Auf Abstand zum Rotlicht

Zu Nora Bossongs Rotlicht (Hanser 2017)

„Alles begann mit dem altmodischen Plüsch eines Sexshops. Als Kind traute sich Nora Bossong nur, ihn aus den Augenwinkeln zu betrachten. Als junge Frau aber wagt sie sich in jene Geheimzone, in der Lust nackte Arbeit ist und unsere Sexualität und der Kapitalismus frontal aufeinanderprallen.“ Anders als die Werbung des Hanser Verlags schwül verheißt, ist Bossongs Buch keine pornöse coming of age-Geschichte einer schüchternen jungen Frau, sondern eine präzise Analyse der Geschlechterverhältnisse im (heterosexuellen) Sexbusiness, für die sie ein Jahr im Milieu recherchiert hat.

Meist gemeinsam mit männlichen Begleitern besuchte sie Bordelle, Swingerclubs, Stundenhotels und Sexkinos. Sie interviewte Prostituierte und unterhielt sich mit Freiern und kam dabei zu der Erkenntnis, dass in der Welt des käuflichen Sex keine Gleichberechtigung herrscht, der Markt auf einem sexistischen Frauenverständnis aufgebaut und auf die Bedürfnisbefriedigung des heterosexuellen Mannes ausgerichtet ist. So wenig das Ergebnis der Untersuchung überrascht, so interessant ist der Weg, den Bossong zurücklegt, um zu ihrer Überzeugung zu kommen. Im Verlauf der Recherche verändert sich ihr Blick auf den Gegenstand: Ihre liberale Grundhaltung, die sie in ihrer Neugier ermutigt hat, das Rotlicht zu erforschen, wird herausgefordert, je intensiver sie sich mit der Materie beschäftigt. Während sie zu Beginn ihrer Arbeit noch davon ausgegangen ist, dass käuflicher Sex legitim sei, solange der Handel von Erwachsenen auf freiwilliger Basis vollzogen werde, zweifelt sie gegen Ende am freien Willen der Sexarbeiterinnen und geht mit dem skrupellosen Konsumdenken der Männer ins Gericht, die  immer noch mehr Sex für immer noch weniger Geld fordern.

Bossong hört den Menschen, über die sie berichtet, nicht nur aufmerksam zu, sondern sie schaut auch genau hin, wenn sie mit ihren Begleitern im Rotlicht unterwegs ist. Eindrücklich schildert sie die düstere Klebrigkeit von Sexkinos, das spießige Salatbüffet im Swingerclub und die roten Spannbettlaken im Stundenhotel, in dem Heimeligkeit mit Teelichtern simuliert wird. Sie berichtet darüber, wie die Menschen, denen sie begegnet, aussehen, und reflektiert über ihre Gemütszustände. Beispielsweise wenn sie über einen älteren Stripclubbesucher schreibt, der „mit geringeltem Pullover und schweren, traurigen Tränensäcken wie Peter Huchel“ in einer Ecke sitzt: „Melancholisch betrachtet er die Bühne, als leide er an dieser nahezu entblößten Frau […], die doch niemals an seinem Küchentisch sitzen wird, sondern immer Teil einer Kunstwelt bleibt. Dabei ist vieles hier so alltäglich, als säßen wir in der Eisdiele einer Kleinstadt. Die laminierte Getränkekarte, die Bistrotische und die verspiegelten Wände, eigentlich ist das alles hier Wunstorf oder Delmenhorst oder irgendein Neustadt.“

Bossongs Beobachtungen zeichnen sich durch Distanz zum Gegenstand aus. Sie beschreibt eine Welt, zu der sie nicht gehört, die ihr exotisch fremd ist. Dass sie einer anderen sozialen Schicht entstammt als der, über die sie sich vornehmlich äußert, macht sie bereits auf der ersten Seite klar. Dort weist sie darauf hin, dass ihre Kindheit endete, als sie „nicht mehr jeden Samstag mit [ihren] Eltern die Stufen zum Überseemuseum hinaufstieg, um [sich] strohige Hütten aus Papua-Neuguinea und chinesische Totenzüge anzuschauen.“ Ihr bildungsbürgerlicher Hintergrund tritt auch hervor, als sie auf ihre Sprachkenntnisse anspielt, die es ihr ermöglichen, exquisites Französisch zu erkennen, das „von keinem Vorstadtdialekt getrübt“ wird. Überdies zitiert sie an passender Stelle, wenn sie über die Warenhaftigkeit der Prostituierten schreibt, Walter Benjamin, den sie allerdings im Eifer des Gefechts mit Baudelaire verwechselt. Wie wichtig es für Bossong ist, Abstand zu den Gegenständen ihrer Beobachtung zu halten, wird deutlich, wenn sich die Distanz aufzulösen droht: Als sie in den Räumen eines Sexkinos Zeugin eines Gangbangs wird, bekommt sie Angst, dass man auch sie für eine willige Teilnehmerin halten könnte, da die sozialen Rollen an diesem Ort aufgehoben sind. Bevor sie flieht, stellt sie fest: „Wer wir sind, woher wir kommen, ist in diesem Kinokeller gleichgültig.“

Bossong ist klug und nicht ignorant, sie erkennt und benennt ihre privilegierte Position und nutzt sie zur Selbstreflexion. So sinniert sie auf dem Bett einer Prostituierten sitzend: „Aber natürlich, wie anmaßend, ja fast obszön ist es von mir, tatsächlich zu glauben, ich könnte mich in die Frau hineinversetzen, die in diesem Zimmer arbeitetet“. In anderen Situationen tut sie es allerdings trotzdem, zum Beispiel, wenn sie vermutet, dass die ungarische Prostituierte Bina im Interview „ihre professionelle Fröhlichkeit“ auflege, weil sie es sich nicht leisten könne, ihr ehrliches Gesicht zur Schau zu tragen.

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In ihrer Haltung unterscheidet sich Bossong stark von Hubert Fichte, der 1972 in seinen Interviews aus dem Palais d’Amour Stricher, Prostituierte und einen Zuhälter zu Wort kommen ließ. Fichte begegnete den AkteurInnen auf Augenhöhe und ließ sie für sich selbst sprechen. Bossong hat Fichte gelesen, für sich allerdings entschieden, dass seine Beschreibungen das Milieu „als eine edle Form des Unbürgerlichen“ überhöhe und es durch seine „ausgestellte Vertrautheit mit seinen Gegenübern“ vereinnahme. Das ist ihr gutes Recht, doch birgt Fichtes Arbeit nicht unbedingt weniger Gesellschaftskritik als Bossongs Buch. So etwa antwortet die Prostituierte Sarah auf Fichtes Frage, ob ihre Freier gepflegt oder dreckig seien: „Das kommt darauf an, es kommt darauf an, was für eine Schicht das ist.“ Fichte: „Und welche Schicht ist immer am dreckigsten?“ Sandra: „Die normalen Bürger.“

Als „normale Bürger“ versteht Bossong die Sexarbeiterinnen nicht. Sie sieht in ihnen vor allem Opfer, deren „Selbstwertgefühl […] über Jahre und Jahrzehnte dermaßen unterlaufen [wurde], dass es schwierig ist, ihnen überhaupt zu helfen. Sie haben gar nicht den Eindruck, Opfer zu sein.“ (Aus einem Interview, das Bossong mit der Welt geführt hat.) In einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung wird Bossong gefragt, ob sie bei ihren Recherchen nie „der Figur der selbstbewussten, selbstbestimmten Prostituierten“ begegnet sei, woraufhin sie antwortet, dass sie bewusst darauf verzichtet habe, diese in ihrem Buch zu Wort kommen zu lassen. Konkret sagt sie: „Ich hätte es überrepräsentiert gefunden, wenn ich noch ein ganzes Kapitel über eine solche Frau geschrieben hätte.“ Das ist schade. Zwangs- und Elendsprostitution sind reale Probleme, die von der Gesellschaft nicht ignoriert werden dürfen und von der Politik bekämpft werden müssen. Deshalb tut Bossong gut daran, den Punkt ganz deutlich zu machen. Allerdings würde sie das Sexbusiness nicht romantisieren, wenn sie auf die Vielfalt der AkteurInnen hinwiese, zu der eben auch „solche Frauen“ und darüber hinaus auch LGBTQ gehören, die in der Reportage nur am Rand der Ereignisse auftauchen, repräsentiert lediglich durch ein paar Stricher. Zudem erschließt sich mir nicht, weshalb sich SexarbeiterInnen als Opfer fühlen müssen – warum die individuelle Selbstwahrnehmung Voraussetzung dafür sein soll, sich gesellschaftlicher Missstände anzunehmen.

Vor vier Jahren erschien ebenfalls im Hanser Verlag Funny van Moneys Reportage This is Niedersachsen und nicht Las Vegas, Honey (2012). Wie Bossong hat auch van Money ein Jahr im Rotlicht verbracht. Allerdings war sie dort aktiv tätig. Um ihr Studium zu finanzieren, tingelte sie als Tabledancerin durch die Stripclubs der Republik. In ihrem Buch, das sie als Abschlussarbeit ihres Studiums eingereicht hat, äußert sie sich weise und witzig über die Welt der käuflichen Lust, ohne dabei die Schattenseiten des Milieus zu ignorieren. Die Frauen, mit denen van Money zusammen arbeitet, beschreibt sie als Individuen, die ihrem Beruf aus den unterschiedlichsten Gründen nachgehen. Bei van Money gibt es keine Opfer, sie rechtfertigt aber auch nicht den Sexismus der Männer, stellt ihn vielmehr zur Schau.

Nachdem ich Rotlicht gelesen hatte, habe ich mich gefragt, wie es wohl gewesen wäre, wenn Bossong mit van Money zur Sexmesse oder ins Sexkino gegangen wäre. Wie bereits erwähnt, hat es Bossong jedoch vorgezogen, „das Rotlicht mit männlichen Begleitern, denen [sie sich] verbunden fühlte“, zu „durchreisen“. Die Männer dienten ihr als Türöffner und zum Schutz in einer Umgebung, in der Frauen als sexuelle Dienstleiterinnen, nicht jedoch als zahlende Konsumentinnen bekannt und gewünscht sind. Die Tatsache, dass sie sich bei ihren Recherchen von „einer neuen Liebe, einem alten Freund [und] einem ehemaligen Geliebten“ begleiten ließ, hat überdies noch einen reizvollen Nebeneffekt: Die verschiedenen Konstellationen bringen mit sich, dass nicht selten sexuelle Spannungen spürbar werden. So ist von leichten Berührungen die Rede, die das Gegenüber zusammenzucken lassen, von vorsichtigen Näherungen, veränderten Stimmlagen, kurzen Umarmungen, von verlegenen und herausfordernden Blicken. Bossong beschreibt all dies überaus dezent. Sie bleibt bei Andeutungen, so auch wenn sie darüber schweigt, was sie gemeinsam mit ihrem Begleiter erlebt, nachdem sie in einem Bordell eine Prostituierte bezahlt haben, um mit ihr auf ein Zimmer zu gehen. Während Bossong auf der Faktenebene des Buches von der Unmoral sexueller Ausbeutung und vom Verlust der Intimität durch das Überangebot an käuflichem Sex erzählt, führt sie auf dessen Wirkungsebene kunstvoll vor, wie sich sexuelle Erregung manipulieren lässt, indem man die voyeuristische Fantasie der Leserschaft anregt. Das ist smart und kinky. Wie recht hat Nora Bossong daher, ihrem Buch ein Zitat von Georges Bataille voranzustellen: „Die Wahrheit der Erotik ist tragisch.“