Nachgefragt: Christian Demand und Cord Riechelmann zur Theorie der Demokratie
Im Novemberheft des Merkur bespricht Cord Riechelmann einen Edition-Suhrkamp-Band zur Demokratietheorie, der von Alain Badiou bis Giorgio Agamben, von Wendy Brown bis Slavoj Zizek einige der bekanntesten (und/oder notorischsten) Namen der Theorielinken versammelt. Merkur-Herausgeber Christian Demand hat das Buch mit sehr viel mehr Skepsis gelesen als der Rezensent. Im Folgenden die E-Mail-Diskussion zwischen beiden.
***
Christian Demand: Sie haben für das Novemberheft das Bändchen Demokratie? Eine Debatte rezensiert, das Beiträge von Autoren und Autorinnen aus dem Diskursuniversum der französischen Linksintellektuellen versammelt. Bei allen Unterschieden in der Akzentuierung kommen diese – mal eher zerknirscht, mal eher triumphierend – in der Feststellung überein, der Begriff der Demokratie sei eine Chimäre. Es gebe nun einmal kein Volk im Singular, die der politischen Willensbildung deshalb notgedrungen vorgeschalteten Filter korrumpierten zwangsläufig das demokratische Ideal von Gleichheit und Gerechtigkeit. Nun gehört dieser Einwand, über den ja schon seit Rousseaus Diskussion des Verhältnisses von volonté générale und volonté de tous debattiert wird, zum Pflichtprogramm politikwissenschaftlicher Proseminare. In welcher Hinsicht überschreiten die Beiträge des von Ihnen rezensierten Bändchens diesen Kenntnisstand?
Cord Riechelmann: Mein Eindruck ist, dass die an deutschen Universitäten und ihren Seminaren vorherrschende volonté générale die Angst ist, und nicht der Mut zu heiligem und absolutem Ernst, den Rousseau in der volonte générale am Werk sah. Als eines der vielen Beispiele für meine These kann man Jan Kedves‘ konzentrierten Bericht von Rainalds Goetz Seminar als Gastprofessor an der FU im Merkur lesen. Gegen die Herrschaft der Angst setzen alle acht Autorinnen und Autoren des Bandes eine antidepressive Ontologie – wie übrigens auch Goetz –, in der der Mut der Motor des Denkens ist und nicht die Angst. Was mit Sicherheit damit zu tun hat, dass niemand von ihnen Professor an einer deutschen Universität ist. Hinzu kommt, dass sie alle wissen, wer Louis Althusser ist, und deshalb mit einem Ideologiebegriff arbeiten, der sie selbst einschließt. An das sogenannte Ende der Ideologien haben sie nie geglaubt und das unterscheidet sie von jedem deutschen politikwissenschaftlichen Seminar wie auch von der absoluten Mehrheit des deutschen Feuilletons, in und nach denen Ideologie immer nur die anderen haben, nie man selbst, was für Althusser eines der Kennzeichen der Ideologie ist. Kurz: Die Lektüre des schmalen Bandes erspart einem jedes deutsche Politikstudium im Bachelormodus, einfach weil alle darin ernsthaft nach der ursprünglichen Bedeutung der Begriffe „Demokratie“ und „Politik“ suchen und zu dem Ergebnis kommen, dass Politik einmal Streit, Konflikt und Kampf bedeutete, also das Gegenteil des berühmten „Konsenses der Demokraten“, den man auch mit dem Wort „Polizei“ beschreiben kann.
Aber ist der antiakademische Furor, der in diesem Band zelebriert wird, nicht doch über weite Strecken vor allem rhetorisches Posing? Ihr Plädoyer würde mir jedenfalls deutlich mehr einleuchten, fiele der Ertrag all der aufwendig ineinander verschränkten Reflexionsbemühungen etwas handfester aus. Leider aber versanden nahezu alle Texte nach einem mehr oder weniger scharfsinnigen demokratiekritischen Aufgalopp in biederen Allgemeinplätzen vom Typ „Die Demokratie muss sich ständig neu erfinden!“. Einzig Alain Badiou mit seinem schrillen Ruf nach einem neuen Kommunismus scheint zunächst eine verbindliche Setzung zu wagen. Aber auch er bleibt die Antwort auf die Frage schuldig, wie der Hiatus zwischen dem philosophischen Reich der reinen Wahrheit und der politischen Realität kontingenter Beschlussverfahren überzeugender geschlossen werden könnte als unter den gegebenen Verhältnissen. So ist seine Intervention letztlich um keinen Deut konkreter als die der anderen. Worin unterscheidet sich diese Form der politischen Selbstreflexion aus der programmatischen Vogelschau dann eigentlich noch wesentlich vom akademischen Durchschnittsdiskurs, wenn wir von der inszenatorischen Finesse einmal absehen?
Vielleicht ist Alain Badiou für den Hiatus zwischen der Wahrheit und den bestehenden Politikverfahren tatsächlich die exemplarische Figur dieses Bandes, obwohl er, wenn es um das Wählen geht, allein da steht. Als bekennender Nichtwähler sieht er bei parlamentarischen Wahlen einfach keine Wahl: Wählen kann man nur zwischen unvereinbaren Sachen wie der Wahrheit und der Macht, aber nicht zwischen Verwandten wie Pest und Cholera. Badiou ist aber, auch wenn er nicht so institutionengläubig ist wie Michel Foucault es war, ein klassisches Kind der Institutionen bzw. der Ecole Normale Superieure (ENS). Bereits seine Eltern waren Normaliens, und nachdem Sartre ihm Anfang der sechziger Jahre als sehr jungem Mann die Hand auf die Schulter gelegt hatte, galt er in Paris als der Begabteste seiner Generation. In den Institutionen entwickelt er sein Denken, fällt in den Gremien aber nicht durch Höflichkeit auf, sondern durch schroffe Direktheit. Aber selbst die, die ihn nicht mögen, bescheinigen ihm, dass er mit seinen Nervereien die Institution belebt habe, die Philosophie zum Beispiel wieder geöffnet habe in Richtung der „harten“ Wissenschaften wie Mathematik und Physik.
Dabei hält er noch als später Direktor der ENS Abstand zur Macht: Er ist bis heute einer der wenigen Philosophen, die nie mit einem französischen Präsidenten zum Essen gegangen sind, das unterscheidet ihn selbst von Deleuze, der mit Mitterand essen ging. Und mit seiner politischen Organisation, der Organisation politique (OP), setzt er sich für die Rechte der Sans papiers, der rechtlosen Einwanderer, ein und fordert freien Zugang zu Bildung und Gesundheitswesen für alle, also vor allem für die, die das nicht haben. Anliegen im übrigen, die der deutsche Professor Clemens Pornschlegel meint als „ominös“ bezeichnen zu müssen. So viel zum „akademischen Durchschnittsdiskurs“.
Es geht bei Badiou immer um die Frage, von welchen Punkten her es in den heutigen Demokratien im Status der Situation möglich ist, Änderungen zu erzwingen. Die Betonung liegt dabei auf Punkten, und der erste Punkt ist immer der, wo man gerade selbst steht. Das ist das Gegenteil eines anderen deutschen Professors, der sich hierzulande sogar um das Denken Badious bemüht hat, der einem wirklich ohne Witz sagte, er sei jetzt in einen Excellenzcluster eingestigen „wie alle anderen auch“. Das ist wie Warhol, der einmal auf die Frage, wie er zu Imelda Marcos gekommen sei, geantwortet hat: „Mit dem Flugzeug, wie alle.“ Lustig ist das Leben neben der Macht. Oder nehmen wir Peter Sloterdijk, der ja über Slavoj Zizek in diesen Band kommt. In Sloterdijks Notizen Zeilen und Tage gibt es ein durchgängiges Motiv: Ihn stören das Gleichheitsprinzip und die Französische Revolution, die ja tatsächlich zusammengehören. Sloterdijk fragt dann, woher die beiden kommen und findet dafür die Formel, dass sie „theo-mathematischen“ Ursprungs seien. Auf deutsch und in der richtigen historischen Reihenfolge heißt das: Die Wissenschaft, die Mathematik und die monotheistischen Religionen sind der Ursprung des für Sloterdijk nicht guten Gleichheitsprinzips. Das stimmt und stimmt, wie mein Mathematiklehrer immer gesagt hat, wenn was stimmte. Interessant ist aber, dass Sloterdijk selbst keinen Widerspruch darin sieht, von diesem Denken aus immer wieder mit Frank-Walter Steinmeier essen zu gehen und mit Peer Steinbrück über die Öffnung der SPD für neue intellektuelle Schichten nachzudenken. Mit dem Demokratieband kann man anfangen, diese inszenatorische Finesse politisch zu denken.
Verschwimmen bei dieser Apologie nicht Urteilskategorien, die besser auseinanderzuhalten wären? Ist beispielsweise Badious Engagement für die „sans papiers“, so ehrenwert es als solches auch sein mag, wirklich relevant für die Frage nach dem Gehalt seines Beitrags zu dem vorliegenden Sammelband? (Einmal ganz abgesehen von der Frage, ob ein solches Engagement nicht ebenso aus entgegengesetzten politischen und demokratietheoretischen Prämissen erwachsen könnte.) Meine Skepsis betrifft keineswegs die Lebensleistung der Autoren oder gar ihre persönliche oder politische Integrität. Mir geht es um die schlichte Frage, ob dieses konkrete Buch als eigenständige Publikation überzeugt, ob es das Versprechen der Herausgeber erfüllt, die aktuellen Demokratiedebatten signifikant zu bereichern. Und da habe ich nach wie vor meine Zweifel. Mir kam das ganze eher wie eine Art Diskurstrailer vor, ein Teaser für eine Diskussion, die – ich möchte das gar nicht anzweifeln – an anderer Stelle stattgefunden hat bzw. stattfinden mag, aber leider eben nicht in diesen Texten. Könnte es sein, dass unsere unterschiedliche Bewertung wesentlich mit dieser unterschiedlichen Visiereinstellung zu tun hat?
Ja, das ist bestimmt so. Womit die Herausgeber aber Recht behalten, ist, dass sie hier divergierende Positionen vorstellen, die am Rahmen zerren, an den Rahmenbedingungen, unter denen Demokratie in der staatlich sanktionierten Spielform nicht nur von den Grünen als „alternativlos“ präsentiert wird. Die realexistierende Demokratie, die viele – nicht nur Colin Crouch – als Postdemokratie bezeichnen, ist ja nichts anderes als „die Praxis und das Denken einer restlosen Übereinstimmung zwischen den Formen des Staates und dem Zustand der gesellschaftlichen Verhältnisse“, wie Jacques Rancière es nennt. Ein anderes Wort für diesen Zustand ist: Entpolitisierung. Dagegen politisiert der Band den Begriff der Demokratie wieder – „Demokratie gegen den Staat“, mit Miguel Abensour gesprochen –, und dafür scheint es gerade hilfreich zu sein, dass manche Texte alles andere als ausgefeilt sind, sondern eher improvisiert, wie auch dieser kleine Streit hier zeigt. Es ist ja interessant, dass ein Ökoliberaler wie Daniel Cohn-Bendit in mehreren Texten des Bandes als der Gegner erscheint, mit seinem Spruch z. B., dass die Demokratie auch Hitler an die Macht gebracht habe. Was für den Parlamentarismus, von und in dem Cohn-Bendit lebt, zutrifft, für den Demokratiebegriff, wie ihn Rancière und selbst Slavoj Zizek hier verwenden, aber nicht mehr. Das heißt, der Liberalismus als Parlament schützt wirklich vor gar nichts und auch nicht vor dem „Kapitalismus mit asiatischen Werten“, vor dem selbst Peter Sloterdijk Reserven hegt. Was hier versucht wird, ist den Werten Produktion, Wettbewerb und Konsum, die die Werte der Wirtschaft sind, einen Begriff von Demokratie gegenüberzustellen, der die Kriterien der herrschenden sozialen Zählung nicht akzeptiert.
Ich meinerseits hatte fast durchgehend das Gefühl, dass hier auf einer Abstraktionsebene argumentiert wird, auf der Kritik wohlfeil ist, weil die Maximalforderungen, mit denen sie operiert, an der Realität politischer Praxis vorbeigehen. Da wir die einzelnen Beiträge hier aber nicht detailliert diskutieren können, ist es vielleicht sinnvoller, mit einer poetologischen Grundsatzfrage zu schließen: Wenn ich selbst Rezensionen verfasse, habe ich häufig das Gefühl, dass sich mein Text mit dem Fortgang des Schreibprozesses immer mehr verselbständigt und zwar durchaus gegen meinen Willen. Gerade bei literarisch gelungenen Texten sind die dramaturgischen Gravitationskräfte in der Regel so stark, dass ich mich ab einem bestimmten Punkt kaum mehr in der Lage fühle, auf die Frage zu antworten, ob ich der Vorlage gerecht geworden bin oder nicht. Ist es womöglich dieser genuin gestalterische Zug des Rezensierens, der es uns so schwer macht, uns auf eine gemeinsame Lesart zu einigen?
Absolut, mit Sicherheit ja. Wenn ein Text zu einem spricht und dann auch noch einen Text in einem selbst freisetzt, kontrolliert man den Gang des Gedankens in der Rezension nur noch bedingt. Es bleibt aber der Auftrag, die Verbindung zwischen den Resonanzen, die der Text anschlägt, und dem Text selbst im Auge zu behalten und in der Rezension zu fassen, um nicht das aufzuschreiben, was man schon vor dem zu lesenden Text auswendig wusste. Es gibt ja auch Bücher – Philippe Descolas’ Jenseits von Natur und Kultur ist ein Beispiel – bei denen einem trotz intensivster und andauernder Beschäftigung kein vorzeigbarer Text gelungen ist. Und im Fall des Demokratiebandes kam noch hinzu, dass die Texte sehr schön eben die Wahrheit des politischen Textes wie selbstverständlich in sich trugen, nach der ein Text zwar politisch sein kann, aber niemals die Politik ist. Die Politik spielt nicht in Texten. Texte können einem aber die Augen öffnen für das aktuelle Spiel, und da kam es wie gerufen, dass Peer Steinbrück seine Vortragshonorare veröffentlichte. Das war ein Schlaglicht auf das aktuelle Elend der deutschen Ideologie. In der Spendepraxis von Peer Steinbrück kommt die Spendenteorie des bekennenden SPD-Wählers Peter Sloterdijk zu sich selbst. Herrlich.