Das Ende der Alternativlosigkeit. Mehr Dissens für die Flüchtlingsfrage

Die Krise der Gegenwart hat bislang kaum intellektuelle Energie freigesetzt. Freilich gibt es einige, die Stellung bezogen haben oder mit neuen Vorschlägen hervorgetreten sein,[1. Außer den im Folgenden exemplarisch genannten Debattanten z.B. die gegensätzlichen Positionen von Udo di Fabio in seinem Gutachten für den Freistaat Bayern  sowie auf der anderen Seite von Ulrike Guérot und Robert Menasse in der le monde diplomatique.] aber gemessen an Größe und Signifikanz des Problems ist es eigentümlich still in Europa. Wir stehen vor Aufgaben, die in hohem Maße über unser nationales und europäisches Gemeinwesen entscheiden und uns fällt nur so wenig ein? Das klingt unwahrscheinlich, wo doch sonst alles aufgebauscht und breitgetreten wird, was ein kleines Debattenfeuer entfachen könnte. Nun ist ein echtes Thema da, doch die intellektuelle Bühne ist verwaist, als wenn man sich vor den Konsequenzen der eigenen Gedanken fürchten würde.

Schaut man sich um, was passiert, wenn einer sich aus der Deckung wagt, dann ist die Vorsicht zum Teil berechtigt, aber eben nur zum Teil. Einerseits: Kaum hat sich Peter Sloterdijk in gewohnt provozierendem Gestus geäußert, wird er von Herfried Münkler in die Schranken gewiesen[2. Herfried Münkler: Wie ahnungslos kluge Leute doch sein können, in: Die Zeit Nr. 7/2016, 11. Februar 2016.] – und Richard David Precht lässt in einem lockeren Wein-Gespräch mal eben die Anspielungen fallen, mit denen man jemanden eigentlich mundtot macht.[3. Das scheint gar nicht Prechts Absicht zu sein, aber zu sagen, das „klingt für mich nach Rudolf Höß“, ist eine Verbalinjurie der unverschämteren Art (Richard David Precht: Wein inspiriert, Kölner Tagesanzeiger Nr. 37, 13./14.02.2016, Magazin S.9).] In weiten Bereichen der Presselandschaft bleibt die Frage übrig, ob man nun an Sloterdijk studieren könne, ob so die neue Rechte aussehe.[4. Dazu Hannah Lühmann und, analytisch, Armin Nassehi.] Andererseits: Die Genannten sind nicht zuletzt Medienprofis. Alle wissen, was sie tun, nur der Diskussion in der Sache hilft das kaum. Nach Positionierung und Reaktion wird der Dissens sofort verdünnt: Anstatt Argumente auszutauschen, die sich weiterhin auf die Flüchtlingspolitik beziehen, wird sehr schnell nur noch über das Reden geredet. Was mit politischen Fragen begann, wird zur Selbstbespiegelung.[5. Ausnahme: Herfried Münkler: Weiß er, was er will?, in: Die Zeit, Nr. 12/2016, 10. März 2016.]

Selbst die Kanzlerin hat im Fernseh-Gespräch mit Anne Will zwischen politischen Entscheidungsträgern und Beobachtern aus Journalismus oder Wissenschaft („Soziologen“) unterschieden. In gut arbeitsteiliger Logik argumentiert sie, was diese dürften, könne politisch kein Ausgangspunkt sein. Das heißt im Umkehrschluss: Während Regierungsverantwortung die Lösbarkeit von Problemen prinzipiell unterstellen muss, dürfen Beobachter aus Wissenschaft und Kunst durchaus mit Risiko-Szenarien spielen. Aber es tut kaum jemand. Die Routinen der politischen Imagination scheinen zu versagen. Folgen alle dem Kurs der Kanzlerin oder hat uns die neueste Unübersichtlichkeit die Sprache verschlagen?

Es müssen doch Fragen zu finden sein, die dem „Auftritt des Realen“ produktiv begegnen und der institutionalisierten Politik gegenüber anschlussfähig sind, ohne im Akkord der task forces und Medien-Hypes zerrieben zu werden.[6. So auch Thomas Pogge am Ende dieses Interviews.] Versuchen wir es damit, die Herausforderung der Gegenwart nicht als Bedrohung unserer Kultur, sondern als Verpflichtung zum Denken anzusehen. Nur wenn wir dem Konstruktivismus, der uns stark macht, wieder zur Geltung verhelfen, kommen wir über ein situatives Durchwurschteln hinaus, das nur Affekte schürt und neoliberale Interessen bedient.[7. Es dürfte aufschlussreich sein, die Antworten der deutschen Regierungspolitik auf beide Griechenlandkrisen, die Krise des griechischen Staatshaushalts 2010-2015 und die anschwellenden Flüchtlingslager auf griechischem Territorium, einmal unter dem Gesichtspunkt eines neoliberalen Grenzregimes, das weder für Finanztransaktionen, noch für Waren oder Menschen Grenzen vorsieht, zusammen zu betrachten.]

Persönliche Mitverantwortung

Es gibt zweifellos einen Zusammenhang zwischen dem ressourcenintensiven Lebensstil des Westens, dem hohen Wohlstandsniveau hierzulande sowie dem Regime „unserer“ Weltwirtschaftsinstitutionen auf der einen Seite und der Armut und Perspektivlosigkeit in anderen, südlicher gelegenen Regionen.[8. Thomas Pogge: World Poverty and Human Rights, Cambridge/Malden 2002.] Manche mögen das leugnen und tatsächlich scheint es im Einzelfall nicht leicht zu klären zu sein, ob z.B. kulturell bedingte Klimaveränderungen für Dürreperioden in Syrien (mit)verantwortlich sind, die möglicherweise wiederum den syrischen Bürgerkrieg angetrieben haben, weil sich Landflüchtige in den Städten mangels Zukunftsperspektiven radikalisierten.[9. Die Pressemitteilung des Deutsche Klimakonsortiums vom 11.02.2016. Die dort referierte Studie von Christiane Fröhlich ist im Erscheinen begriffen.] Trotzdem: Wer einräumt, dass es vermittels geringer Lebenshaltungskosten bei uns, die aus unfairen Löhnen und desaströsen Arbeitsverhältnissen in Billiglohnländern und Freihandels- bzw. Sonderwirtschaftszonen resultieren,[10. Zum Begriff der Freihandelszone siehe Carsten Weerths und Martin Kleins Eintrag im Wirtschaftslexikon; für eine Reportage aus einer „FTZ“ etwa Carolin Emcke: Von den Kriegen. Briefe an Freunde, Frankfurt am Main 2004, S. 79-102.] einen Zusammenhang zwischen seinem Wohlstand und anderer Menschen Armut gibt,[11. Evi Hartmann: Wir Sklavenhalter (Teil I), in: Blätter für deutsche und internationale Politik 03/2016. Siehe auch den Global Slavery Index.] der trägt auch eine Mitverantwortung für Wirtschaftsmigration und im Einzelfall auch für Bürgerkriegsflüchtlinge. Dieser Verantwortung müssen wir uns stellen oder genauer: Wir müssen uns ihr stellen, wenn wir ein Selbstbild aufrechterhalten wollen, in dem die zentralen Werte des in der westlichen Kultur entwickelten Universalismus weiterhin enthalten sind. Wer Rechts- und Vertragssicherheit auch in internationalen Zusammenhängen für grundlegend hält, Menschenrechte für unveräußerlich und ein Recht auf Befriedigung der grundlegendsten, zur Lebenserhaltung unverzichtbaren Bedürfnisse jedem einräumt, der kann von der aktuellen Situation vieler Flüchtlinge nicht unberührt bleiben.

Die Übernahme dieser Verantwortung und das genannte Selbstbild ziehen eine klare politische Grenze und schließen jeden Populismus aus, der die realen Nöte anderer leugnet und sich mit der Proklamation von Sonderrechten für die Eigensphäre beliebt macht. Das beginnt bei einer Autobahn-Maut nur für ausländische Fahrzeuge und reicht bis zur Stigmatisierung von Migranten. Der grassierende Rechtspopulismus überzüchtet berechtigte Sorgen und Nöte der heimischen Bevölkerung, um sich selbst daran zu nähren, diskreditiert verantwortliches Handeln im Großen und Kleinen und bemäntelt das dann als abendländisch und sogar christlich. Bedient wird solcher Egoismus allerdings auch von links, wenn der Zustimmung für Flüchtlingshilfen mit Sozialpaketen für die Inländer auf die Sprünge geholfen werden soll.

Was aber folgt positiv aus der Selbstverpflichtung, Mitverantwortung für globale Prozesse zu übernehmen? Das ist weniger einfach zu bestimmen. Sind ethische Prinzipien im Spiel, schlechtes Gewissen oder einfach Hilfsbereitschaft? Was hieße es, wenn sich eine solche Verpflichtung aus dem Eingeständnis ableitet, dass „wir“ vom Irak-Krieg bis zu Waffenexporten auf stets profitable Weise die Finger mit im Spiel haben? Oder wurzelt die ebenso gefeierte wie geschmähte „Willkommenskultur“ in einer Gemengelage aus historischen Schatten und aktueller Doppelmoral?

Hier und jetzt ist zu klären, wozu wir uns verpflichtet fühlen sollten. Gehen wir zunächst einmal davon aus, dass wir in einem grundlegenden Sinne moralisch verpflichtet und rechtlich aufgefordert sind – und dass viele Menschen auch tatsächlich helfen wollen – so stellt sich gleichwohl die Frage: in wie weit? Gibt es ein richtiges Maß? Oder muss es hier heißen: „Not kennt kein Gebot“?

Die Unvermeidlichkeit von Limitierungserwägungen

Die Frage soll nicht implizieren, dass schon eine Grenze dessen erreicht wäre, was von der deutschen Gesellschaft und dem deutschen Staat geleistet werden kann. Doch auch wenn nicht abzusehen ist, welche Kriterien zur Beantwortung der Frage z.B. nach Flüchtlings-Kontingenten überhaupt in Anschlag zu bringen sind, ist die Unvermeidlichkeit von Limitierungserwägungen – wie diese konkret auch immer aussehen mögen – zu konstatieren.

Zunächst einmal ist es nur vordergründig richtig, dass die Zahl der Flüchtlinge ausschließlich von der Not der Situation abhängt. Ohne diese Not in Frage zu stellen, hängt die Entscheidung zur Flucht immer auch von den Aussichten ab, die sich dem Flüchtenden bieten. Eine derartige Feststellung impliziert keinerlei Zynismus, sondern verleiht den Flüchtenden ebenso Akteurs-Status wie es die Gegenseite an den unvermeidlichen Regelungsbedarf erinnert.[12. Paul Collier: Exodus. Warum wir Einwanderung neu regeln müssen, übers. v. Klaus-Dieter Schmidt, München 2014.] Flucht ist kein Naturphänomen, deswegen ist jede Metapher von „Flüchtlingsströmen“ genauso problematisch wie das Leugnen von Steuerungsmöglichkeiten, die nur deren Pendant darstellt. Auch und gerade im Fall einer gelingenden Strukturierung der Flüchtlingsbewegungen bzw. einer „Europäischen Lösung“, wie sie von der Bundesregierung favorisiert wird, stellt sich immer noch die Frage, welches Land der Europäischen Union wie vielen Bürgerkriegsflüchtlingen der Genfer Konvention oder anderer Rechtsprinzipien gemäß Schutz bieten kann und will.

Für die Unvermeidlichkeit von Limitierungserwägungen spricht außerdem die Erfahrung. Im Herbst des vergangen Jahres 2015, in dem in großer Zahl Flüchtlinge unkontrolliert die Grenze zu Deutschland überquert haben, ist ein Zielkonflikt auf die Agenda getreten, der keinen skalierbaren, sondern einen absoluten Charakter hat. Aller Trivialität zum Trotz sei es ausgesprochen: Es ist sichtbar geworden, dass deutsche Städte und Gemeinden, Länder und Bundesinstitutionen in vereinten Kräften mit vielen engagierten Bürgern zwar sehr vielen Flüchtlingen Schutz bieten können, aber sicher nicht allen, die schutzbedürftig sind. Auch wenn die deutsche Bevölkerung einer Meinung wäre, was offensichtlich nicht der Fall ist, und auch wenn man keine Rücksicht auf die europäischen Partner nehmen und sich dem Vorwurf eines moralischen Imperialismus Deutschlands in Europa aussetzen wollte, dürfte zweifelsfrei sicher sein, dass die Hilfsmöglichkeiten nicht unendlich sind.

In Konformität mit der Genfer Konvention erreicht die Flüchtlingsaufnahme weniger ein in Zahlen auszudrückendes Maximum als vielmehr eine Legitimitätsgrenze, wenn der Ansturm der Flüchtlinge den sozialen Frieden oder die staatliche Ordnung bedroht. Davon sind wir weit entfernt und sicher gibt es keinen Anspruch darauf, dass die eigene Gesellschaft von Veränderungen verschont bleibe, wenn sich um sie herum die Welt in rasantem Wandel befindet. Sehr wohl aber kann gefordert werden, dass sich der Wandel, so lange es irgend geht, in den Formen vollzieht, die eine Gesellschaft sich via Staat selbst gegeben hat. Demgemäß kann „Willkommenskultur“ nicht heißen, sich ganz der Spontaneität zu überlassen und selbstverständliche Verwaltungsprozesse, die Rechtssicherheit und Verfahrensgerechtigkeit garantieren, für eine längere Zeit auszusetzen. Würde ein solcher Zustand anhalten, käme das einer unmittelbaren Veränderung der institutionellen Qualität der Bundesrepublik gleich, angesichts derer man durchaus wie Rüdiger Safranski oder Udo di Fabio fragen kann, ob eine solche Politik ein „demokratisches Mandat“ hat.[13. Rüdiger Safranski: Politischer Kitsch, in: Die Weltwoche 52/2015. Vorletzte Antwort: „Merkel hat ganz einfach nicht das demokratische Mandat, ein Land so zu verändern, wie das der Fall ist, wenn binnen kurzem Abermillionen islamische Einwanderer im Land sind. Immerhin hat sich Merkel beim Amtseid verpflichtet, Schaden vom deutschen Volk abzuwehren.“]

Der Herbst 2015 hat demnach gezeigt: Auch und gerade wer nachhaltig helfen und das Elend vieler Betroffener mindern will, muss entweder selbst darüber nachdenken oder sich die Frage gefallen lassen, wie die institutionellen Voraussetzungen des eigenen Handelns langfristig gesichert werden können.

Paradox der Hilfe

Doch auch die Kritik der eifrigen Hilfe steht unter Argumentationszwang. Wer – wie Safranski – den Namen Kants auszusprechen wagt, muss auch den kategorischen Imperativ an sich heranlassen. Das aber heißt, es müssen sich Gründe dafür angeben lassen, dass Hilfen begrenzt werden oder warum sogar Abschiebungen vorgenommen werden.[14. Rainer Forst: Das Recht auf Rechtfertigung. Elemente einer konstruktivistischen Theorie der Gerechtigkeit, Frankfurt am Main 2007, 291-327.] Lediglich einen Integrationsunwillen zu artikulieren, genügt sicher nicht – siehe oben: Verantwortung.

Ein zu wenig beachteter Punkt dürfte hingegen sein, dass Rechte nicht nur vom Empfänger her gedacht werden können. Wo Rechte in Anspruch genommen werden, sind Institutionen immer schon vorausgesetzt. Kein moralisches Gefühl und kein Engagement kompensieren die Leistung, die Recht und Verwaltung als Voraussetzung von Hilfsmöglichkeiten stillschweigend erbringen. Sogar die Selbstbindung unserer politischen Kultur an das Recht, bekannt nicht zuletzt als „Verfassungspatriotismus“, ist in ihrem Beitrag zur Annahme der gegenwärtigen Herausforderung nicht zu unterschätzen.

Rechtsstaatlichkeit aber erweist sich im institutionellen Prozess nicht dadurch, dass auf Ereignisse vor allem schnell reagiert wird, so dass der Bürger sich nicht beunruhigen muss, sondern dadurch, dass noch in der größten Krise Routinen abgespult und „Legitimation durch Verfahren“ (Niklas Luhmann) erzeugt wird. Der Staat muss nicht als Macht in Erscheinung treten, die Grenzen martialisch sichert, aber als Garant des Rechts sowohl ankommender Flüchtlinge als auch seiner Bürger sollte er jederzeit präsent sein. Zu seiner Unverwechselbarkeit mit privaten Sicherheitskräften und selbsternannten Bürgerwehren gehört es allerdings, dass er sich nicht aus der Ruhe bringen lässt, mag er dadurch noch so behäbig wirken.

Situative Stauungen dürften unvermeidlich sein, aber grundsätzlich muss Flüchtlingshilfe ebenso wie Asyl ein geregeltes Verfahren haben, um nicht als willkürliche Maßnahme zu erscheinen und sich damit quer zu stellen zur politischen Kultur der Bundesrepublik. Egal ob Integration oder Rückkehr die Zukunftsperspektive der Flüchtenden bestimmt, müssen von der Erstaufnahme bis zur Arbeitserlaubnis rechtsstaatliche Verfahren den Aufenthalt des Flüchtlings von Beginn an prägen.

Weil Verfahren aber Garanten benötigen, deren Apparate bereits Ressourcen verbrauchen, bevor eine erste Leistung gewährt wurde, müssen diese Verfahren notwendig selektiv sein. Zum Paradox der Hilfe gehört es daher, dass sie gerade dann, wenn die Not am Schlimmsten ist, nur Hilfe für bestimmte Gruppen sein kann. Je mehr meine Hilfe bietet, desto selektiver wird der Zugang zu ihr sein müssen.

Tragisches Bewusstsein

Die unvermeidliche Selektivität der Hilfe mag für alle Hilfsbreiten unerträglich sein, aber sie lässt sich nicht für längere Zeit ignorieren. Und selbst wenn das ginge, würde es nicht bedeuten, den Geltungsbereich der Hilfen tatsächlich zu erweitern. Der Verzicht auf Regularien, sei er auch noch so gut gemeint, ist auch eine Regulierung, nämlich zugunsten des Stärkeren. Wer nicht bereits im Vorfeld lenkend eingreift, leistet einem Darwinismus Vorschub, der nur ein Kriterium kennt: es möglichst schnell an die Pforte des Staates zu schaffen, dessen Hilfe man in Anspruch nehmen will.

Es führt daher kein Weg daran vorbei, einerseits ein effektives Grenzregime zu errichten und andererseits legale Migrationsrouten mit flexiblen Kontingenten auf der Basis unverbrüchlicher Verfahren einzuführen. Beides kann nur zusammen geschehen. Europa kommt nicht umhin, seine Grenzen wirksam zu schützen und Deutschland muss sich sowohl seine Attraktivität für Migranten eingestehen als auch die Sonderstellung, die es dadurch in Europa einzunehmen scheint. Daher muss es erst einmal mit sich selbst klären, auf welchen Wegen es wie viele Menschen aufzunehmen bereit ist. Im zweiten Schritt wäre zu fragen, was eine diesbezügliche Differenz zu seinen Nachbarn bedeutet. Das sind Fragen, die wir zu diskutieren noch gar nicht begonnen haben, weil wir uns von der Realität bzw. den Bildern, die als solche auftreten, in den Bann schlagen lassen.

Nicht zuletzt müssen wir uns der Verantwortung stellen, die aus der unvermeidlichen Selektivität unserer Hilfe selbst erwächst. Es muss über Kompensationen dafür nachgedacht werden, dass nicht allen auf die gewünschte Weise geholfen werden kann: u.a. Krisenmanagement, Entwicklungshilfe, Unterstützung von Hilfsorganisationen. Die Konfrontation mit den Folgelasten eigener Entscheidungen dürfte schließlich auch die gesellschaftliche Haltung gegenüber den Krisen und ihren Ursachen verändern. Anstatt Outsourcing zu betreiben und die Probleme über den Tellerrand der europäischen Gemeinschaft zu schieben, werden wir uns die Folgen unserer eigenen Politik genau ansehen müssen – um sie entweder auszuhalten oder nachzujustieren. Zu einer realistischen Flüchtlingspolitik gehört auch die Fähigkeit, das Leid derer zur Kenntnis zu nehmen, denen wir aufgrund unserer Entscheidung nicht helfen.[15. Navid Kermani: Einbruch der Wirklichkeit. Auf dem Flüchtlingstreck durch Europa, München 2016 und bereits Warum Europa uns jetzt braucht.] Es bleibt ein Leid, das hinter keiner Stigmatisierung verdrängt werden darf und es sollte niemand – wie es Sloterdijk mit seiner Formulierung von der „wohltemperierten Grausamkeit“ andeutet – die Parole zur Abstumpfung dagegen ausgeben[16. In einem Gespräch mit dem Deutschlandfunk gebraucht Peter Sloterdijk den Ausdruck „wohltemperiere Grausamkeit“ im Zusammenhang mit Überlegungen zur Minderung der „Attraktivität für Flüchtlinge“.] oder sich hinter der Rede von sicheren Drittstaaten verschanzen. Und doch müssen wir uns eingestehen, das Leid anderer oftmals nur in Grenzen beheben zu können. Zu empfehlen ist daher ein tragisches Bewusstsein, das die Selektivität auch echter, nachhaltiger Hilfe unvermeidlich begleitet. Das klingt immerhin „abendländisch“ und ist in jedem Fall besser als es ein ethischer Maximalismus, der sich über sein Scheitern in der Praxis hinwegtäuscht – von populistischen Positionen ganz zu schweigen.

 Matthias Schöning lehrt Neuere Deutsche Literatur an der Universität Konstanz