Tod einer Kritikerin
Der Donnerstag (hier ein Link zum Google-Cache) bestand als Blog bereits, als ich 2012 zur Redaktion stieß. Er ist nicht meine Erfindung, eher ist es umgekehrt. Damals war ich Teil einer Entwicklung, an deren Ende sich der Blog eine redaktionelle Linie gab. Mit einer erstmals als solcher ausgewiesenen Redaktionsleitung verabschiedete man sich vom Vielstimmenchor der Gründungszeit. Annika Bender, ein weiterer unbeschriebener Allerweltsname, eine weitere Figur aus dem Nirgendwo außerhalb des Netzwerks. Als solche sollte ich die nächste, die letzte Phase einläuten, für die sich die verbliebenen Schreiber auf eine bestimmte Idee von Kritik verständigt hatten.
Man kann nicht sagen, dass sich in den vergangenen zehn Jahren an den Voraussetzungen für die Gegenwartskunst und ihre Kritik etwas wesentlich geändert hat. Natürlich hätte man denken können, dass sich mit dem Internet, insbesondere mit Web 2.0, mit Blogs, Webzines und neuen Diskursformen auf Twitter oder Facebook eine ganze Reihe neuer kritischer Stimmen etablieren. Für andere Felder mag das der Fall gewesen sein, für die Kunst blieb eine solche Entwicklung aus. Instagram war nur ein Update für die alte Sprachlosigkeit. Neue Foren wie der E-Flux-Newsletter oder die Ausstellungsrundschau Contemporary Art Daily verstärkten eher bestehende Diskursrouten, ohne wirklich neue zu beschreiten.
Ich denke es ist sinnvoll, zuerst die Ausgangsposition, das Dilemma, auf das unsere Kritik antworten wollte, zu skizzieren. Auch auf die Gefahr hin, dabei bisweilen in den großen Chor der Abgesänge einzustimmen, die in der zeitgenössischen Kunst nur die aufgeblasene Farce eines gescheiterten Projekts erkennen. Jeder Auktionsrekord, jeder Messeexzess ist ihnen dabei Bestätigung. Tatsächlich ist die Reihe von Superlativen, die in Bezug auf die Gegenwartskunst kursieren, lang: Nie zuvor seien mehr Menschen in Museen und Ausstellungen gerannt, nie sei mehr Geld im Spiel gewesen, nie gab es mehr Biennalen und Kunstfestivals, nie war die Kunstwelt globaler und vernetzter als heute. Und trotzdem: Man muss sie sich als einen relativ geschlossenen Zirkel vorstellen.
Natürlich gibt es Großausstellungen mit Klassikern und lebenden Pop-Artisten, die ein großes Publikum erreichen. Natürlich verzeichnete auch die letzte Documenta wieder einen Besucherrekord. Hier zehrt die Kunst noch vom Vertrauensvorschuss einer restbürgerlichen Mittelschicht. Das jedoch, was wir gemeinhin als Kunstwelt bezeichnen, ist kein Massenphänomen. Es mag sein, dass sie über die letzte Jahre hinweg gewachsen ist. Aber an ihrer Abgeschlossenheit hat das wenig geändert, eher hat sich diese noch verstärkt. Man kann den Test bei jeder beliebigen Galerieausstellung machen: Wie viel Prozent des anwesenden Eröffnungspublikums stehen beruflich mit Kunst in Verbindung? – 90 Prozent, plus-minus. Die Kunstwelt begegnet sich permanent selbst.
Nun bestanden selbst kritische Soziologen wie Pierre Bourdieu immer auf dem Potential des Eigensinns einer relativen Autonomie des künstlerischen Felds. Das Problem ist nur, dass das freiheitliche Versprechen der Autonomie im Fall der zeitgenössischen Kunst heute in einer Weise eingehegt erscheint, dass sie kaum mehr benennt als den Selbsterhaltungstrieb einer sozialen Formation. Und niemand will dem Anderen da zu Nahe treten. Selbst die drei, vier Gestalten, die sich hinterm Donnerstag versteckten, sind lange nicht so krawallig und übellaunig, wie man es ob ihrer zornigen Verrisse erwarten dürfte. Sie sind auch – es folgt ein Geständnis – Teil dieser Gemeinschaft. Nichts anderes: ein Haufen gut vernetzter Jungkünstler, ein nobles Häufchen Elend – total nett, wie alle Anderen.
Recht bald nach meinem Beitritt zur Redaktion verschickte jemand eine Liste durch den Mailverteiler. Es ging um Kriterien, mithilfe derer Experten eine Gemeinschaft als Sekte definieren. Kriterium 1: Elitebewusstsein – ein Punkt, der in Bezug auf die Kunstwelt kaum der Erläuterung bedarf. Bourdieu hatte ich bereits erwähnt. Haken dran. Auch die Voraussetzungen für Kriterium Nummer 2 habe ich angedeutet: Isolation von der Außenwelt. Kriterium 3: Etablierung einer eigenen Kunstsprache – die Soziologin Alix Rule und der Künstler David Levine haben die Sprache der globalen Kunstwelt, das „International Art English“, untersucht und sind vor drei Jahren in einem vielbeachteten Aufsatz (der in deutscher Übersetzung auch im Merkur erschienen ist) deren syntaktischer und begrifflicher Genealogie aus der Literatur des französischen Poststrukturalismus nachgegangen. Der spezifische Sprachduktus wie er bis heute in Katalogen, Pressetexten, akademischen Kunstzeitschriften und Symposien die Regel ist, hatte von Beginn an eine stark selektierende Wirkung auf den Diskurs. Wer ihn zu gebrauchen wusste, „signalisierte damit, dass er über ein geschärftes kritisches Vermögen verfügte; präsentierte sich streng im Urteil, politisch engagiert und akademisch qualifiziert.“
Ein weiteres Kriterium: der Gruppendruck. Künstler sind per Definition Einzelkämpfer, sie verteidigen kein System, nur ihr eigenes – das Werk. Doch für dessen Platzierung arbeiten die meisten in einem sozialen Modus der Alternativlosigkeit, gerade wenn sie am Anfang stehen. Da wird jede Einladung zur Gruppenausstellung dankend angenommen, wie dürftig deren Konzept auch ausfällt. Gleiches gilt für die eigene Arbeit. Jede Einladung ist eine Chance. Und sie haben ja recht, all die jungen Künstler und Kuratoren: Niemand wird ihnen einen Strick daraus drehen. Es gibt keinen Anspruch außer den auf einen Platz in der Gemeinschaft.
Und diese Plätze sind umkämpft: Es gibt zu viele Künstler, zu viel Produktion, zu viele die hineinwollen in den Kreis der Erlauchten. Entsprechend lautete vor zwei Jahren der Rat eines Professors – ein bekannter Konzeptkünstler – an eine Absolventin der Hamburger Kunsthochschule, sie habe nun ein Jahr Zeit, eine gute Galerie zu finden. Würde ihr das in diesem Zeitraum nicht gelingen, hätte sie ihre Chance auf einen Platz im Netzwerk eigentlich schon verspielt.
2012 kündigte die Künstlerin Michaela Eichwald die Zusammenarbeit mit ihrer Berliner Galerie, weil sie die Situation der dortigen Assistenten nicht mehr ertrug. In einem offenen Brief schilderte sie beispielhaft die Szene einer Ausstellungseröffnung:
„Kurz darauf bedankte ich mich bei X (die nicht genannt sein will und seit März bei der Galerie arbeitet) für ihre Mithilfe und setzte hinzu, ich hoffte, dass sie gut bezahlt werde, woraufhin sie verschämt zu Boden blickte und hervor stotterte, dass es doch einfach schon so toll sei, mit dir abhängen zu können.“ […] Nichts von dem, was die Galerie, die sich scheinsolidarisch nach einem herausgeworfenen Galerieassistenten benannt hat, und sich mit so vielen fem/gay/queer/emancipated/correctness-usw.-Künstlern schmückt, vorgibt zu sein, wird eingelöst. Im Gegenteil.“
Erst kürzlich hat die Galerie eine neue Dependance in New York eröffnet. Der Vorfall hat ihr nicht geschadet. Null. Der Fall ist viel zu alltäglich. Ungewöhnlich ist allein die Konsequenz der Künstlerin. Vielleicht muss man, was in den Sechzigern noch als heroischer Akt Aufnahme ins große Buch der Legenden gefunden hätte, heute als ein Missverständnis verbuchen: Die Selbstkritik des Kunstbetriebs hat sich längst soweit professionalisiert, dass sie zum festen Repertoire ihres Ausstellungsprogramms gehört. Gleiches gilt für die allseits beliebte Problematisierung eines irgendwie alles durchdringenden Kapitalismus. In der Kunstwelt ist sich jeder seines eigenen ambivalenten Involviertseins bewusst. Wie schön.
Etablierten Künstlern wie Isaac Julien erlaubt das, sich auf der Venedig Biennale mit einer von ihm choreografieren Live-Kapital-Lesung sowie einem gefilmten Interview mit dem Neomarxisten David Harvey als kritischer Beobachter der Gesellschaft zu profilieren, während er zur gleichen Zeit eine groß angelegte Zusammenarbeit mit dem Autohersteller Rolls-Royce ankündigt. Die gefühlte Metaposition der Kunstwelt gestattet einen distanzierten, ästhetisch motivierten Umgang mit derlei Widersprüchen.
Aber ist die kapitalistische Grundierung der Kunstwelt wirklich etwas, das sie von anderen Bereichen unserer Kultur großartig unterscheidet? Vielleicht noch, dass sie ein recht familiäres Verhältnis zu den Reichen und Superreichen unterhält, was man von Literatur, Theater und auch weiten Teilen der Musikkultur nicht unbedingt behaupten kann. Das größere und folgenschwerere Problem aber ergibt sich aus dem letzten Kriterium in der Liste mit Eigenschaften einer sektenartigen Gemeinschaft: die Diskrepanz zwischen Innen- und Außensicht. Sie ist das Ergebnis einer zunehmenden inneren Anspruchs- und Kritiklosigkeit. Und meinem Eindruck nach unterscheidet sich die Kunstwelt hier doch auffallend von Literatur- und Theaterbetrieb, wo man über die künstlerische Qualität eines Werks durchaus noch in einen lauten Streit gerät.
Manchmal erscheint die Kunstwelt wie ein alternder Star, der immer mehr Wasserträger um sich scharrt, damit sie die Sicht auf die mitleidigen Blicke der Außenwelt verstellen. Dann wirkt auch manch richtige Kritik eines Zaungastes wie blanke Häme. Gar bedrohlich erscheint sie den Mitgliedern der Gemeinschaft: Was wenn irgendwann alles auffliegt? Wenn die intellektuelle Banalität, die brillant geschliffene Bedeutungslosigkeit erst einmal als solche offen zu Tage treten? Wenn das auffälligste Symptom der beschriebenen Leere innerhalb der Kunstwelt tatsächlich einmal schutzlos zur Verhandlung steht: die Kunst selbst. Eigentlich könnte man über alles andere noch hinwegsehen, gäbe es in der Mitte der Gemeinschaft etwas, dessen Qualität und kulturelle Tragweite die umgebenden Abgründe überbrücken könnte.
Wenn eine Serie wie beispielsweise The Wire in Groß-Britannien beim Mediengiganten Fox ausgestrahlt wird, ist das ärgerlich, aber es desavouiert nicht dessen künstlerischen Rang. Zumindest nicht zwangsläufig. Die künstlerische Qualität der Serie immunisiert zu einem gewissen Grad auch gegen die Zumutungen ihres Kontexts. Wo aber das Gegengewicht einer solchen künstlerischen Selbstbehauptung fehlt, wo es also der Kunst nicht mehr gelingt, gegen die Zumutungen des Betriebs einen eigenen Raum zu behaupten, dort verliert eben dieser Betrieb auch jede Fähigkeit zur Selbstkorrektur. Und genau diese Unfähigkeit beobachten wir im Fall der zeitgenössischen Kunst seit Jahren.
Die Idee von Donnerstag war es, auf dem Unterschied zwischen guter und schlechter Kunst zu insistieren. Wenn die Gemeinschaft der zeitgenössischen Kunst von außen kaum mehr ansprechbar ist, weil sie die pauschale Kritik der Zaungäste systembedingt als Bedrohung missverstehen muss, sollte eine spezifische Kritik beim Gegenstand ansetzen – bei der Kunst, deren zeitgenössisches Format nun mal die Ausstellung ist. Unsere Überlegung war, dass eine solche Kritik am effektivsten wäre, wenn sie von einem hybriden, nicht lokalisierbaren Standpunkt aus geübt würde. Weder von draußen, noch von drinnen, sondern von einem nicht fassbaren Sowohl-als-auch.
Käme die Kritik von draußen, würde man sie rasch unter die Häme der Zaungäste subsumieren. Bücher oder Feuilletonartikel, die das Kunstsystem als ganze kritisieren, ereilt dieses Schicksal. Sie finden, ganz unabhängig vom Grad ihrer Plausibilität, keinen Widerhall in der Gemeinschaft und bleiben deshalb ohne Wirkung. Kommt die Kritik erkennbar von Innen, kann sie mit den hauseigenen sozialen Mitteln rasch entschärft werden. Denn lassen sich die Fragen „Wer hat sie geschrieben?“ und „Zu welchem Teilnetzwerk gehört der Autor?“ beantworten, ist dieser a) nur neidisch b) frustriert oder gehört c) zu einer konkurrierenden Untergruppierung.
Natürlich hatten die Menschen, die den Donnerstag betrieben, auch Angst, ihre künstlerische Karriere aufs Spiel zu setzen und wichtige Verbündete zu verprellen. Aber in erster Linie schien der Blog ihnen eine mit dem Internet leicht zu realisierende Möglichkeit, kritische Stimmen zu etablieren, die sich den vermeintlichen Sachzwängen der sozialen Eingebundenheit entziehen. Einfach über den Hebel der digitalen Anonymität. Sie machte Szenarien denkbar, die in dem engen sozialen Geflecht der Kunstwelt bis heute schwer vorzustellen sind: Ich schreibe den Katalogtext für die Arbeit eines Künstlers, von dem ich eine andere Arbeit zuvor als ästhetisches Unglück bezeichnet habe. Ich kritisiere als Künstler die Ausstellung eines Kurators als inhaltlichen Humbug – und dessen ungeachtet lädt dieser mich zu einer anderen Ausstellung ein. Durch unser Täuschungsmanöver wäre im Kunstbetrieb möglich, was in einer repräsentativen Demokratie eigentlich zur Selbstverständlichkeit gehört: Die offen ausgetragenen Meinungsverschiedenheit in einem Punkt verhindert nicht, dass man an anderer Stelle für eine gemeinsame Sache eintritt.
Wie die anderen Pseudonyme des Blogs war der von mir gewählte Name Annika Bender keinem Teilnetzwerk der Kunstwelt wirklich zuzuordnen. Gleichwohl verrieten meine Texte ein spezifisches Wissen, einen tieferen Einblick in sowohl die Geschichte als auch aktuelle Spielzüge der Szene. Ich war offensichtlich kein Zaungast. Mein Pseudonym hatte überdies den Vorteil, dass sich dahinter mindestens zwei Personen verbargen, auf deren Kenntnisse ich zurückgreifen konnte. Während ich persönlich eigentlich eher selten Interesse verspüre, Ausstellungen mit zeitgenössischer Kunst zu besuchen, hatte Annika Bender die vermeintlich wichtigen immer schon gesehen.
Die Pseudonyme boten eine ganze Reihe von Vorteilen. Hatte sich eines vielleicht durch eine allzu polemische Kritik unmöglich gemacht, erfand man einfach ein neues. Und gerade in der Anfangszeit hatten die Texte häufig einen sehr polemischen und scharfen Ton. Nachdem der Blog die kritische Menge an durchschnittlichen Zugriffen überschritten hatte, also tatsächlich von Teilen des Netzwerk regelmäßig angesteuert wurde, sorgte die verbale Schärfe der Artikel auch für eine rege Aktivität in den Kommentarspalten. Wir verbuchten das erst mal als Erfolg. Denn wie auf Eröffnungen kaum über Kunst gesprochen wird, schweigt sich auch das Internet weitgehend aus. Beim Donnerstag gab es plötzlich ausufernde Diskussionen zu einzelnen Ausstellungen, für die sich die meisten Beteiligten ebenfalls Pseudonyme zulegten. Manchmal meldete sich auch einzelne Kuratoren oder Künstler unter Klarnamen zu Wort. Florian Pumhösel etwa war entsetzt vom polemischen Ton einer Kritik an seiner Ausstellung im Wiener MUMOK und warf Autor Erik Stein sogar persönliche Denunziation vor.
Das war vielleicht ein wenig übertrieben, trotzdem fuhren wir die polemischen Härten in den letzten Jahres des Blogs deutlich zurück. Wir arbeiteten intensiver an einzelnen Ausstellungsbesprechungen, dafür erschienen sie seltener, waren länger; ihre Argumentation wurde insgesamt ausgefeilter und präziser. Auch wenn die Kommentare nachließen oder weniger kontrovers ausfielen, fühlten wir uns damit unserem eigentlichen Ziel näher, nämlich den Beweis anzutreten, dass es durchaus möglich ist, qualitative Unterschiede innerhalb der zeitgenössischen Kunst herauszuarbeiten. Die Leserschaft wuchs stetig, Künstler schrieben uns persönlich an, um uns Pressereisen zu ihren Ausstellungen schmackhaft zu machen und Redakteure von Kunstmagazinen erfragten den Preis für Ausstellungskritiken. Es lief.
Aber irgendwie auch nicht. Paradoxerweise wuchs das Gefühl der Machtlosigkeit in uns analog zum Erfolg des Blogs, der von immer weiteren Teilen der Kunstwelt wahrgenommen und gewürdigt wurde. War es eine tödliche Umarmung? Oder was läuft schief, wenn Galerien und Ausstellungshäuser dezidiert ablehnende Besprechungen zur Eigenwerbung in Newslettern und auf Facebook-Pinwänden nutzen? Der Donnerstag war auf dem besten Weg, selbst Teil einer dekorativen Kritikmaschine zu werden.
Für keine unserer Kritiken erhielten wir so viel positive Resonanz wie zu unseren beiden letzten. Ein Bericht zur Ausstellung „Speculation On Anonymous Materials“ im Kasseler Fridericianum, die man im Nachhinein wohl als szeneweiten Durchbruch der Post-Internet Art bezeichnen muss, und die Rezension eines Themenhefts der Texte zur Kunst, die im Nachgang zur Ausstellung die passende Theorie protegierte, den sogenannten Spekulativen Realismus. Punkt für Punkt argumentierten wir, warum in Beidem, in Theorie und ästhetischer Praxis, wenig mehr als ein kluges strategisches Manöver zu erkennen war, das wohl neue Namen und Begriffe, aber wenig produktive Ansätze für einen neuen und gegenwärtigen Diskurs bereit hielt.
Es dauerte kein Jahr, und der Diskurs gehörte zum neuen Standard. Das sollte nun das Programm unserer Generation sein? Der eigenartige Aufguss eines nun weitgehend unpolitischen Materialismus, der sich mit billigen Aha-Effekten der philosophischen Grundrechenarten begnügte und ein ästhetisch getuntes Arsenal von Energy-Drink-Installationen und deformierten Silikonprodukten, die zum darbenden Modus der Kunst aber auch nichts Neues beizutragen hatten? Was für ein Abfuck.
Für mich war die Sache damit erledigt. Erik Stein war als Pseudonym schon ein paar Monate vorher ausgeschieden. Jetzt reichte es auch mir. Nüchtern aber bestimmt erklärte ich den Autoren, die unter meinem Namen firmierten, dass sie nun selbst an der Reihe wären. Obwohl der Donnerstag fast ausschließlich von der Kunstwelt rezipiert wurde – es gab zumindest keinerlei Hinweise darauf, dass irgendjemand Anderes ihn lesen würde –, war er eben nicht Teil der Gemeinschaft, sondern umso mehr Zaungast, je präziser und differenzierter er wurde. Für mich, die immer Außenstehende war und bleiben wollte, war das Experiment damit gescheitert.
Wenn also die Künstler, denen ich in den vergangenen Jahren als Maske diente, künftig etwas zu meckern haben, rate ich ihnen dringend, ihre eigenen Namen zu riskieren. Es kann nur etwas passieren, wenn Künstler endlich anfangen, ihre eigenen Kollegen offen zu kritisieren. Das Künstlergespräch muss raus aus den schummrigen Raucherecken. Wovor habt Ihr Angst? Konflikt? Streit? Zersplitterung? Ja bitte, unbedingt! Es ist nicht nur langweilig, sondern fahrlässig, wenn alle gemeinsam als Verbündete und Verteidiger eines einzigen großen Kunstkosmos begreifen. Sucht Euch meinetwegen ein Umfeld, sucht Euch ein Leben außerhalb der Kunst und immunisiert Euch gegen den Gruppendruck. Aber vor allem: Fangt endlich an, Euch als öffentliche Akteure zu begreifen, deren erkennbare und offen ausgetragene Differenzen lebensnotwendig sind für das, was man früher einmal das Gespräch über die Kunst genannt hat: den Diskurs.
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