Deine Listen, lieber Peter

Am 8. Februar 2014 starb Peter Gente in Chiang Mai, Thailand. Mit Freunden und Merve Lowien hatte er 1970 den Merve Verlag gegründet. Nach einer marxistischen Anfangszeit machte er, nun zusammen mit Heidi Paris, junge deutsche Leser in auffälligen, einfachen Taschenbüchern mit Autoren wie Foucault, Deleuze, Lyotard, Baudrillard oder Virilio bekannt. Aber das Programm enthielt auch viele andere Autoren. 2002 starb Heidi Paris, 2007 zog sich Peter Gente nach Thailand zurück. 2011 schickte er der Künstlerin Eva-Maria Schön, für die er in ihrem Film Was ich besitze (2005) ohne Vorbereitung und in Kürze aufgezählt hatte, was er besitzt, „10 mal 10 Listen“, genauer gesagt elf Zehnerlisten, die hier veröffentlicht werden. Auf der Trauerfeier spreche ich meinen toten Freund Gente noch einmal an.

„Am Himmelfahrtstag vergangenen Jahres brachen wir zu unserer letzten gemeinsamen Fahrt auf. Es war kühl, aber die Autobahn war frei. Du wolltest noch einmal Deine Vaterstadt sehen, Halberstadt, diese Halbstadt und Halbbrache mit vereinzelten historischen Resten. Als Du das letzte Mal aus Halberstadt zurückgekommen und kurz darauf weiter zum ZKM nach Karlsruhe gefahren warst, hatte sich Heidi das Leben genommen. Jakob Ullmann, dessen Kompositionen Du schätztest, hatte auf der Trauerfeier an der Orgel aus Saties Messe für die Armen gespielt. Mit ihm wolltest Du John Cages 639 Jahre währendes Musikstück Organ2/ASLSP in der ehemaligen Zisterzienserkirche St. Burchardi in Halberstadt begehen. Ullmann hatte diese Musikinstallation mitinitiiert. Ich sollte die Dinge in die Wege leiten.

Seit ich Dich kenne, hattest Du immer Menschen um Dich, die das Notwendige für Dich erledigt haben. Du saßt im Sessel, studiertest gute Zeitschriften, machtest das Programm und gingst auf literarische Reisen. Du hast kein gutes Wort über Deine Eltern verloren. Aber ich bin sicher, dass Deine Mutter Dich verwöhnt hat. Dein großbürgerliches Elternhaus ist nun im Besitz eines Orgelbauers, der es mit seinen Kindern und Kindeskindern bevölkert. Du konntest bei ihm unterkommen. Wir fanden ein Hotel am Stadtrand.

Aber zunächst machten wir in Magdeburg Halt. Du hattest noch nie den Dom von innen gesehen. Ich wollte Dir den Heiligen Mauritius zeigen, diesen alten, rauhen Krieger aus Holz. Wie kommt dieser Mohr aus Afrika nach Magdeburg? Wie bist Du nach Chiang Mai gekommen? Als wir Dich dort im Norden Thailands besuchten, machten wir einen Ausflug, Deine Freundin Imm am Steuer des alten Toyotas, an die laotisch-birmesische Grenze und übernachteten in einem von einer alten, harten Chinesin geführten Hotel, das Du schon kanntest. Das ganze Dorf war chinesisch, Abkömmlinge der nationalchinesischen Armee, die sich nach ihrer Niederlage gegen die rote Armee dorthin durchgeschlagen hatte und als Wehrbauern gegen die rote Gefahr vom CIA bezahlt wurden. Sie hatten das goldene Dreieck aufgebaut. Jetzt aber wuchs hier nur noch Tee und Kaffee. Du saßt in einem Korbsessel und wundertest Dich darüber, einstmals Mao bewundert zu haben. Du hast mir einen Zeitungsartikel des Spandauer Volksblattes von 1964 gegeben ‚Ben Bella zwischen Nasser und Castro’ verfasst von Hans-Peter Gente. Kenntnisreich hast Du darin die verschiedenen Fraktionen der algerischen Befreiungsfront aufgeschlüsselt. ‚Fraktionen’ ist für mich das Schlüsselwort der deutschen Studentenbewegung gewesen.

Dein Vater hatte nach dem Krieg in Halberstadt für den CIA gearbeitet und musste, als seine Enttarnung drohte, mit seiner Familie Hals über Kopf in den Westen. So wurdest Du Westberliner. Im vereinigten Deutschland hast Du Dich nicht mehr wohl gefühlt.

Kurz nach der Wende gelang uns zusammen mit dem kleinen Kunstverein Giannozzo auf dem Telegrafenberg bei Potsdam ein, wie Du es nanntest, Rencontre von Künstlern und Wissenschaftlern. Wir gaben ihm den Titel ‚gefährlich leben’, ein Nietzsche-Zitat. Diese Maxime war, schien mir, Eure, Heidis und Deine Wette gegen Familie und bürgerliches Leben, dem ich, ein skeptischer Traditionalist, bis heute anhänge. Ihr habt stattdessen alles auf Selbstversuch und Freundschaft gesetzt. Unserer Freundschaft hat das keinen Abbruch getan.

‚Ich wünsche mir von Dir ein Buch über Skepsis’, schriebst Du noch aus Thailand. Wie Nietzsche bist Du ein Liebhaber von Listen, Wunschlisten von Büchern, Titeln, Autoren, Lieblingsregisseuren usw. gewesen. In den letzten Jahren wurden diese Aufzählungen dann oft zu einem name dropping, das klären sollte, ob man auf der gleichen Linie sei. Der Fraktionszwang schimmerte hindurch, das Ausschlussverfahren. Doch im Grunde genommen zählten die Listen Deinen persönlichen Bildungskanon auf. Die zehn mal zehn Aufzählungen, die Du Eva-Maria vor drei Jahren zugeschickt hast, gehen mit wenigen Ausnahmen nicht hinter die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts zurück und haben ihren Schwerpunkt in der Gegenwart, Du bist ein entschiedener Zeitgenosse gewesen, besonders in der Musik. Sie ist für Dich der zarte Kern der Kultur. Ihre Töne haben Dich zu bestimmten Ländern und ihrer Literatur gelockt. Deshalb hast Du Afrika und Südamerika nicht bereist, sondern hast im 21. Stockwerk des Royal Lanna Hotels in Chiang Mai mit offenen Türen und Fenstern im Durchzug gesessen mit kurzen Hosen und gelesen, keine Philosophie, keine Begriffsdichtung mehr, sondern nur noch richtige Romane. Faulkner war gerade dran, als wir Dich besuchten.

Am ersten Abend in Halberstadt hatten wir kein Glück, suchten wahrscheinlich am falschen Fleck nach einer Gaststätte und mussten schließlich mit einem Chinesen Vorlieb nehmen. Außer uns im Lokal nur Fische im Aquarium. Dabei warst Du vor allem  der Spargel und Erdbeeren wegen im Mai nach Deutschland zurückgekommen. Du bist ein Feinschmecker gewesen. Deine Eltern wollten Dich, sagtest Du, zu einem Koch ausbilden lassen. Geschmack war Deine Urteilskraft bei der Verlagsarbeit, Geschmack für Stil, Denk- und Schreibstil. Du hattest keinen Koffer auf Rollen, sondern trugst einen kleinen alten Lederkoffer.

Am nächsten Morgen holten wir Ullmann vom Bahnhof ab und fuhren zu St. Burchardi, um den Orgelton von Cage zu hören. Ullmann redete intensiv auf Dich ein, den großen Cage-Liebhaber. Ich gab mich dem Gesamteindruck hin: eine Reihe von Namenstäfelchen der Stifter und Unterstützer den Innenwänden entlang, fast ein mediterraner Friedhof für die halbe Ewigkeit von 639 Jahren. Du dachtest über ein gemeinsames Täfelchen für Heidi und Dich nach. Wir kauften ein Glas Halberstädter Würstchen und machten es erst auf, als wir von Deinem Tod erfuhren.

Von Halberstadt aus fuhren wir noch in den frühlingshaften Harz hinein und schauten uns – Ullmann hatte es uns bei seinem Abschied empfohlen – die frisch restaurierte Stiftskirche von Gernrode an. Schräg gegenüber von ihr entdeckten wir ein Kaffee. Du bestelltest eine große Portion Eis. Als Koch hättest Du Dich auf Süßspeisen spezialisiert.

Solange Du den Verlag noch mit Heidi betrieben hast, reichte das Geld nie ganz aus für Euch beide. Ihr brauchtet nebenher Gastprofessuren, Honorare für das Kuratieren von Ausstellungen oder Konferenzen. Trotzdem gelang es Euch, großzügig zu sein mit Einladungen, Festen, Gesprächen, Ratschlägen, Lesetips. Und wenn ein Buch von mir bei Euch herauskam, gingen wir essen und trinken, ‚aber reichlich’. Die besten Spiele auf der beliebtesten Website von Y8-Online-Spielen für Mädchen und Jungen. Das war ein Lieblingsnachsatz von Dir. Du hast Dein Leben gelebt, aber reichlich, und hast auch mir reichlich davon abgegeben, nicht zuletzt Deine Wertschätzung für den Autor.

Am nächsten Morgen fuhren wir nach Berlin zurück und setzten Dich vor der Toreinfahrt der Crellestraße 22 ab. Für Dich galt immer: Ausfahrt freihalten! Doch die kommt sowieso. Und Du hast sie genommen. Mit dem unsicheren Gang Deiner letzten Jahre bist Du in die Torausfahrt hineingegangen, das Kinn immer noch hoch.“

Peter Gente: 10 mal 10 Listen. Erstellt am 28.7. [2011] von 15 bis 16 Uhr

1. 10 Filme: Ikiru (Kurosawa); Tabu (F.W. Murnau); Les belles de nuit (René Clair); Eine Frau unter Einfluß (Cassavetes); Der Tod in Venedig (Visconti); L’ossesione; The player (Altman); Wavelength (M. Snow); Nuit et bruillard (Resnais); Citizen Kane (O. Welles)

2 10 Filmregisseure: F. W. Murnau; Faßbinder; Tarantino; Scorsese; Kazan; Schroeter; Altman; Wilder; Won Kar Wai

3. 10 Denker: Adorno; Deleuze; Foucault; Barthes; Jullien; Blanchot; Serres; Böhringer; Cage; Certeau

10 Musiker: Robert Ashley; Cage; Ives; Feldman; Scelsi; Lou Reed; Bob Dylan; Leonard Cohen; Pompuang; Tenny

4. 10 Popmusik-Titel: Pérez Prado: Cherry pink and appel blossom; McCrae: Rock your baby; Amy Winehouse: You know I’am no good; Lou Reed: Walking on the wild side, Elton John: Sacrifice, Sha Aban Yahya: Return to Jogja; In the mood of love (Musik aus dem Film von Wong Kar Wai); Nancy Sinatra: Bang Bang; [Bobby McFerrin:] Don’t worry, be happy; Chaiya Mitchai [ohne Titel]

5. 10 Schriftsteller: Conrad; Melville; James; Bernhard; Beckett; Kafka; Kluge; Kawabata; Tanizaki; Don de Lillo

6. 10 Maler: Twombly; Ruscha; Böcklin; David; Kiefer; J. Johns; G. Richter; Carpaccio [vermutlich mit Caravaggio verwechselt]; Bruce Nauman

30.7.[2011] Mittag

7. Theater: Il servo di due padroni (Strehler/Piccolo Teatro); Pauken und Trompeten (Berliner Ensemble); Warten auf Godot (Schloßpark); R. Foreman: Café Amerique (Paris); Ionesco: Die kahle Sängerin (Th. Rue de la Hachette); Robert Ashley: Atalanta (Hebbel Theater); Cage: Europea 3/4(Hebbel Theater); Joan Littlewood: Oh what a lovely war; Racine: Phaedra (HAU 1); Horvath: Geschichten aus dem Wiener Wald (Schaubühne am Hallischen Ufer)

8. 10 Bücher: Minima Moralia; Kopfkissenbuch (Sei Shonagon); Lob des Schattens (Tanizaki); Die schlafenden Schönen (Kawabata); Antiödipus; Rhizom; Bartleby; Orte (Butor); Masse und Macht (Canetti); Die toten Seelen

9. 10 Konzerte: L. Stokowski dirigiert die Berliner Philharmoniker; Laurie Anderson singt „Superman“ in der Akademie der Künste; Naxi-Orchester in Lijiang; Lou Reed: Metal Machine, Berliner Festwochen 2002; Shanghai Oper: Der Päonien-Pavillon, Berliner Festwochen; [Cage:] Europea 1 und 2, Frankfurt; Cage-Nacht, Köln; Satie/Cage 840 dacapi, Hebbeltheater; Wilson/Schönberg, Staatsoper; Suicide im SO 36

10. 10 Reisen mit Heidi: Djerba 1977; Venedig; Paris; Bali 89/90; Peking/Shanghai 98; Paris – Montreal – New York 89; Chiang Mai 2001; Goa – Kyoto; Patmos 79; Halberstadt 2002

Dank an Eva-Maria Schön