Russland und Deutschland. Blick ins Archiv
Mit einem Schwerpunkt zu russischen Zuständen eröffnet das Heft im August. Zunächst befassen sich Oliver Carrol, Peter Pomerantsev und Artemy Troitsky unter anderem mit der Sprache der innerrussischen Opposition um Pussy Riot (Russlands 1968?). Im zweiten Gespräch richten Irina Doronina und Gusan Gusejnov ihre Blicke auf die deutsch-russischen Kulturbeziehungen und insbesondere auf die Rezeption russischer Literaten in Deutschland (Deutschland und Russland, frei zugänglich).
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Zu den außerhalb Russlands lebenden Schriftstellern, die an der „künstlerischen Dokumentation der sogenannten russischen Seele“ arbeiteten (Gusejnov), gehört Michail Schischkin. Geboren in Moskau, bald in Zürich wohnend, wo er unter anderem beim Migrationsamt gearbeitet hat, pendelt er nun zwischen Russland und dem deutschsprachigen Raum. Im Januarheft 2012 des Merkur schreibt Schischkin eindringlich „Über die Grenze“ (online hier):
Ich bin im Jahr des Mauerbaus geboren. Aber die Mauer war nur für den Westen das sichtbare Symbol der Grenze. In unserer Kindheit war die Grenze unsichtbar. Und sie zog sich nicht durch das Land, sondern durch jeden Einzelnen. Wenn ein Mensch im Gefängnis geboren wird und aufwächst, bleibt der Stacheldraht in seiner Seele. Meiner Generation, geboren und aufgewachsen im Gefängnis, hat man die Freiheit gegeben, aber den Stacheldraht hat man nicht aus der Seele entfernen können.
Zuletzt auf deutsch erschienen ist Schischkins Roman Briefsteller (München: DVA 2012), davor Venushaar (ebd. 2011). Gemeinsam mit seinem Übersetzer Andreas Tretner erhielt Schischkin dafür den Internationalen Literaturpreis. Ekkehard Knörer sprach zu diesem Anlass mit den Preisträgern:
Die russische Literatur hat über Jahrzehnte die ganze erzähltechnische Entwicklung der Moderne und der Weltliteratur verpasst. Das musste sie erst einmal aufarbeiten, nachholen, bevor sie wieder zu einer eigenständigen Entwicklung finden konnte. Nun aber ist es an der Zeit, selbst einen Schritt nach vorne zu tun … deshalb denke ich: Ja, ein Autor muss auch einmal im Ausland leben. (Schischkin)
Mit der russischen Diaspora in Berlin und Deutschland, für die Wladimir Kaminer „eine Art belletristischer Pressesprecher“ (Gusejnov) darstelle, hat sich der Germanist Jakob Hessing beschäftigt. Im Rahmen seiner Auseinandersetzung mit deutsch-jüdischer Literatur im Juliheft 2011 kommt auch er auf die Grenzerfahrung der Kontingentflüchtlinge zu sprechen. Kaminer, als jüdischer Russe im Juli 1990 von Moskau nach Berlin gekommen, könne zur Ablösung der jüdischen Literatur „von aller Vergangenheit“ beitragen (Fluchtpunkte. Über deutsch-jüdische Literatur).
Kaminers Texte bilden eine Fließbewegung ab, in der eine ständig sich wandelnde Gegenwart in Zeitsplitter auseinanderbricht und sich zu Storys zusammenfügt, zu sporadischen Geschichten, nie aber zu einem Geschichtsraum, der für die in ihm agierenden Figuren identitätsstiftend ist.
Anders als Schischkin finde Kaminer beim russischen Publikum keine größere Resonanz. Vielmehr zeichne er für das deutsche Massenpublikum das Klischeebild eines „kruden …, aber harmlosen, irgendwie sogar sympathischen neuen Mitbürgers“ (Gusejnov); Kaminers am 12. August erschienener Band Diesseits von Eden erzählt von seinem Auszug in den eigenen Garten, ins Brandenburgische.
Demgegenüber werde bei Michail Chodorkowski oder Vladimir Sorokin „eine neue Superladung Groteske und Totentanz“ nach Deutschland importiert. Über Sorokin, der im Gegensatz zu Schischkin und Kaminer nach wie vor in Russland lebt, und seine frühen Veröffentlichungen schreibt Peter Michalzik im Merkur 11/1992 (hier).
Sorokin selbst beschreibt das Land, in dem er als Schriftsteller zu Hause ist, als die Sümpfe der russischen Literatur, die, weit von den paranoiden Pyramiden Tolstoi und Dostojewski entfernt, neben den Gewässern Gontscharow und Tschechow liegen. Hier hause er mit seinen Vorfahren Chlebnikov, Charms, Vvedenskij. … Wer es politisch sehen will, könnte es auch das Land der inneren Emigration nennen, des Rückzugs in eine vollkommene Freiheit, wo jeder tun und lassen kann, was er will, wo es aber keine diplomatischen Beziehungen zu den Nachbarstaaten gibt.
Und weiter:
Sorokin beschreibt sich gerne als Wurm, der sich durch die russische Literatur hindurchfrißt. Er mißbraucht Literatur, könnte man sagen, aber auch: Die alte Welt scheidet ihre Sprache durch ihn aus.
Über den deutsch-russischen Austausch hinaus beschäftigen sich Doronina und Gusejnov damit, wie sich die erst herauszubildende Identität der post-sowjetischen Länder in deren Literatur spiegelt. Juri Andruchowytsch könne dabei die „Erwartungen deutscher Verleger an die neue literarische Stimme aus dem Osten auf idealtypische Weise“ befriedigen (Gusejnov). Michael Zeller fasst in seinem Aufsatz aus dem Jahre 2004 die literarische Szene der Ukraine und insbesondere Andruchowytschs Verzicht auf die russische Sprache zu Gunsten des Ukrainischen genauer ins Auge (Merkur 05/2004, hier zugänglich).
Andruchowytsch … oder Sergiy Zhadan … kämpfen um den Bestand ihrer Muttersprache und wollen sie literarisch lebendig erhalten. … In der Westukraine nimmt ein ukrainisch schreibender Autor dafür rasch den Status einer Kultfigur an, mit all dem trüben chauvinistischen Bodensatz, der ihm selbst peinlich sein mag.
David Wunderlich, geb. 1989, ist derzeit Praktikant beim Merkur.
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