Disziplinierungen

Derzeit – und noch bis Freitag – findet auf Initiative von Kathrin Passig und auf Einladung der Alfred Toepfer Stiftung (in Zusammenarbeit mit dem Merkur) auf Gut Siggen in Holstein eine Tagung zum Thema „Tagung“ statt: die Metatagung. Wir dokumentieren hier einen als Denkanstoß/Erfahrungsbericht der Ethnologin Franziska Nyffenegger; zugleich der Auftakt zu unserer Blogbegleitung zum Juniheft-Schwerpunkt „Zur Lage der Universität“.

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Seit rund zehn Jahren bin ich im akademischen Geschäft tätig. Nicht in der „klassischen“ Akademie, sprich an einer Universität und einer Disziplin der „alten“ Natur-, Geistes- oder Sozialwissenschaften, sondern an einer Kunsthochschule und dort vor allem in der Abteilung Produktgestaltung, also einem, wie mich dünkt, ausgesprochen anti-akademischen Fach. Meine Arbeit begann kurz vor der Umsetzung der Bologna-Reform, das heißt vor der Einführung von Bachelor- und Masterstudiengängen. Die sogenannten Diplomstudiengänge alter Prägung verfolgten kaum akademische Ambitionen. Der schriftliche Teil der Abschlussarbeit bestand in der Regel in einer Dokumentation des Entwurfsprozesses inklusive dazu gehöriger Recherchen. Manchmal schrieben ambitionierte Studierende theoretisch interessante und anspruchsvolle Essays, was zwar geschätzt, jedoch nicht erwartet wurde und die Ausnahme blieb. Der Begriff „Forschung“ kam allenfalls in der Kombination „angewandte Forschung“ vor, das in der Zusammenarbeit mit Praxis- resp. Wirtschaftspartnern.

Die neue Bildungsverordnung verlangt nunmehr einerseits zum Studienabschluss sowohl auf Bachelor- wie auf Masterstufe eine „wissenschaftliche Arbeit“, also einen längeren Text, der gängige Kriterien wie Nachvollziehbarkeit (Quellenangaben), Klarheit (Aufbau und Sprache) und Argumentation (Thesenbildung, Logik) erfüllt, andererseits müssen die Kunsthochschulen explizit auch forschen und ihre Master-Studiengänge müssen „forschungsorientiert“ angelegt sein. Dieser Forschungsanspruch hat, so meine Beobachtung, in den letzten Jahren zu einem regen Tagungswesen geführt. Gingen Designer_innen früher an Messen und Ausstellungen, nach Köln und Mailand, sind sie heute vermehrt auch auf Tagungen anzutreffen, Design Summits allerorten. Ein gestandener deutscher Designhistoriker, Bernhard E. Bürdek, sprach vor ein paar Jahren  – notabene informell, während einer Kaffeepause – von einem eigentlichen Konferenz-Zirkus, der mit den immergleichen Clown-Nummern um die Welt reist und die zumeist jungen, aufstrebenden Designforschenden zu betören sucht.

In der Schweiz führt die Standesorganisation Swiss Design Network mehr oder weniger regelmäßig Jahrestagungen durch; die Masterstudiengänge veranstalten Junior Research Symposien; die (Forschungs-)Institute laden zu Kolloquien und Konferenzen (eine solche gab Kathrin Passig wohl auch den Anlass, eingehender über das Tagungswesen nachzudenken). Die Teilnahme an solchen Anlässen – von Vorteil mit eigenem Beitrag – gehört zur Leistungsvereinbarung, d.h. zum Job, vieler Kollegen und Kolleginnen (so wie das ja auch in anderen, etablierten Disziplinen der Fall ist).

Der Soziologe Franz Schultheis beschreibt diese Entwicklung (für die Schweiz) in einem Aufsatz von 2005 als „Disziplinierung des Designs“. Das Design bezeichnet er als „emergente Disziplin“, als Disziplin, die dabei ist, ihren Ort und ihre Identität zu finden respektive zu bauen, zu konstruieren. Dabei reproduziert die emergente Disziplin, eben beispielsweise im Tagungswesen, gängige Muster – Muster, die wir hier zur Diskussion stellen. Das Design macht dies in der Hoffnung, so eine der Thesen von Schultheis, akademische Ernsthaftigkeit herstellen zu können. Legitimation, Daseinsberechtigung, wissenschaftliche Professionalisierung … sind Stichworte, die er braucht.

Initiation und Exitus

In den letzten 10 Jahren habe ich ungefähr 10 Tagungen als „gewöhnliche“ Teilnehmerin besucht; an insgesamt 14 Tagungen präsentierte ich einen eigenen Beitrag. Alles in allem sind das 1000 Prozent mehr Tagungsbesuche als während meines kultur-, literatur- und medienwissenschaftlichen Studiums Anfang der 1990er Jahre. Entweder gab es damals keine Tagungen (zumindest kann ich mich nicht daran erinnern, welche verpasst zu haben) oder wir Studierenden haben nichts davon mitbekommen, weil es überhaupt nicht vorgesehen war, dass wir daran teilnehmen (obligatorisch war es auf jeden Fall nicht). Vermutlich war ich als Akademikerin aber einfach zu wenig ambitioniert, um zu merken, dass da etwas läuft, tagungsmässig, denn soweit ich heute weiß, muss es in meiner Heimdisziplin, der Ethnologie, schon damals ein florierendes Tagungswesen gegeben haben…

Ein Jahr nach Studienabschluss – wir befinden uns im Jahr 1995 und ich denke halbherzig über eine Promotion nach – bat mich der damalige Oberassistent des Seminars, an dem ich studiert hatte, einen Beitrag zu einer von ihm mitorganisierten Tagung zu leisten. Dieses Erlebnis machte mir den Entscheid, auf eine Promotion zu verzichten leicht(er); ich legte den Plan kurz danach ad acta.

Diese „Initiations“-Tagung ist mir bis heute in lebhafter Erinnerung. Sie war schrecklich. Warum? Was war das Schreckliche daran?

  • Wir saßen während zwei Tagen (oder waren des drei?) in einem abgedunkelten Seminarraum. Draußen schien die Sonne, die ersten warmen Frühlingstage lockten. Es entsprach nicht der Jahreszeit, acht Stunden drinnen zu sein.
  • Wir hörten uns einen Vortrag nach dem anderen an. Die meisten lasen ihre Texte ab Blatt, sprachen also nicht frei, und die meisten Texte wurden nicht für die Lektüre ab Blatt geschrieben, sondern für eine „stille Lektüre“. Es war außerordentlich anstrengend zuzuhören, zu verstehen, zu reagieren. Es gab nur dieses eine Format des Vortrags mit anschließender Fragerunde und keinerlei Abwechslung. Es gab auch kaum Bilder, nur vereinzelte Hellraumprojektorfolien, schlecht lesbar, schwer verständlich.
  • Die einzelnen Beiträge nahmen kaum Bezug aufeinander. Es gab ein – böse ausgedrückt – flauschiges Generalthema („Integration und Transformation: Ethnische Gemeinschaften, Staat und Weltwirtschaft in Lateinamerika seit ca. 1850“), doch keinen roten Faden im eigentlichen Sinn. Im Nachhinein kommt es mir vor wie ein Mehrgangmenü, bei dem der vierte Gang nichts davon weiß und auch nichts davon wissen will, ob er ähnlich oder ganz anders schmeckt als der zweite oder der fünfte Gang.
  • Die einzelnen Beitragenden erinnere ich als vergleichsweise autistisch, als ausgesprochen wenig interessiert an allem, was nicht genau ihr Thema, ihre Fragestellung, ihre Herangehensweise betrifft. Positiv ausgedrückt würde man wohl sagen: optimal fokussiert. Für mich war es fürchterlich langweilig mit ihnen zu reden.
  • Die akademische Hierarchie wurde ostentativ zelebriert. Der Herr Professor, der Herr Doktor, der Herr Doktor designatus, der Herr Professor emeritus (ich kann mich an keine Damen erinnern) … Die Unterwürfigkeit, mit der die Promotionsstudierenden den bereits promovierten oder gar habilitierten Anwesenden begegneten, widerstrebte mir ebenso wie der hochgradig rituelle Charakter des Anlasses. Ich befand mich bereits weit weg vom Planeten Akademia.

Für mich war diese Tagung schrecklich. Für wen und wozu war sie gut?

  • In der akademischen Karriere des Oberassistenten, der mich eingeladen hatte, bildet diese Tagung eine Art Grundstein. Er konnte sich damit als Tagungsorganisator profilieren, als Experte auf seinem Gebiet, später auch als Herausgeber eines Sammelbandes, der als Abfallprodukt ein Jahr danach erschien. Die Tagung ist ein unverzichtbarer Punkt in seinem Curriculum als Vollblutakademiker.
  • Für die meisten Teilnehmenden, viele von ihnen Doktorand_innen, war die Tagung vermutlich weit weniger schrecklich als für mich. Sie bot ihnen Gelegenheit, ihre Forschungsergebnisse zu präsentieren und teilweise später in dem erwähnten Sammelband zu publizieren. Vielleicht haben sie von den anwesenden Kolleg_innen sogar hilfreiche Hinweise erhalten oder konstruktive Kritik. Vielleicht genossen sie einfach den Besuch in der Stadt Zürich und die Abwechslung vom Uni-Alltag, konnten einen oder zwei Ferientage anhängen und auf Kosten ihrer Hochschule in einem guten Hotel übernachten. Vielleicht gehörte das Tagungswesen auch ganz offiziell zu ihrem Job und sie waren dankbar für die nette venue und die anständige Verpflegung.
  • Für die Gastgeberinstitutionen (Uni und ETH Zürich) war die Tagung, so vermute ich, ein willkommenes Aushängeschild. Interdisziplinär, interhochschulisch, international …
  • Für die Geldgeber und Geldnehmer war die Tagung vermutlich ebenfalls gut. Ich weiß in diesem Fall nicht, woher die Gelder kamen und wer (ökonomisch, finanziell) von der Tagung profitiert hat, gehe aber davon aus, dass Geld im Spiel war, allerspätestens beim Druck das Sammelbandes. Eine Förderinstitution, z.B. der SNF, wird froh gewesen sein, einen in ihren Augen sinnvollen Anlass ermöglicht zu haben; Hotels und andere Dienstleister werden froh gewesen sein über die wegen der Tagung anreisenden Gäste; Institute und Seminare werden froh gewesen sein, dass sie ihre Weiterbildungs- und Reisebudgets ausschöpfen konnten.

Man sieht: Den Stab über eine Tagung zu brechen, ist gar nicht so einfach, wenn ich von meiner persönlichen Befindlichkeit einmal absehe und die Interessen und Perspektiven der anderen Akteure miteinbeziehe. Und meine persönliche Befindlichkeit ist auch keine ausgesprochen stabile Größe. In meiner Rückschau merke ich, dass biographische Konjunkturen eine nicht unerhebliche Rolle spielen, wenn es darum geht eine Tagung gut oder schlecht zu finden.

 

Erwähnte Literatur:

Schultheis, Franz. (2005). Disziplinierung des Designs. In Swiss Design Network (Ed.), Forschungslandschaften im Umfeld des Designs (p. 65-96). Zürich: Swiss Design Network.

Zur Autorin:

www.franziska-nyffenegger.ch