Brief aus Wien (I). Wiederholen, Durcharbeiten

Die Aufgabe lautet: Ankunft im Wiener Musenkloster am 1. März, um 10 Uhr, Beziehen des Büros, abends Empfang, bis dahin erste Übungen in freier intellektueller Entfaltung. Ich richte Twitter und Online-Banking als Lesezeichen im Browser ein und formuliere eine Abwesenheitsnachricht für die Heim-Mailadresse: Forschungsaufenthalt, dauert länger, schönes Leben noch. Dann lese ich im Standard, der vor der Universität Wien regelmäßig kostenlos ausgeteilt wird, in der Hoffnung, dass Studierende, die eine Zeitung gratis nachgeschmissen kriegen, irgendwann zu zahlenden Abonnenten werden. Auf der ersten Seite wird berichtet, dass der „umstrittene Mediziner“ Marcus Franz (ÖVP) einem Ausschlussverfahren seiner Partei durch Austritt zuvorkommt. Er hatte öffentlich Vermutungen darüber angestellt, dass Angela Merkel deshalb so viele junge Flüchtlinge nach Deutschland einlasse, um die eigene Kinderlosigkeit auszugleichen. Ich habe Marcus Franz nun mit Bildersuche gegoogelt und möchte öffentlich Vermutungen darüber anstellen, dass er Mitglied im Fitness-Club John Harris am Schillerplatz ist, oder aber eine Vielzahl von Brüdern und Cousins hat, die ihm sehr ähnlich sind und dort die Zeit nach Feierabend verbringen.

In dieser „Welt der Aktivität und Lebensfreude“ finde ich mich jedenfalls bereits in der ersten Woche ein, um auszugleichen, dass der Fußweg von meiner Wohnung zu meinem Arbeitsplatz nur so lange dauert, wie es braucht, um hintereinander Tainted Love von Soft Cell, Gloria Wills wirklich abstoßende, aber wirklich fröhlich vorgetragene Version von Gonna Get Along Without You Now und Palco von Gilberto Gil zu hören; das reicht nicht, um ein vollwertiges Mitglied der Welt der Aktivität und Lebensfreude zu werden. (Irgendwas muss man ja machen, am besten jeden Tag dasselbe, um die Neuheit des Ortes niederzuringen.) Im John Harris hampeln andere Büromenschen auf Geräten rum oder stehen an einem Tresen und trinken Mineralwasser oder andere Energiespender. Die Haare trägt man in Marcus-Franz-Style zackig abrasiert oder zurückgeschleimt, Kapuzen gibt es nur mit Pelzsaum. Der Schal des Kollegen, der der Servicekraft vertrauensvoll zuzwinkert, als er ihr zehn Cent Trinkgeld gibt, hängt noch etwas zu lose um den Hals, ich werde ihn bei Gelegenheit sehr fest zuziehen.

Eine sehr kleine, magere Mittfünfzigerin namens Gerda führt mit mir ein Beratungsgespräch, bei dem uns beiden unmittelbar klar wird, dass es ins Nichts führt. Ihr, weil sie den etwas schmutzigen Leinenbeutel eines New Yorker Feinkostgeschäfts betrachtet, in dem ich meine Turnschuhe transportiere; ich, weil ich merke, dass ich mit Typen, die diesen hochausgefahrenen Snobismus nicht als Ironie anzuerkennen bereit sind, kein Laufband teilen will. Abgesehen davon kann ich mir die ca. 300 € Monatsgebühr nicht leisten. (Und das steht ja auch auf meinem Beutel drauf: Ironie hat man nötig. Gerda weiß: Geld hat keine Metaebene). Zwei Damen, einander in niederer Stellung vermutend, liefern sich also einen kurzen Starr-Wettkampf aus geschlitzten Augen und gehen grußlos auseinander. Stattdessen turne ich jetzt also abends auf einem Crosstrainer der Firma Technogym rum, der in einem mehr oder weniger unbewachten Ladenlokal im 8. Bezirk steht, dazu läuft Musik, zu der sich Madonna 1994 in den Schritt gegriffen hat, es geschieht mir recht, irgendwas muss man ja machen.

Apropos Wiener Aktionismus. Verloren laufen an einem bleigrauen Sonntag Leute durchs Mumok, die auf die eigentümliche Idee gekommen sind, in einem stahl- und betongrauen Museum ginge die Wartezeit auf den Frühling irgendwie besser um. Schockgefrostet von den White-Cube- Ausstellungsräumen sehen wir: Hermann Nitsch, der irgendwas mit Priestergewändern macht, Rudolf Schwarzkogler, der seinen Penis massakriert, Günter Brus, der das Menstruationsblut einer Frau trinkt und all die anderen Schlachtfeste innerer Kinder, dazu dann Gemälde von Kokoschka, Klimt und Schiele, die rund 70 Jahre vorher auch nicht so gut beieinander waren, Notiz: Zerrüttung gleich Kunst (manchmal). Sinnvolle Historisierung, bei der allerdings bei mir der Wunsch entsteht, ihnen allen bei Gelegenheit mal „ach Muckelchen, was hast Du denn nur“ ins Ohr zu flüstern. Als ich auf dem Rückweg mit dem Fahrrad über den Bürgersteig vor meinem Haus fahre, bellt mich ein Nachbar an „ey Tussi, des is koa Radlweg“. Da zuhause in Neukölln die beliebteste Anrede für Fahrradrowdys immer noch „Fotze“ ist, fühle ich mich sehr charmiert.

Ich denke mir aus, dass der Nachbar vielleicht deshalb so überreizt ist, weil er die ganze Nacht über wach war und seinem sterbenden Vater immer wieder den einen beruhigenden Satz gesagt hat. Das ist unwahrscheinlich, aber möglich – es hängt davon ab, was man in Betracht ziehen möchte (dazu gehört natürlich nicht, dass Fahrradfahrerinnen auf dem Bürgersteig nervtötend sind). Man kann sich aussuchen, wie man die Sache sieht, und einer kleinen Fantasie wie dieser nachzugehen macht manche Situationen interessanter. Andere sind nur so auszuhalten. Während ich mich in der fremden Umgebung bei einfachsten Wegen verlaufe und mich mit dem kleinen Punkt auf Google Maps im Kreis sehe, der mir auf meinem Telefon anzeigt, dass ich wirklich auf der Welt bin, und wo ich hinlaufen sollte, höre ich immer wieder David Foster Wallaces Rede This is water, die er 2005 für Absolventen des Kenyon College gehalten hat. Ich habe sie mittlerweile so oft angehört, dass ich jede Atempause kenne, weiß, wann er das Wasserglas ansetzt und welche Vokabeln er etwas abgehackter ausspricht als die anderen. Es ist eine irritierende, weil predigende Rede, und es kommen Sätze vor, in denen es darum geht, „on fire“ zu sein, und zwar „with the same force that lit the stars: love, fellowship, the unique oneness of all things“. Wallace interessiert sich dafür, wie man Alltag aushält, wie man durch den Supermarkt kommt, ein Leben führt, das voller kleiner Frustrationen und großer Zerrüttungen ist, die sich zu einem existenziellen Kummer verklumpen. Sein Profi-Tipp ist, dass man diesen Klumpatsch durch erhöhte Aufmerksamkeit auflösen kann, durch Beobachtung der kleinsten Dingen, die einen die ganze Zeit umgeben, und die man nicht so leicht wahrnimmt, so wie ein Fisch das Wasser nicht kennt, in dem er schwimmt, this is water, so murmelt Wallace am Ende, this is water.  Das führt vielleicht zu Seelenfrieden, aber nicht immer zu der Zerrüttungskunst, die er von sich selbst verlangt hat.

Da muss man sich dann vielleicht entscheiden. Im Schauspielhaus wird eine dramatisierte Version von Christian Krachts Imperium gezeigt, inklusive Durchbrechen der vierten Wand, Publikum auf der Bühne, Vorzeigen der Requisiten des Stücks und der Geschlechtsteile der Darsteller (es geht in Imperium praktischerweise um einen Nudisten, Gründe sind also zur Hand). Es wird so lange Vegetarismus dekonstruiert, Kolonialismus kommentiert und Theater an sich ironisiert, bis am Ende in einer Projektion kurz das Gesicht Hitlers aufleuchten darf, man ahnt: bald ist es geschafft. Danach am Freud-Museum vorbei nach Hause laufen, immer nach oben, die Straße heißt korrekterweise Berggasse. Hitler ist das absolute Super-Telos, steht es am Ende, wird ein Schuh noch aus dem ausgeleiertsten Flip Flop von Narrativ: Man kommt wo an, in der Katastrophe, alles davor ist Erklärung dafür. Fiele mir sowas vor dem Freud-Museum ein, wäre es noch besser, tatsächlich will ich nur ins Bett und denke wenig außer this is Vienna, this is Vienna.

Ach ja, an einem der ersten Märztage kann man vor dem Wiener Rathaus noch Schlittschuh laufen. Mit dem Plan, die Neuheit des Ortes mit einem großen Ja zu allem (außer politischem Kabarett) niederzuringen, begleite ich Kollegen aufs Eis. Ich bin seit zwanzig Jahren nicht mehr Schlittschuh gelaufen und auf den den ersten Metern sicher, von einem der zwölfjährigen Wiener umgefahren zu werden, die ohne ein Konzept von Sterblichkeit oder Oberschenkelhalsbruch durch die Gegend sausen. Ich will runter, abbrechen, ich bin mir sicher, das alles aus ist, egal, was „alles“ ist. Die zweite Runde geht dann viel einfacher. Es ist alles sehr metaphorisch. Ich nehme mir vor, das beim nächsten Mal erst hinterher zu denken.