Obergrenzen der Akzeptanz?

Ein Ziel von Carolin Emckes Buch Gegen den Hass [1. Carolin Emcke, Gegen den Hass. Frankfurt/M. 2016.], dessen wesentliche Thesen auch in ihre Rede zur Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels am 23. Oktober eingingen, ist es, akademisch lang etabliertes Wissen – Seyla Benhabibs Sammelband Democracy and Difference [2. Seyla Benhabib, Democracy and Difference. Contesting the Boundaries of the Political. Princeton, NJ 1996.] ist zwanzig Jahre alt – in die öffentliche Debatte zu tragen, es im Alltag verankert zu sehen. Buch und Rede geben derzeit im Feuilleton nicht nur dazu Anlass, Emckes Denken zu reflektieren. Stattdessen tobt wieder einmal der Differenzkrieg. Emcke, die die Macht von Sprache und Präzision bei der eigenen Wortwahl zu einem Kern ihres Arbeitens gemacht hat, trifft nun jene Undifferenziertheit, gegen die sie anschreibt.

Eine vorgebliche Differenz- und Toleranzmüdigkeit, Theorieüberhang sowie der Vorwurf der Belehrungsabsicht und der mangelnden Handlungsorientierung sind die Kernpunkte der Kritik in Taz, Welt und Zeit. In den Besprechungen zeigt sich ein so wenig feiner wie entlarvender Anti-Intellektualismus: Emcke habe sich ihre Gedankengebäude zusammengelesen, die poststrukturalistische Fundierung ihrer Rede sei nicht nötig, der Bezug zu Shakespeare sei Bildungslack, von Proseminaren der 1990er ist die Rede. Zum Kern ihrer Thesen dringt man so nicht vor. Dass Differenztheorie in großen Teilen von Wissenschaftlerinnen entwickelt und diskutiert wurde und wird, ist dabei kein geringer Teil des Problems. Wer spricht, spielt noch immer eine mindestens genauso große Rolle wie das, was sie sagt. Weitgehend unbemerkt blieb deshalb die weibliche Denktradition, die bei der Preisverleihung vergegenwärtigt wurde und zu Wort kam: Von Hannah Arendt über die Differenztheoretikerin Seyla Benhabib hin zu Carolin Emckes Variante einer vita activa, die eine Übersetzung der „Begriffe, die uns verletzen“, fordert, eine präzise Sprache für die noch nicht erreichten Rechte und die erfahrene Diskriminierung.

Die Debatte ist selbst ein Lehrstück dafür, wie weit wir noch von einer positiven Anerkennung von Differenz entfernt sind. Reflexhaft werden altbekannte Register gezogen: zu intellektuell, zu subjektiv, zu praxisfern. Dahinter steht das bei Liberalen und Identitären gleichermaßen beliebte Verspotten von Genderforschung und die Behauptung, es gebe ein ‚zu Viel‘ an Anerkennung von Unterschiedlichkeit. Jetzt, wo wir uns endlich dazu durchgerungen haben, Frauen als einigermaßen gleichwertig anerkannt zu haben, und zuweilen den eigenen Rassismus reflektieren, reicht es uns weißen heterosexuellen Männern mit der Anerkennung ‚Anderer‘. Differenz, die darf auf Amazon Prime und im Kino unterhalten, aber mir meinen etablierten Alltag nicht noch schwerer machen. Stattdessen wird auf die Notwendigkeit von Zuschreibungen gepocht und behauptet, wir seien doch längst alle frei. (So Thomas Schmid und Richard Kämmerlings, beide in der Welt.)  Es ist eine der großen Stärken von Gegen den Hass, diese hegemoniale Sichtweise umzudrehen und zu klären, warum die Rechte von Transpersonen Menschenrechte sind und warum sie uns alle angehen (S. 139ff.). Warum der Spott „privilegierter Denkfaulheit“ (Patrick Bahners) über Unisex-Toiletten uns alle trifft. „Verschiedenheit ist kein Grund für Ausgrenzung. Ähnlichkeit keine Voraussetzung für Grundrechte“ – so pointierte es Emcke in ihrer Friedenspreisrede.

Der Vorwurf einer mangelnden Handlungsorientierung, der fehlenden Anleitung, wie die Anerkennung denn zu leisten sei, wird gern mit der Frage nach ‚dem Sozialen’ kombiniert. Doch das ist ein perfider Kartentrick: Unterstellt wird nämlich all jenen, die ökonomisch schlechter als der Durchschnitt situiert sind, sie hätten kein Verständnis für Lebensentwürfe, die sich von den eigenen unterscheiden. Der opportunistische Ruf nach ‚dem Sozialen’ führt eben nicht zu Inklusion, im Gegenteil: Er markiert Menschen in prekären Lebensumständen auch als geistig arm, als der geforderten Anerkennung nicht fähig. Genau gegen solche Verallgemeinerungen aber wendet sich die Autorin, wenn sie eine „freie, säkulare, demokratische Gesellschaft entwirft, in der alle von Bedeutung sind, „in der alle angesprochen und sichtbar werden“. Teil dieser „lernenden Gesellschaft“ (S. 159) ist die „ökonomische und soziale Intervention“ (S. 190), bevor Hass und Gewalt entstehen. Emcke wendet sich mehrfach gegen die Verdrängung des Sozialen und fordert, den Unmut über soziale Ungleichheit zu berücksichtigen. Die Agitation gegen ‚Andere‘ lenke von sozialer Ungleichheit ab und perpetuiere sie. (S. 38f., S. 42, S. 209).

Carolin Emckes programmatischer Entwurf einer „freien, säkularisierten, demokratischen Gesellschaft“ bedeutet im Kern, sich über andere nicht erheben zu dürfen. Menschen in sozialen Brennpunkten oder in angeblich „verwahrlosten Milieus“ (Adam Soboczynski in der Zeit) in Ostdeutschland zu unterstellen, sie seien nicht fähig, eine differenzierte Perspektive einzunehmen, ist überheblich und verkennt, dass Emcke den Hebel anders ansetzt. Ausgehend von individuellen Erfahrungen und Erzählungen leitet sie allgemeine Forderungen ab, die auf Gleichheit und Menschenwürde ruhen, Haltung und die Fähigkeit zum Perspektivwechsel verlangen und die das Verhältnis von Individuum und Kollektiv austarieren. Dabei unterschätzt sie weder die Notwendigkeit und Wirkung politischer Institutionen und Gesetzgebung noch die politische Wirkung einer Haltungsänderung im Alltag. Wer dies – wie Thomas Schmid – als linksliberale Selbstvergewisserung abtut, macht es sich sehr einfach. Emckes Vorschlägen per se Wirksamkeit abzuerkennen, scheint nicht deren Reflexion, nicht der mühsamen Auseinandersetzung geschuldet, die sie als nötig ankündigt und als lustvoll ausmalt. Ihr Denken auf einen Satz Kästners oder auf Zusammengelesenes zu reduzieren, zeigt vielmehr, wie weit wir noch von einer lernenden Gesellschaft entfernt sind.