späteren Historikern so genannte „Zeitalter Bismarcks” eine Ära war, die Bismarck weder voll zu verstehen noch zu beherrschen vermochte.

Die heute noch vorherrschende Auffassung der Geschichte Europas spiegelt die Ansichten eines Zeitalters wider, in welchem, allem äußeren Anschein nach, das Übergewicht und die Führung bei den westeuropäischen Mächten lagen und diese mit ihrem Ausgreifen auf die neue Welt, auf Asien und Afrika scheinbar anfingen, die Herrschaft Europas über die Welt und eine Weltordnung zu errichten, die nur eine erweiterte Fassung der europäischen Ordnung darstellte und wie diese nach den erprobten Prinzipien des Gleichgewichts der Kräfte gelenkt wurde. Ranke, der in der Zeit der auf die napoleonischen Kriege folgenden Windstille schrieb, meinte in der Niederwerfung Napoleons durch England und Rußland eine Bestätigung des alten europäischen Systems zu finden. Er übersah, daß die Französische Revolution von innen und das Übergewicht der außereuropäischen Mächte von außen her die ersten Ursachen des Zusammenbruches gerade dieses Systems waren. Sein Blick war getrübt durch eine falsche Vorstellung von Kontinuität und eine falsche Ehrfurcht vor nur mehr historischen Faktoren. Sie verleiteten ihn dazu, sich nahezu ausschließlich auf die Mächte zu beschränken, welche die Bühne in der Vergangenheit beherrscht hatten, als ob ihnen nach göttlichem Gesetz bestimmt sei, ständig zu herrschen. Wie bezeichnend, daß er in der Abhandlung von 1833 über die „Großen Mächte” Amerika nicht einbezieht. Andererseits war sein fast verächtliches Übergehen der östlichen Völker veranlaßt durch die vorgefaßten Meinungen einer Zeit, in welcher Osteuropa einerseits von der türkischen Herrschaft überflutet und andererseits zwischen Rußland, Österreich und Preußen aufgeteilt war.

Es gehört zu unseren dringendsten Aufgaben, uns der Beschränktheit dieser Geschichtsauffassung bewußt zu werden. Schon dem mittelalterlichen Europa war sie unangemessen, und für das moderne Europa hörte sie genau zu der Zeit auf, gültig zu sein, in der Ranke schrieb. Freilich gab es auch Zeiten, in denen sich Westeuropa dank einer besonderen Weltkonstellation verhältnismäßig unabhängig nach seinen eigenen Gesetzen entwickeln konnte, wie auch zuweilen der Druck Europas auf die Außenwelt stärker war als der der Außenwelt auf Europa. Aber solche Perioden können in keiner Weise als die Regel gelten. Sie sind eher Wellentälern zwischen den großen Sturzwellen zu vergleichen, die an den Ufern der Zeit aufbranden. Vergegenwärtigen wir uns die europäische Geschichte, so beobachten wir, wie die Wellentäler immer flacher und die Sturzwellen immer mächtiger werden, bis diese am Ende die letzten noch aufragenden Felsen überfluten. Unzweifelhaft hat der technische Fort- schritt diesen Rhythmus beschleunigt. Der Zusammenbruch Wilhelms II. und Hitlers erfolgte sehr viel schneller als der Napoleons, wie auch das Intervall zwischen 1918 und 1939 viel kürzer war als das zwischen 1815 und 1914.

Unser Uberblick geht von der Überzeugung aus, daß der russische Sieg von Stalingrad 1943 eine totale Revision des europäischen Geschichtsbildes unerläßlich gemacht hat. Nun mag man es für paradox halten, wenn ich unter dieser Voraussetzung dennoch die These vertrete, eine so wenig wie möglich politisch eingestellte, eine die Tatsachen der Vergangenheit möglichst objektiv betrachtende Geschichtsauffassung habe auch für die Gegenwart den größten Wert. Der Widerspruch ist mehr scheinbar als wirklich. Wenn es der Erschütterung von Stalingrad bedurfte, um uns die Augen für die Grenzen unserer westlichen Geschichtsschreibung zu öffnen, so gerade deshalb, weil die ihr zugrundeliegenden politischen Vorurteile uns für die tatsächlichen Machtverhältnisse im Jahre 1943 blind gemacht hatten. Sie waren sicherlich zumeist unbewußt, aber deshalb nicht weniger irreführend. Man darf freilich nicht von einem Extrem ins andere fallen und, wie es die russische und amerikanische Geschichtsschreibung (auf entgegengesetzten Wegen) heute tun, eine politische Geschichtsauffassung durch eine andere ersetzen. Im Rückblick auf das Geschehen hat es der Historiker leicht, weise zu sein; unvergleichlich schwerer ist es für ihn, die eigene Zeit richtig zu beurteilen. Je umfassender jedoch sein Blick ist und je mehr er sich bestrebt, sich von nationalen Voreingenommenheiten zu befreien, desto eher wird er der Vergangenheit eine auch für die Gegenwart gültige Konzeption abgewinnen können. Längst vor 1939 gab es — wie Seeley und Tocqueville vor ihm beweisen — Anzeichen genug für die Richtung, in der sich die Dinge bewegten. In einer objektiven Geschichtsschreibung würden sie an ihrem Platz vermerkt worden sein; in unsere vorgefaßten Meinungen paßten sie nicht hinein, und so wurden sie über Bord geworfen.

Heute ist es klar, daß unser altes Geschichtsbild nicht mehr genügt. Der Westen gibt nicht mehr den Ausschlag, wenn er überhaupt jemals ausschlaggebend war. Der Krieg von 1939-45 war wie gesagt der letzte Krieg alten Stils, der letzte der seit Karl V. um die europäische Vorherrschaftgeführten Kriege. Schon hat der weltumfassende Gegensatz zwischen den Vereinigten Staaten und Rußland, der Kampf um die Welthegemonie, den Schwerpunkt von Europa nach dem Pazifik verlagert. Die neuen politischen Verhältnisse schließen so viele jenseits der geschichtlichen Erfahrung liegende Faktoren ein, daß der Historiker nicht mehr tun kann als darauf hinweisen, daß unsere Kenntnis der europäischen Geschichte in der gegenwärtigen Situation uns nicht mehr sicher zu orientieren vermag.

Die Aufrechterhaltung des europäischen Gleichgewichtssystems und der Werte, die dieses System garantierte, ist immer davon abhängig gewesen, daß Europa nur ein Teil der weiteren Welt war und daß stets außereuropäische Kräfte herbeigerufen werden konnten, um dieses Gleichgewicht zu sichern. In einem politischen System, das die ganze Welt umspannt, ist dies offensichtlich nicht mehr der Fall: hier gibt es keine außenstehenden Mächte mehr, und der ganze Mechanismus muß folglich ein völlig anderer sein. Was wir von der Geschichte der heutigen Weltmächte wissen, kann unsere Warnung nur verstärken. Alles in allem zeigen die Beziehungen zwischen England, Rußland und den Vereinigten Staaten mehr Unterschiede gegenüber denen der kontinentaleuropäischen Mächte untereinander als Ähnlichkeiten mit ihnen. Während die europäische Geschichte auf die Aufrechterhaltung eines Konzerts gleichstarker Mächte und kleiner nationaler Einheiten abzielte, bewegte sich die Geschichte der Welt im großen in entgegengesetzter Richtung: sie tendierte dahin, riesige politische Gebilde zu schallen, von denen keines im europäischen Sinn eine „nationale” Einheit darstellt. Wer möchte es unter solchen Umständen wagen, die Linie von der Vergangenheit über die Gegenwart einfach in die Zukunft zu verlängern, und behaupten, daß sich die politischen Konstellationen unserer europäischen Vergangenheit in Zukunft nur in weltumfassendem Maßstab wiederholen werden? Denn noch anderes kommt ja hinzu: Einmal die problematische Lage des britischen Commonwealth,            das sich ebenso schwer der neu heraufkommenden Welt wie der alten einfügen läßt. All dies aber wird noch überschattet von dem beunruhigenden Wechsel in den Beziehungen zwischen der weißen und der farbigen Rasse. Könnte es doch sein, daß in einigen Jahrhunderten der zweite Weltkrieg nicht mehr als der letzte in der langen Reihe erfolgreicher Kämpfe zur Verhinderung einer europäischen Hegemonie erschiene, sondern als der entscheidende Konflikt, in welchem Europa durch Selbstmord seine Herrschaft den farbigen Völkern auslieferte.

 Es ist nicht Sache eines Historikers, mit einer Prophezeiung zu schließen. Ich kann nicht einmal mit der Aufstellung einer Richtlinie für eine neue Geschichtsschreibung aufwarten. Vielleicht läßt sich heute nicht mehr sagen, als daß sich unsere Fragestellung von Grund auf verändert hat; daß wir nicht länger mit Ranke fragen, „wie es eigentlich gewesen?”, sondern mit Dehio: „Wie ist es dazu gekommen?” Darüber hinaus kann der Historiker einzig versuchen, die Irrtümer seiner Vorgänger zu vermeiden, vor allem jene falschen Voraussetzungen und vorgefaßten Meinungen, mit denen sie an ihre Aufgabe herangingen. Deren schlimmste war die auch heute noch so verbreitete Neigung, die Vergangenheit einfach in die Zukunft zu projizieren. Dieses Verfahren verfälscht die Vergangenheit, weil es diejenigen Faktoren in ihr übersieht, denen keine besondere Bedeutung für die Gegenwart innezuwohnen scheint; noch mehr aber verfälscht es die Gegenwart, weil es das, was Nietzsche den „kräftigen Entschluß zum Neuen” nennt, nicht in Anschlag bringt, der sich doch ungehindert durch Traditionen an jedem großen Wendepunkt der menschlichen Geschichte Bahn bricht.

Ein weiterer dieser Irrtümer besteht darin, daß man von dem Studium der Geschichte zu viel verlangt: Keines der Probleme der Gegenwart ist oder war jemals allein aus den Bedingungen seiner Geschichte heraus verständlich. Das soll aber nicht heißen, daß Geschichte eine sinnlose Beschäftigung sei und zum Verständnis der Gegenwart keinen Beitrag zu leisten habe. Für den einzelnen, der unter allen Umständen einen Wertmesser in einer erschütterten Welt suchen muß, kann eine Universalgeschichte, die über Europa und den Westen hinaus die ganze Welt in den Blick bekommt, von elementarer Bedeutung sein: sie kann ihm, wie vielleicht nichts anderes in unserer verworrenen Zeit, dazu helfen, sich seines eigenen Standortes bewußt zu werden und seine Lage nicht als an sich gut oder schlecht, sondern als notwendig zu erkennen. Wollte der Historiker mehr erreichen, so geriete er in die Gefahr, nicht nur den einzelnen, sondern ganze Völker in die Irre zu führen; wollte er sich jedoch mit weniger begnügen, so würde die Geschichtsforschung, wie das schon so oft der Fall war, ihre lebensnotwendigste Aufgabe verfehlen.