Etc. (Warten; Notizen zur leeren Hand)

Vom 24. bis 26. September findet in Berlin KOOK.MONO statt, eine Veranstaltungsreihe, die neue, performative Formate für literarische Texte schafft. Autor*innen, die dort auftreten, denken bei uns im Blog über ihr Schreiben nach. (Hier die Website zur Reihe.)

Ich fange an.

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Ich muss anders anfangen

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Wann beginnt ein Text, und wann endet er? Wo beginnt er? Gibt es einen Anfang, ein: Anfangen? Vor zwei Tagen versucht: mit dem zweiten Roman anzufangen. Diese Unmöglichkeit. Dieses Warten. Ich konnte die erste Szene deutlich vor mir sehen, von ihr erzählen, aber sie zu schreiben, das war – das ist – nicht möglich gewesen. Es ist es immer noch nicht. Sie ist sehr einfach: Licht, das von einer Dunstabzugshaube auf eine schwarzbeschichtete Pfanne fällt. Ich trage sie, diese Szene (wie eine Wunde auf meiner Stirn, die sich nicht schließt) mit mir, seit Langem, herum, – und vielleicht trägt sie seit Langem auch mich (wie eine Wunde auf ihrer Stirn), mit sich, in sich, herum; ich vermute, das ist wahrer –; sie ist älter als der Entschluss, über sie zu schreiben. Also: Wann beginnt ein Text – und: wann endet er? Ich denke an zwei Sätze: Es gibt kein außerhalb des Texts. Und: Wir sind immer schon im System. Auch, wenn Derrida und Hegel (vielleicht war es auch nur eine Paraphrase Adornos) etwas anderes meinten, entsprechen sie, diese beiden Sätze, in einem zarten – also: in einem brutalen  – Sinn dem, was meine Erfahrung gewesen sein könnte; was meine Erfahrung noch, immer noch ist: Ich habe mit dem Text angefangen, bevor ich mit ihm angefangen habe. Ich habe ihn geschrieben, nein – ich muss anders anfangen: er war geschrieben worden, ohne geschrieben worden zu sein, weil ich immer schon angefangen habe, weil ich immer schon in ihm war; weil ich immer schon in ihm stand, in dieser Frage. Er ist diese Frage. Sie lässt sich nicht datieren, verfolgen, zurückverfolgen. Sie hat angefangen, sich zu stellen, mich zu stellen – im doppelten Sinn –, bevor ich angefangen habe, zu schreiben; bevor ich anfangen konnte. Ein Anfang vor dem Anfang, ein Anfangen vor jedem Anfangen: Das gilt auch für den Text selbst. Wie also: anfangen? Wann – und wie? – kommt das, was wir Sinn nennen? In welcher Geschwindigkeit? Zu welcher Zeit? Mit Hieu darüber gesprochen. Der Anlass war, wie immer, ein anderer. Worüber haben wir gesprochen? Es spielt keine Rolle. Worüber wir gesprochen haben: dass Sprache von überall herkommt; dass sie aus vielen Orten gekommen sein wird. Und das: zu ihrer Zeit. Ist das das Ereignis der Lyrik? Ihrer Ankunft? Dass sie, die Sprache, aus einer Richtung kommt – auf einmal, mit einem Mal, zum letzten Mal – aus der wir sie nicht haben kommen sehen, aus der wir sie nicht vermutet hätten? Wir können nicht sagen, woher. Dass sie, unerwartet und plötzlich wie sie kam, da ist, und sich uns anders zeigt: einsamer, verletzlicher, unverständlicher? Aber Sinn, das, was wir Sinn, nennen: er kommt zu spät. Kafka sagt (kein guter Satz kann so anfangen), der Messias wird erst kommen, wenn er nicht mehr nötig sein wird, er wird erst einen Tag nach seiner Ankunft kommen, er wird nicht am letzten Tag kommen, sondern am allerletzten. Aber er kommt. Er wird kommen. Zu seiner Zeit. Es wird immer zu spät gewesen sein. Warten. Dieses Wissen, diese Gewissheit (es ist nicht zu viel gesagt) gibt es. Dass er kommt. Ich glaube, wenn wir die Ankunft des Herrn nicht erwarten würden – d.h.: von ihr, in einer anderen, verborgeneren Form ausgehen, ohne es zu wissen, ohne sie datieren zu können – wir könnten auch sagen: wenn wir an die Ankunft des Herrn nicht glauben würden, würden wir nicht Lesen. Wir lesen ins Nichts hinein, auf sie, auf diese Ankunft, auf dieses Ankommen setzend. Wir vertrauen darauf. Ich denke an Celans Antwort, die er einem Leser gab, auf die Frage, wie er dessen Gedichte lesen soll: Lesen Sie. Immerzu nur lesen, das Verständnis – Sinn – kommt von selbst. Er ist unterwegs. Er kommt zu seiner Zeit. Er kommt zu spät. Wenn wir Lesen, warten wir; Schreiben heißt: gewartet zu haben; auf etwas, das nicht mehr kommen wird; auf etwas, das bereits da war, das uns gegeben wurde, aus einer Richtung, und das sich nicht halten / behalten / festhalten / durchhalten / aushalten lässt. Dieser Hauch – wir nennen es: Inspiration –, dieser Atem ist uns gegeben worden. Geben: ergeben / vergeben / vergebens. Hingeben. Wohin? Wem? Geben wir uns dem Text hin? Ergeben wir uns ihm? Kann er uns vergeben? Hegel bezeichnet Hingabe in seinen Entwürfen über Religion und Liebe als einzig mögliche Vernichtung. Wenn der Text sich uns hingibt, er sich vor uns ergibt – vernichten wir ihn? Wenn wir uns dem Text hingeben, uns vor ihm ergeben – vernichtet er uns? Ich glaube daran. Dass es auf beides hinausläuft, hinauslaufen muss: Auf den Tod des einen oder des anderen. Baldwin, April 1984, in einem Interview mit The Paris Review: Do this book, or die.

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Vielleicht war das der Grund für meine Angst vor dem Lesen: dass der Sinn kommen und alles – alles – zerstören wird. Der Abschluss von Sinn ist immer auch dessen Ende, das Ende dessen, wo-rauf er sich bezieht; indem es sich auf ihn bezogen hat: das Ende aller Dinge. Wenn aber diese Dinge anfangen zu geschehen, so blickt auf und hebt eure Häupter empor, weil Eure Erlösung naht.

Aber wann fangen diese Dinge an?

Wo enden sie?

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Ich muss anders anfangen.

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Der Text hat seine Zeit. Es ist eine andere Zeit als meine. Ich vertröste Albert damit, mit dieser Aussage: die Zeit zu schreiben ist gekommen, wenn man schreibt. Ich weiß nicht, ob ich daran glaube. Ich weiß nicht, ob sie kommt. Er sagt, 2020 wäre ein gutes Jahr, um deinen zweiten Roman zu veröffentlichen. Er sagt, du hast alle Zeit der Welt. Das ist kein Widerspruch. Aber, anders als beim Lesen, in das die Hoffnung – es gibt kein anderes Wort –, die Erwartung auf eine Ankunft – die Ankunft, die Sinn vollenden wird: ich bin das Alpha und das Omega, der Erste und der Letzte, der Anfang und das Ende – gesetzt ist, scheint Sinn beim Schreiben nicht zu spät zu kommen, sondern zu früh: er ist da, obwohl kein Wort geschrieben worden ist. Wir schreiben nicht einem Ende entgegen, sondern immer von diesem Ende aus, von diesem, von einem Ende her – nicht vom Ende dieser Geschichte, sondern vom Ende jeder Geschichte. Jedes Buch ist das erste und das letzte Buch, das wir geschrieben haben werden. Jedes Buch ist das einzige; eine Bibel: das Buch der Bücher. Wir schreiben das Ende. Schreiben ist dieses Ende: Wenn aber diese Dinge anfangen? Wenn wir eine Geschichte schreiben, schreibt diese Geschichte auch uns. Der Anfang aber bleibt unmöglich. So ist es. Und so wird es auch gewesen sein, wenn dieser Text ein Ende gefunden haben wird; gefunden haben sollte. Ich kann das nicht weiter ausführen. Es bleibt bei dieser Vermutung, jetzt; für diesen Augenblick. Ich werde versuchen, den Anfang, diese Szene – diese erste Szene – zu schreiben. Es bleibt mir nichts anderes übrig. Es bleibt nichts anderes übrig. Und auch das wird nicht bleiben.

(Etc.)

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In der neunten Klasse fragte mich mein Deutschlehrer, an dessen Namen ich mich nicht erinnern kann – er sagte, merkwürdig genug: ich sollte das Referat zu Kafkas Die Verwandlung halten; er sagte: diese Geschichte würde zu mir passen – wie lange eine Zigarette dauern würde; er schaute mich dabei an, konspirativ, als würde er wissen, dass ich rauche (ich habe erst später damit angefangen), und auf diese komplizenhafte, zutrauliche Art, die mir zu verstehen geben soll, dass er es gutheißen würde, aus eigener Erfahrung. Trauer um die eigene Jugend. Auf dem Balkon gewesen; geraucht. 18 Jahre später könnte ich ihm also antworten, weil ich es 18 Jahre später erst präzise weiß: die Dauer einer Zigarette (Marlboro Rot) beträgt genau 4:38 Min. Die Dauer einer Zigarette entspricht der Dauer von G-Eazys No Limit. So schnell rauche ich.

Auch Antworten kommen zu spät.

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Ich bin zu meinem älteren Bruder gegangen und habe ihn gefragt, ob er Die Verwandlung von Florian Kafka habe.

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Anmerkung zur Zeit des Sinns: an eine Freundin gedacht; ich weiß nicht, ob wir in Hannover oder in Prishtinë darüber gesprochen haben, über das schwierigste Stilmittel, über dessen Einsatz. Sie sagte: Ellipse (mit einer seltsamen Sicherheit). Ihre Begründung: in der Ellipse (d.h., vor ihr, bei ihr, durch sie) müssten wir uns entscheiden, was wir sagen und was wir weglassen wollen. Das aber ist immer der Fall, wenn wir Schreiben. Diese Reflektion ist nicht auf sie beschränkt, nicht für sie reserviert. Uns stellt sich immer diese Frage, weil das Schreiben uns in sie stellt – wenn wir Schreiben; durch das Schreiben. Das war meine Antwort. Ich glaube, die Wiederholung ist das schwierigste Stilmittel. Wann ist die richtige Zeit: zu kommen, wann – zu gehen? Wenn ich an die Wiederholung denke, muss ich an drei Formen der Rückkehr denken: an die Wiederkunft Jesu Christi, an die Auferstehung von den Toten und an diese eine Szene aus The Walking Dead, als Hershel auf der Veranda steht und zu Rick sagt: When they told us about the resurrection of the dead, I had something different in mind. Das war meine Antwort.

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Ich schreibe diesen Text statt den anderen, den Roman zu schreiben. Statt – wenn Hegel sagt, der Weg des Geistes sei der Umweg: könnte er das, zumindest so etwas gemeint, auch gemeint haben? Wir schreiben auf Abwegen, auf Umwegen, auf keinem Weg. Es gibt keinen Satz, den wir vollständig sagen könnten. Wir kommen nicht zur Sprache. Ich komme nicht zum Punkt.

(Parusieverzögerung.)

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Neukölln, Le Bon. Theresia getroffen. Vierter Cappuccino heute. Denke über das Wort Aussetzen nach. Es ist leichter, die verschiedenen, disparaten Bedeutungen dieses Begriffs, die er zusammen-hält, weil sie auseinanderweisen, auseinanderfallen, auf Englisch zu sagen: 1. to expose. 2. to interrupt. 3. to abandon. 4. to postpone. 5. to criticize. Alles, was ich tue, wenn ich schreibe – ich möchte fast sagen: falls ich schreibe, falls ich einmal geschrieben haben werde –, ist mit diesem Wort gesagt, d.h.: nichts ist gesagt worden.

(und leer / gehen wir hin.)

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Mit Petra in einem Café gewesen, gegenüber der Grimm-Bibliothek. Den Namen vergessen; nein, den Namen nie gekannt. Die Tür war offen. Ein Spatz saß auf dem Tisch daneben. Er trank aus der Lache, die auf ihm lag. Ich konnte seine Reflektion darin sehen.

Daran gedacht: Wie entfernt Natur ist. Wie entfernt sie für mich ist. Ich habe ihn angeschaut und: ihn nicht gesehen. Ich habe einen anderen Vogel gesehen, an seiner, an dieser Stelle, einen anderen statt – statt – ihn, den, den Dürer in Vogel in drei Positionen 1520 gemalt hatte; es ist kein Spatz, der auf dem Gemälde zu sehen ist. Natur kennt keine Wahrheit. Ich glaube daran.

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In sechs Stunden wird Malte das Gemälde vorbeibringen. Es gibt noch keinen Platz, hier, an dem es hängen könnte; an dem es hängen sollte. Wenn alles seinen Ort hat, hat nichts einen Ort.

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Everything is here, it can be said that nothing is here, too.

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Der Text (der andere): er kommt voran. Langsam, allmählich, in seiner Geschwindigkeit; und dieses Vorankommen, ich meine damit nicht das, was naheliegt (das Naheliegende ist immer falsch; dieses philosophische Vorurteil gegenüber den Erscheinungen scheine ich mir bewahrt zu haben), nicht die Zählbarkeit einer größer werdenden Menge an Zeichen, Buchstaben, Wörtern, Sätzen, sondern das langsame, allmähliche nachvollziehen einer Dramaturgie und Choreographie, also: einer Bewegung, die nicht identisch ist mit dem Sinn, der ihm vorausgegangen ist, aber die von ihm, aber nicht nur von ihm, ausging, von ihm aus geht – ihre Bedeutung erhält, in seiner Geschwindigkeit; indem sie ihn bricht, wie ein Vers, wie ein Abfall der Stimme, wie eine Kadenz. Es liegt auf der Hand. Die Hand ist leer.

Das ist keine Frage der Genealogie, der Deduktion. Temye vor ein paar Wochen ein Foto geschickt, auf dem, ich glaube, ein Plakat zu sehen war, auf dem vier oder fünf Dinge genannt wurden, Dinge, die man vermeiden sollte. Punkt vier: Become your own father. Dieser Satz kann beides bedeuten: dass man so wird, wie der eigene Vater und – dass man sein eigener Vater wird. Nachahmen oder Ersetzen? Das Erste ist zu vermeiden. Das Erste ist nicht das Letzte. Der Anfang: nicht das Ende.

Am Anfang: statt Ersetzen Entsetzen geschrieben.

Auf ihrem Schoß gelegen, auf dem Sofa. Sie sagte, ich hätte meine Wimpern verbrannt. Ich sollte auf den Abstand achten: zwischen Flamme und linkem Auge.

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(Everything is here, it can be said that nothing is here, too.)

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9 Uhr morgens nach Hause gekommen. Vier Stunden geschlafen. Tickets nach Hanoi und von Hanoi nach Taipeh gebucht. Jetzt: putzen.

Das Bild hängt im Flur. Ein Mann, schemenhaft, und deutlich, als ein Mann zu erkennen, als ein Mensch, sitzt an einem Tisch; die Platte ist rot; sie durchtrennt seinen Oberkörper. Er sitzt an diesem Tisch. Das ist der Fall. Aber es gibt nichts, worauf er sitzen könnte. Sein Gesicht: verschwommen. Verwischt. Verschmiert. Als hätte man es – alles, was es als ein bestimmtes Gesicht kennzeichnet, es zu einem bestimmten Gesicht macht, also: zu einem Gesicht ohne Bestimmung – mit leeren Händen genommen; nach unten gezogen. Aber es ist ein Gesicht. Das ist der Fall. Es steht außer Frage. Der Unterkörper erinnert mich an ein Brandopfer, an beides: an den Körper, der einem Brand zum Opfer gefallen ist sowie an die polizeiliche Markierung, die auf dem Boden aufgemalt wurde, in der Form der letzten Haltung, eine Silhouette. Dieses Bild zeigt ein Gespenst. Eine Ästhetik des Verschwindens: Er wußte, nur der Gewißheit, fortgehen zu können, verdankte er die Möglichkeit zu bleiben. (…) Er würde zwar fortgehn, aber dennoch bleiben. (…) Er war da, weil er in einem bestimmten Au-genblick fortgegangen war.

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(We all have reasons / for moving. / I move / to keep things whole.)

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Es gibt Dinge, die wir nur im Dunkeln sagen. Es gibt Dinge, die wir nicht einmal im Dunkeln sagen. Und es gibt Dinge, die wir nur in einer Klammer sagen – sagen können. Wann habe ich damit angefangen, in Klammern zu schreiben? Ich weiß es nicht. Es muss dieses Jahr gewesen sein. Ich habe es vergessen. Ich fange an, zu vergessen. Zurück: Es gibt Sätze, die ich nur in einer Klammer sagen kann, in dieser diskreten Stille; von zwei Händen festgehalten, einer linken und einer rechten Hand, wie ein Gesicht (bei etwas, das wir einen Kuss nennen könnten). Die Klammer hält etwas zusammen. Das liegt in der Natur der Sache. D.h. diese Sätze oder Satzteile haben eine bestimmte Zerbrechlichkeit; eine sinnvollere Schwäche; sie würden auseinanderfallen, wenn es nicht etwas – etwas, das zu einem bestimmten Druck fähig wäre – gäbe, das sie zusammenhält, zusammen halten könnte. Ich weiß nicht, ob man es bereits Schutz nennen darf. Zwei Hände; sie halten ihm, dem Satz, dem Gesicht die Ohren zu. Die Stimme, die aus ihm spricht, aber auch die, die ihn anspricht, diese Stimmen klingen leiser; dumpfer für ihn. Aber sie sind zu hören. Sie werden durch Fleisch für ihn zu hören gewesen sein.

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Aufgewacht. Mit Fabian telefoniert. Er hat letzte Nacht Daphne getroffen. Sie waren im Kino. Call me by your name. Eineinhalb Monate auf dieses Date gewartet. Ich habe den Film im Flugzeug gesehen, United Airlines, von Berlin nach New York, Anfang April, 15 Stunden später, nachdem ich aus Paris gekommen war. Die Zeit im Film ist begrenzt: ein Sommer. Heute: Sommeranfang.

Because there is no one else I can say this to but you.

Es regnet.

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Höre I choose you von Kiana Ledé: I should have known / that you’d stay in my system even when you’re gone.

Ich würde sagen: You’d stay in my system because you’re gone.

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Bei Yorck gewesen. Über die Dinge gesprochen, über die man in der Analyse spricht. Währenddessen: über das Wort Einsatz nachgedacht. Der Wert, um den gespielt wird. Eine militärische oder polizeiliche Intervention. Der vorgesehene Augenblick einer Stimme. Es ist richtig: wir geben das, was wir nicht haben. Das würde der Begriff des Gebens – seine ganze sinnliche Fülle – bedeuten. Aber wie verhält es sich mit dem Nehmen? Dem Verlieren? Dem: Vergeben? Der Einsatz ist zu hoch (gestern: meine Geduld). Zu brutal (gestern: meine Geduld). An der falschen Stelle (gestern: meine Geduld). Wir kommen immer zu früh und zu spät. Beides ist wahr, zur gleichen Zeit. Es gibt keinen Kairos: keine günstige Gelegenheit, keinen rechten Augenblick. Einsatz: Ein Satz. Vielleicht ist alles, was wir sagen, nur die Variation eines Satzes; vielleicht wird alles, was wir sagen, nur ein Ver-such, vielleicht auch nur die Versuchung gewesen sein, einen vollständigen Satz zu sagen. Wir kommen über ihn nicht hinaus. Wir kommen von ihm nicht los. Wir kommen nicht zu ihm.

D.h.: wir kommen nicht zur Sprache.

Wir kommen nicht zum Punkt.

(und leer / gehen wir hin.)

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Warum erzähle ich so oft vom zweiten Roman? Wahrscheinlich ist das Sprechen darüber, das Erzählen von ihm der Ersatz dafür, dass er noch nicht geschrieben worden ist; das öffentliche Sprechen als Ersatz für die Unveröffentlichbarkeit dessen, was es gibt: nichts. Es gibt nichts. Alles (zehn Sätze): gelöscht. Ich denke an diesen Satz, wieder, von Blanchot, aus Warten VergessenEr fragt sich, ob sie nicht weiterlebt, nur um die Lust, ihr Leben zu beenden, währen zu lassen. Diese Paradoxie; dieser Nebensatz konstituiert sie: ob sie nicht weiterlebt. Als ob sie bereits gestorben wäre. Also ist sie bereits gestorben. Wenn man schreibt, schreibt man vom Standpunkt einer unmöglichen Erlösung, also: vom Ende der Dinge, vom eigenen Ende her. Davon geht man aus. Davon gehe ich aus. Es läuft auf den Tod des Autors und des Texts hinaus. Es gibt keine Alternative: Wenn wir eine Geschichte schreiben, schreibt diese Geschichte auch uns. Do this book and die.

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Auf Youtube lief ein Video, Subway performer stuns crowd with Fleetwood Mac’s „Landslide“ – Chicago, IL. Es lief im Hintergrund, zufällig. Sie kam ins Zimmer und stellte sich hinter mich. Ihre Hände ge-nommen und sie über meine Augen gelegt; bis ich nichts mehr sehen konnte. I took my love, I took it down / I climbed a mountain and I turned around / And if you see my reflection in the snow covered hills / Well, the landslide will bring it down.

(In ihre Hände geweint.)

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Ich werde mich erinnern.

Ich werde vergessen.

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In fünf Tagen werde ich 34.

Ich muss meinen Koffer packen.

Ich darf nichts vergessen.

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München; Altstadt, The Lovelace. Bis zu meiner Abreise werde ich also hier sein. All places are temporary places. Es steht hier, an einigen Stellen. Es gilt auch für diesen Ort. Dieses Hotel hat eine Dauer von 2 Jahren. Anfang und Ende stehen fest. Im Januar 2019 wird es diesen Ort nicht mehr geben. All places are temporary places. Der Name verweist auf beide, auf Linda Lovelace, die Pornodarstellerin sowie auf Ada Lovelace, die Mathematikerin. Das Gebäude, Ende des 19. Jahrhunderts als Königliche Fillialbank erbaut, erinnert mich, so, wie es von diesem Hotel genutzt wird, so, wie es zu diesem Hotel geworden ist, an eine verlassene Mall, nachts, vor allem nachts, wenn es leer, wenn alles leerer geworden ist; Dennis sagt, die Flure, die zu den Hotelzimmern führen, könnten auch die Kulisse einer Star Trek Folge sein. Sie könnten es sein. Dieses Grau, die Höhe der Türen, das Licht; diese Glätte. Er sagte etwas, was er, vermutlich, vielleicht, nicht, zumindest: nicht unbedingt, sagen wollte. Dieser Ort scheint, wie ein Raumschiff, die Voyager oder die Enterprise, losgelöst zu sein, von dieser Stadt, von ihrer Umgebung. Auch das ist wahr: In diesem Hotel könnten sich, zufällig, die letzten Menschen versammelt haben; eine handvoll, nach dem Ende aller Dinge. Es würde noch nicht das Ende des Endes gewesen sein. Als ich im Januar an der LMU meine erste Poetikdozentur hatte, lief ich mit Hieu daran vorbei. Wir waren, abends, es war bereits dunkel, auf dem Weg zum Literaturhaus, gleich daneben. Ich wusste nichts von diesem Ort. Ich hatte von ihm nichts gehört. An einer der drei Eingangstüren, der linken, die, wie die rechte auch, fast immer geschlossen ist, stand No one belongs here more than you. Ich habe es fotografiert, für eine Instastory, so, dass die letzten vier Wörter fehlen: No one belongs here. Ich wusste nicht, dass ein Satz, dieser eine Satz – man könnte auch von einem Schnitt sprechen – einer Erfahrung entsprechen würde, die noch kommen wird, mit einer Verzögerung, sechs Monate später. Nachts, unter der Woche, wenn kaum jemand hier ist: hier könnte alles enden. Ich stelle es mir vor, wenn ich auf der Rooftop Bar sitze, Münchens Altstadt und diese Dächer, die Kirchtürme, die beleuchtet werden, von irgendwo her: Wenn aber diese Dinge anfangen zu geschehen, so blickt auf und hebt eure Häupter empor, weil Eure Erlösung naht. Lukács kritisiert die Frankfurter Schule mit einem Ausdruck: Adorno und Horkheimer würden in einem Grand Hotel Abgrund sitzen und dem Ende der Welt zuschauen, von dort, von diesem Ort aus. Und wir: Zuschauer, immer, überall (…). / Wir ordnens / Es zerfällt / Wir ordnens wieder und zerfallen selbst.

Ich stand also auf der Galerie der Rooftop Bar, und ich habe die Stadt gesehen, die leer ist, nachts, und ich dachte, The Lovelace ist mein Grand Hotel Abgrund. Und ich wusste, ich würde zuschauen.

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Wenn ich gefragt werde, wo ich herkomme, sage ich: aus der Sprachlosgkeit.

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Gestern Nacht einen Artikel einer Freundin gefunden, über Sprachlosigkeit. Wir sprechen nicht mehr miteinander. Spuren, in ihrem Text: sie zitiert mich, an drei Stellen, ohne mich zu nennen. Es spielt keine Rolle. Das – das – ist nicht, was ich sagen will. Was ich sagen will: Ich glaube, ein wirkliches Zitat ist die Wiederholung mindestens eines Satzes, den jemand – jemand? – einmal g-sagt hatte, gesagt haben soll, gesagt haben könnte, der bereits verschwunden ist: verschwiegen, verleugnet; bereits vergessen; auf die eine oder andere Weise. Und diese Sprache, nur sie, ist übergegangen, in die Sprache des Zitierenden, aber die Person, das Wissen, das sie zu uns gesprochen, uns angesprochen hat, nicht; weil sie es nicht konnte, nicht kann. Der Körper ist eine Grenze. Ein Zitat ist die Anwesenheit einer Sprache, der Sprache eines Abwesenden, eine abwesendere Sprache; man könnte sagen: die Sprache der Abwesenheit. Dann, nur dann, wenn dieser Mensch, der so zu uns gesprochen hat – einmal, auf einmal, mit einem Mal, zum letzten Mal –, dass seine Sprache zu unserer geworden sein könnte, wirklich verschwunden ist; verschwiegen, verleugnet, vergessen, verdrängt, verneint wurde, dann, nur dann könnten wir von einem Zitat im vollen Umfang sprechen: wenn er aus uns spricht, ohne, dass wir es wissen.

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Als Kind habe ich versucht, die Bibel auswendig zu lernen.

Ich wollte sie zitieren können; von Anfang bis Ende.

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Die Tage / zählen mich.  // Meine Sprache / denunziert mich.

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Jede Spur ist eine Spur.

Sie ist in Bewegung.

D.h.: Sie ist am Verschwinden.

D.h.: Sie lässt uns zurück.

Und so bleibt sie.

Und so bleiben auch wir (zurück).

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(We all have reasons / for moving. / I move / to keep things whole.)

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Ich sollte auf den Abstand achten.

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Im Anfang schuf Gott den Himmel und die Erde.

Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und Gott war das Wort.

Es ist ein Unterschied: ob am Anfang oder im Anfang gesagt wird. Die Elberfelder Bibel bleibt konsequent: sie entscheidet sich immer dafür, im Anfang zu sein, 1. Moses 1:1, Johannes 1:1; Luther hat, im Buch Mose, am Anfang, am Anfang übersetzt. Mit Basti darüber gesprochen, während ich, wieder, bei dem Bäcker saß, wo ich immer sitze, wenn ich in München bin, an der LMU. Im – es gibt zwei Möglichkeiten, diese Präpostition zu verstehen: zeitlich – als Augenblick in einer Zeitspanne; räumlich – als Position in einem Raum. Das im zeitlich zu interpretieren liegt nahe; es räumlich zu verstehen irritiert: Es gab bereits einen Anfang, einen Anfang vor dem Anfang, ein Anfangen bevor etwas angefangen hat; aber der Anfang vor dem Anfang – dieser Anfang: wie nennen wir ihn? Gibt es einen Namen, einen anderen Ausdruck? Einen: Begriff? Er liegt vor der Sprache, vor dem Sprechen. Erst nach dem Anfang nach dem Anfang, erst nach dem Anfangen nach dem Anfangen gibt es: Himmel und Erde; das Wort; etwas, das da ist; etwas, das sagt. Das wirkliche Anfangen ist nicht sagbar; unaussprechbar. Basti sagt, ich glaube, in Anlehnung an Mead, das sei die erste Unterscheidung gewesen, am Anfang: Himmel und Erde. Diese Linie. Wir nennen sie Horizont. Aber, wenn wir die Präposition im räumlich und nicht, wie gewöhnlich, d.h. naheliegenderweise: zeitlich verstehen, läge die erste Unterscheidung vor diesem Unterschied, zwischen Sprache und Nichts, dem Nichts, aus dem sie, die Sprache und der Text kommen, gekommen sind; gekommen sein werden. Dieses Nichts ist Gott. Und das Anfangen eine Geste, eine Handlung, eine Bewegung der Hand.

Diese Hand ist leer.

(Etc.)

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Wenn ich gefragt werde, wo ich herkomme, sage ich: aus vielen Orten.

Von überall her.

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Ich bin einem Gerücht, einer Erzählung, der Erzählung meiner Eltern nach in Jaffna geboren worden. Das sei der Fall. Das haben sie gesagt. In meinem Personalausweis und Reisepass wird ein anderer Ort genannt: Jaffa. Es mag ein Rechtschreibfehler sein, nur das: das Vergessen eines Buchstabens; eine Unachtsamkeit, die Fahrlässigkeit einer Verwaltung. Das N, das, was das N einmal war, in einer anderen Form, war im protosemitischen Alphabet das Symbol einer Schlange. In meinem ersten Roman habe ich davon erzählt: von der Schlange, mit der mein Name beginnt, von dieser anderen Schlange. Der Buchstabe S steht sowohl wegen seiner Form als auch wegen des Zischlautes als Symbol für die Schlange. Ihre Bedeutung liegt auf der Hand. Meine Angst vor Schlangen – das einzige Tier, vor dem ich Angst habe – liegt nahe. Jaffa. Dieser Ort in Israel; heute gehört Jaffa zu Tel Aviv; Tel Aviv war, ursprünglich, ein Vorort Jaffas. Wir können von einer Umkehrung sprechen, einer anderen Genealogie: Tel Aviv wurde 1909 gegründet, Jaffa, archäologische Ausgrabungen deuten darauf hin, existiert, als besiedelter Raum, unter einem anderen Namen, seit 3500 v. Chr. Ein anderer Anfang: die Stadt, die ältere, wird 1950 zu der, die später kam und die nur ein Vorort von ihr war. Ist das bereits ein Vatermord? Ich bin mir nicht sicher. Ich bin noch nie in Israel gewesen. Ich werde nie in Israel gewesen sein. Ich weiß es. Ich glaube daran. Die Schlange steht, in der Symbolik und Erzählung der Bibel, bekanntermaßen, für den Teufel. Ich glaube daran: ich, als Sünder, habe kein Recht, das Heilige Land, dieses Heilige Land zu betreten. Aber Jaffa ist mein Geburtsort. Und so bin ich dort gewesen, ohne dort gewesen zu sein; in diesem anderen Anfang.

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Ich muss anders anfangen.

Ich werde immer anders angefangen haben.

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Ich muss aufhören.

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Zurück im Hotel. Mit Katharina im Lenbachhaus gewesen. Eine Installation von Dillemuth gesehen: Sublimierung & Auslöschung. Gipskörper, Zuckerkristalle, präparierter Kolibri, Metall, Acrylfarbe, Tablet, Video, 172 x 89 x 50 cm.

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Es ist nach Mitternacht. Ich denke an diesen einen Satz, den Fabian mir geschickt hatte, gestern; Ovids Metarmorphosen: doch das Holz weicht vor den Küssen zurück. Daphne. Hilf, Vater – so fängt der Abschnitt an.

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Wir sprechen immer mit leeren Händen.

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Es ist gibt diese Scham: die Scham über das Schreiben zu sprechen. Über das Schreiben als Lebensform. Als Haltung. Als Geisteshaltung. Man setzt sich aus. Man macht sich lächerlich. Wir haben eine Sprache etabliert, ein Repertoire an Sätzen, die wir im Alltag verwenden; in dieser Sprache sprechen wir. Es ist die Sprache der Kommunikation, der Vermittlung, die nur einem Zweck dient: der Verdrängung. Sie verdrängt, in jede Richtung; auch die Richtung wird von ihr verdrängt: sie verdrängt die Person, die wir ansprechen, mit der wir sprechen, sie verdrängt uns als Sprechende, sie verdrängt das, was wir sagen; sie verdrängt das Sprechen, sie verdrängt Sprache. Schreiben ändert nichts daran. Wissen, dass man nicht für den Anderen schreibt, wissen, dass die Dinge, die ich schreibe, mir nie die Liebe dessen eintragen werden, den ich liebe, wissen, dass das Schreiben nichts kompensiert, nichts sublimiert, dass es eben da, wo du nicht bist, ist – das ist der Anfang des Schreibens. Das ist eine Einsamkeit des Schrei-bens. Durch das Schreiben. Im Schreiben gibt es nichts. Das ist meine Erfahrung. Nichts: niemanden, der den Text lesen wird, niemanden, der ihn schreibt, nichts: d.h., auch keine Sprache, um zu schreiben. Wir schreiben mit leereren Händen. Gestern einem Freund bei Burgermeister vom zweiten Roman erzählt. Diesen einen Satz gesagt: Do this book or die. Seine Reaktion: Stille. Kopfschüt-teln. Dann: Du übertreibst. Mach dich nicht lächerlich. Über das Schreiben, über die eigene Arbeit zu sprechen, so zu sprechen, ist, unter diesen, nein, unter allen Umständen nur in einer Sprache der Scham, in einer beschämenden, beschämten, verschämten Sprache möglich. Wie kann man darüber sprechen? Man kann es nicht. Man setzt sich aus. Man macht sich lächerlich.

(Etc.)

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Die Tage / zählen mich.  // Meine Sprache / denunziert mich.

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The Lovelace, Zimmer 201. Ich bereite die letzte Veranstaltung meiner zweiten Poetikdozentur an der LMU vor. Wir, Thomas und ich, sollen, wollen über Hegel sprechen, unter dem Titel Erkenntnis und Erzählen; dieses Gespräch soll einen anderen Zugang zu Hegel, d.h. einen anderen Hegel zu sehen erlauben, einen anderen als den der institutionalisierten Philosophie. Ich werde also anfangen: mit drei möglichen Anfängen.

  1. Mit der Trauer: mit der, die ich früher empfunden habe, als ich im ersten Semester anfing, Hegel zu lesen, und von der ich nicht sagen konnte, von der ich nicht sagen kann, woher sie kommt, aus welcher Richtung – von mir oder vom Text (es liegt auf der Hand: selbst wenn sie nur von mir gekommen sein sollte, dann wäre dieses Kommen, diese Ankunft nur möglich gewesen, weil sie auch aus dem Text gekommen ist, weil der Text sie – d.h.: auch mich – gerufen, hervor-, herausgerufen hat; und umgekehrt).
  1. Mit den Augen: mit dem Anfang von Barthes‘ Die helle Kammer, in dem er von einem Foto – er spricht von einer Photographie – erzählt, die den jüngsten Bruder Napoleons, Jérôme zeigt, 1852, und von seinem Erstaunen: Ich sehe die Augen, die den Kaiser gesehen haben. Wenn er von diesem Erstaunen gesprochen hatte, schien es niemand verstehen zu können; er ist damit allein geblieben, wie er selbst, in einer Klammer, sagt: (so besteht das Leben aus kleinen Einsamkeiten). Ich möchte diese Szene zum Anlass nehmen, um von einer Parallele zu sprechen: von diesem Foto – es ist, streng genommen, eine Daguerrotypie –, das Schelling zeigt, 1848; weiße Haare, von der rechten Schläfe aus gescheitelt, diese Augen. Und ich dachte, mit einem Erstaunen: Ich sehe die Augen, die Hegel gesehen haben (und so besteht auch mein Leben aus kleinen Einsamkeiten).
  1. Mit der Angst: mit der, die ich empfand, ohne von ihr zu wissen, ohne sie zu kennen, also: die, ich kann es nicht anders sagen: mich empfand, mich wusste, mich kannte, und die der Grund war, dass ich, als ich noch im Wedding gelebt und in der Invalidenstraße Tutorien gegeben hatte, kein einziges Mal Hegels Grab aufgesucht habe, obwohl ich in unmittelbarer Nähe zum Dorotheenstädtischen Friedhof wohnte, arbeitete. Es war für mich unvorstellbar: dass Hegel nicht nur in dieser Stadt gelebt hatte, sondern, überhaupt – dass er zu einer Zeit gelebt hatte, dass er gelebt hatte, dass er in einer Zeit, als Körper, einen begrenzten Raum einnahm. Es ist es bis heute. Die Trauer ist geblieben. Das Erstaunen. Die Angst. Diese Einsamkeit.

(Etc.)

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Laisse-moi devenir l’ombre de ton ombre / L’ombre de ta main /L’ombre de ton chien / Ne me quitte pas.

Lass mich der Schaten deines Schattens sein / der Schatten deiner Hand / der Schatten deines Hundes.

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Heute: 34 geworden.

Eine Nachricht erhalten, aus dem Nichts heraus, um 00:00:

Tu es ma bataille sans fin.

Du bist meine endlose Schlacht.

Du bist meine Schlacht ohne Ende.

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Das Interview gelesen, das Philipp mir geschickt hatte, Who’s Hungry? Vice spricht mit Issei Sagawa. Dort, dieser Satz: Georges Bataille believed that the kiss is the beginning of cannibalism, and I agree.

(And I agree.)

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Der Körper ist vage. Wir können nicht sagen, wo er anfängt, wo er endet; wo er aufhört, wo er be-ginnt. Wir können es nicht sagen, mit keiner Bestimmtheit, mit keiner Stimme, aber: Wir sagen es. Die Haut ist ein Laken. Wir hängen sie zum trocknen auf eine Leine, morgens. Ein Lappen. Paris überlappt sich, mit New York, mit Berlin, mit den Texten, die ich lese. Jede Linie lässt sich biegen, brechen. Jeder Körper wird durch eine Stimme gebrochen, die ich nicht habe. Aber du – du hörst sie.

Ich glaube daran: Du kannst sie hören.

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(Because there is no one else I can say this to but you.)

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Mit Klaus im Café des Literaturhauses gewesen. Wir sprachen über den Bruch, das Brechen. Wenn ich dem, was meine Poetik sein könnte, einen Namen geben würde – wenn es mir zustehen sollte –, würde ich von einer Poetik des Bruchs, oder, präziser, von einer Poetik des Brechens sprechen. Blanchot beschreibt Prosa in Das Unzerstörbare: Ein unendliches Gespräch über Sprache, Literatur und Existenz als kontinuierliche Linie, Lyrik als unterbrochene. Es liegt auf der Hand: der Vers bricht; den Satz. Er ist das Brechende, das Brechen, der Bruch und das Gebrochene. Das ist der Fall. Der Versbruch ist, anders als der Zeilenumbruch in der Prosa, nicht eine technische Notwendigkeit – die Seite ist begrenzt; sie kennt ein Format, ein Ende –, sondern eine Frage dramaturgischen Kalküls, die den Sinn betrifft, ihn betrifft, bis er ein anderer geworden ist. In meinem Essay zu Ocean Vuongs Night Sky With Exit Wounds habe ich darüber geschrieben: Vuongs Verse simulieren ihr Ende, semantisch, syntaktisch, dramaturgisch. Aber ihr definitives Ende kündigt sich nicht an. Es bleibt anders als erwartet. Von ihm kann nur im Perfekt gesprochen werden: Es ist ein anderes geworden. Es wäre möglich, einen Punkt an das Ende vieler zu setzen (…); der Punkt wird antizipiert, und auch sein Ausbleiben bereitet nicht vor, auf das, was kommt. Der Vers, der folgt, bricht den, aus dem er entwickelt wurde, weil er ihm vorausging; aber der Sinn ist ein anderer geworden; er verändert sich in der Sekunde des Bruchs. Dieses Brechen wiederholt sich wie ein Naturgesetz. Das präzise Setzen glatter Enjambements, die, ihrer Natur nach, Sätze kalkuliert brechen, ohne Syntagmen und Morpheme zu verletzen, destabilisiert die Strophe bis zu ihrem Sturz. (…) Diese Poetik des Brechens – des Abbrechens, Zusammenbrechens und Knochenbrechens – widerspricht nicht der Zartheit seiner Sprache: Sie ist zerbrechlich genug, um nicht zu brechen. Ich hätte schreiben müssen: um nicht brechen zu müssen. Der Vers ist dieses Brechende, dieses Brechen, dieser Bruch. Er ist das Gebrochene: Zerbrochene; diese Zerbrechlichkeit. Er ist es. Und in diesem Bruch, in diesem Brechen zeigt sich Sprache, zeigen sich Wörter anders: verletzlicher, einsamer – wie in einer Klammer; leise, zögerlicher, schwach. Ich sage, immer: ich schreibe Prosa, so, wie ich Lyrik schreiben würde, wenn ich Lyrik schreiben könnte. Ich glaube daran. Das Wort Aufbrechen hat im Deutschen zwei Bedeutungen: 1. Eine Sache, die verschlossen war, (gewaltsam) öffnen. 2. Einen Ort verlassen, d.h. sich auf den Weg machen. Diese beiden Bedeutungen sind, auch, maßgeblich, um nicht zu sagen: wesentlich, konstitutiv für die Poetik meines ersten und einzigen Romans. Aufbrechen: Dinge, Wörter, Formen. Es liegt auf der Hand. Ich muss es – hier, zumindest hier – nicht weiter ausführen. Nur so viel, wieder; dazu: jede Nachricht, die sich Senthil Vasuthevan und Valmira Surroi schicken, ist ein Vers, muss als ein Vers verstanden werden, als diese Zerbrechlichkeit, als dieses Aufbrechen. Der Text ist mehrfach gebrochen; wie ein Körper. Der Körper ist mehrfach gebrochen; wie ein Text. Der Textkörper bricht: wie ein Vers. Die Dinge aufbrechen, die Wörter aufbrechen, Formen aufbrechen; die Dinge aufbrechen lassen, die Wörter aufbrechen lassen, Formen. Sie, auch sie sind einsam und unterwegs, wie das Gedicht, das Celan so, in diesem Aufbruch, in diesem Aufbrechen und Aufgebrochensein beschreibt. Aber nicht nur das Gedicht ist einsam und unterwegs; auch die Sprache ist es. Sie kommt von überall her; sie wird aus vielen Orten gekommen sein. Lyrik könnte uns daran erinnern. Sie ist eine Erinnerung an Sprache; eine Erinnerung der Sprache. Das glaube ich.

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Es gibt einen Traum, den jemand, der etwas geschrieben hatte, von dem, was geschrieben worden ist, hat. In meinem Traum ist mein erster Roman ein 250-seitiges Langgedicht. Ich wollte das Gebet retten. Für mich. Retten; nicht: säkularisieren.

(Aber nicht wir träumen einen Traum; ein Traum träumt uns.)

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Literatur ist, so wie Philosophie auch, nicht nur ein Aufbruch, ein Aufbrechen, sondern auch ein Einbruch: der Einbruch der Sprache in die Sprache. Sie ist dieses Einbrechen. Das glaube ich. Und in diesem Einbruch begegnet sie uns anders, wie in einem Gedicht: sie spricht anders zu uns, sie zeigt sich anders, so, wie wir sie noch nicht gehört, gelesen, gesprochen haben, wie zum ersten und letzten Mal. Die Sprachen der Literatur und der Philosophie sind, notwendigerweise, anders, fremd, eine andere Sprache, andere Sprachen, manchmal nur um wenige Millimeter von der Sprache unseres Alltags verschoben, dann, wieder: deutlich und radikal. Sie wenden die Sprache. Sie selbst sind eine, diese Wende, das Wenden, d.h.: die Rückseite der Selbstverständlichkeit. Das ist der Vers. Er ist, etymologisch, eine Wendung: versus, vertere umwenden. Das ist, vielleicht, der wesentliche Unter-schied, wenn man es so nennen will, zwischen dieser Sprache und der Sprache unseres Alltags, der Sprache der Kommunikation: diese Sprache – der Informationsvermittlung, die sich reduziert, auf einen Sinn, den Sinn der Absicht – setzt sich aus Redewendungen zusammen, die andere, die Sprache der Philosophie und Literatur, diese andere Sprache aber ist ihr genaues Gegenteil: sie wendet die Rede; sie ist die Wendung der Rede. D.h.: das Abwenden von ihr. D.h.: das Hinwenden zu ihr. D.h.: Hingabe als einzig mögliche Vernichtung. Hegel sagt, die Philosophie sei eine verkehrte Welt. Die Rückseite der Verständlichkeit. Die Rückseite, die Rückenseite, der Rücken der Seite: das Verdrängte, Vergessene, Verleugnete, Verschwiegene, Verneinte der Sprache. Der Schatten der Sprache. Der Schatten deines Schattens. Der Schatten deiner Hand. Der Schatten deines Hundes. Be-cause there is no one else I can say this to but you.

(Do ths book and die.)

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Klaus erzählte mir von einer Szene: seine Schwester hatte ein Jagdhaus geerbt. Er war dort, mit einer Gruppe von Jägern. Als es Zeit war, sagte er: Wir sollten aufbrechen. Und einer der Jäger, der, der ihm gegenüber saß, habe ihn angeschaut, anders, anders als davor. Weißt du, was das heißt, ‚aufbrechen‘? In der Jägersprache, hat dieses Wort nur einen Sinn, nur eine Bedeutung: Gescheide und Geräusch aus dem Schalenwild herausnehmen. Gescheide: Eingeweide allen Wilds. Geräusch: Herz, Lunge, Leber, Nieren. Das ist der Zusammenhang, zwischen dem Herz und der Poetik des ersten Romans und der des zweiten: Dinge aufbrechen, Wörter aufbrechen, Formen aufbrechen – so, wie man nur einen Körper brechen kann. Und einen Körper bricht man erst mit der Stimme.

Ich denke an diesen Satz von Armin Meiwes, dem sogenannten Kannibalen von Rotenburg: In meiner Vorstellung liegt der zerteilenden Körper auf einem Tisch. Dann wird die Bauchdecke geöffnet und die einzelnen Organe wie Herz, Leber, Lunge oder Magen werden entfernt.

Das wäre ein Anfang. Ein Anfang nach dem Anfang. Ein Anfangen nach dem etwas angefangen hat.

Ne me quitte pas.

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Wenn wir eine Geschichte schreiben, schreibt diese Geschichte auch uns.

Ich sollte auf den Abstand achten.

Ich muss anders anfangen.