Rüdiger Zill über Blumenbergs Theologiestudium

Rüdiger Zills Blumenberg-Buch, erschienen zum hundertsten Geburtstag des Philosophen, ist in zahlreichen Rezensionen hoch gelobt worden, nicht zuletzt wegen der Menge bisher unbekannter Informationen, die der Autor aus seiner Kenntnis des im Marbacher Literaturarchiv aufbewahrten Nachlasses bezieht. Zill habe Blumenberg „eine Biographie gewidmet, die auf lange Zeit ihresgleichen suchen dürfte. Folgt sie doch dem Leben und den Lebensstationen ihres Protagonisten so weit wie überhaupt nur möglich auf das Akribischste, ohne auch nur einen einzigen Beleg schuldig zu bleiben.“ (taz.am Wochenende vom 11. 7. 2020)Und in der Tat: was Zill beispielsweise zu einer Ägyptenreise, die Blumenberg mit seiner Frau und einem befreundeten Ehepaar in den 50er Jahren des letzten Jahrhunderts unternommen hatte, an Details recherchiert hat, ist beeindruckend: seitenlange Berichte über die Schiffspassagen nach Ägypten und auf dem Nil (die Speisekarte ist zweisprachig, italienisch und französisch), die Autorouten in Ägypten (welche Strecken asphaltiert sind und welche aus sandigen Wüstenpisten bestehen), über das Wetter in Hamburg und in Ägypten, über Nachrichten aus der Heimat und aller Welt etc. etc. Man fragt sich allerdings, was das zu der „intellektuellen Biographie“ beiträgt, die Zills Buch laut Untertitel sein will.

Eine ähnliche Detailbesessenheit und Auskunftsfreudigkeit  hätte man bei einem biographischen Abschnitt gewünscht, der für Blumenbergs intellektuelle Entwicklung und seine geistige Welt unvergleichlich wichtiger war als die siebenwöchige Ägyptenreise. Ich meine das Studium der Theologie, das er nach dem Abitur aufnahm und das er unfreiwillig und unwillig beendete. Die Theologie hat ihn sein Leben lang beschäftigt und sein Werk geprägt, von der im letzten Jahr publizierten Dissertation („Beiträge zum Problem der Ursprünglichkeit in der mittelalterlich-scholastischen Ontologie“) über „Die Legitimität der Neuzeit“ bis zu „Matthäuspassion“. Daher verwundert es, dass Zill dem Theologiestudium gerade mal so viel Platz einräumt wie der Ägyptenreise, die unternommen zu haben Blumenberg noch im Alter bedauerte. Was aber die Ausführungen zum Theologiestudium geradezu ärgerlich macht, ist die mangelnde Schlüssigkeit sowie die historische Ungenauigkeit und Fehlerhaftigkeit der Darstellung.

Allerdings ist das Feld der Blumenbergforschung in diesem Abschnitt gefährlich vermint. Wer hier einen Fehltritt in den Augen der Nachlassverwalterin begeht, muss damit rechnen, bei ihr in Ungnade zu fallen – eine Schreckensvision für jemanden, der für ein Buch über Blumenberg extensiv aus dem Nachlass zitieren möchte; denn dafür ist er auf die Genehmigung der Nachlassverwalterin angewiesen. Deren Gnade oder Ungnade hängt davon ab, wie man sich bei folgender Frage entscheidet: „Wollte er (nämlich Blumenberg – H.N.P.) wirklich Priester werden, oder hat er sich nur deshalb an einer katholischen Hochschule eingeschrieben, weil er zu keinem anderen Studium zugelassen worden wäre?“ (R. Zill, Der absolute Leser. Hans Blumenberg – eine intellektuelle Biographie, Berlin 2020, S. 84). Für die erste Alternative verweist Zill auf den Verfasser dieses Artikels, für die zweite auf Kurt Flasch und sein Buch über Blumenberg. Sie wird vehement von der Nachlassverwalterin vertreten, aber auch von dem Rezensenten des Flasch-Buches in der FAZ (vom 7. 10.2017) und allgemein von der Mehrheit in der Blumenberg-Forschung überhaupt. Es ist im Grunde auch Zills Position, der aber in seinem Buch nicht darum herumkommt, Konzessionen an die Gegenposition zu machen; er laviert zwischen den Fronten, wobei er sich immer wieder verheddert.

Von der extremen Position, dass Blumenberg Theologie nur aus der Not heraus studierte, weil er ansonsten überhaupt nicht hätte studieren können, entfernt sich Zill, indem er ein genuines Interesse  an der Theologie konzediert. Aber worin bestand dieses? Das ist laut Zill völlig unklar. Die Aussicht auf eine Antwort verschwindet in der Behauptung, man wisse kaum etwas über Blumenbergs Religiosität, und in einem Nebel von Fragen, die Zill aufwirft: „Hatte der besessene Leser und durch und durch dem Geist verpflichtete Mensch überhaupt schon ein klares Berufsbild im Kopf? Wollte er auf der Suche nach seinem Platz in der Welt nach dem Wissenschaftsjournalismus und der Dichtkunst mit einer weiteren Rolle experimentieren?“ (S. 84) Mit dem „Wissenschaftsjournalismus“ bezieht sich Zill auf ein Journal, das Blumenberg als Zwölfjähriger im Privatdruck herzustellen begann, mit der Dichtkunst vor allem die schülerhafte Begeisterung für Hans Carossa. Das Theologiestudium also die Fortsetzung dieser pubertären Orientierungssuche? „Von der Schwierigkeit, erwachsen zu werden“ ist bezeichnenderweise das Kapitel überschrieben, in dem Zill das Theologiestudium auf derselben Ebene wie die beiden früheren Versuche ansiedelt. Vielleicht hätte ja ein Briefwechsel mit einem Professor für Religionspsychologie Auskunft  geben können, mutmaßt Zill; aber der sei im Krieg verbrannt. Dabei unterschlägt er die Begründung, die Blumenberg selbst für seine Studienwahl erteilt hat. In dem für die Zulassung zum Abitur verfassten Lebenslauf schrieb dieser: „Aber ich fand in dem ‚Weltbild‘, das mir in der katholischen Theologie und Philosophie entgegentrat, eine solche Einheit und Geschlossenheit, daß seine Überzeugungskraft immer stärker wurde, je tiefer ich eindrang. So glaube ich denn heute, daß ich hier die wahre ‚Mitte des Lebens‘ für mich finden kann. Das ist die Entwicklung, die mich zu dem Entschluß führte, katholische Theologie zu studieren.“ (Zitiert bei: Uwe Wolff, „Den Mann, den alle schlagen, den schlägst du nicht“. Hans Blumenbergs katholische Wurzeln, in: Internationale katholische Zeitschrift „Communio“, 43 Jg., Mai/Juni 2014, S. 188.) Zumindest  diesen wichtigen Beleg bleibt Zill dem Leser schuldig. Dabei muss er ihn gekannt haben; jedenfalls führt er den Aufsatz, in dem Uwe Wolff ihn zitiert, im Literaturverzeichnis seines Buches. Es ist schon ein starkes Stück, diese Selbstauskunft Blumenbergs dem Leser vorzuenthalten, um den Eindruck zu erzeugen, dessen Motivation für das Theologiestudium sei völlig unklar.

Wer damals katholische Theologie studierte, tat das in der Regel mit dem Ziel des Priesteramtes; der Laientheologe tritt erst später in Erscheinung. Nun kommt es Zill darauf an, den Eindruck zu vermeiden, dass Blumenberg ernsthaft Priester werden wollte; letzteres einzugestehen, hätte die rote Karte durch die Nachlassverwalterin nach sich gezogen. So versucht er durchgehend, die Priesterambitionen Blumenbergs durch die Betonung eines bloß intellektuellen Interesses an der Theologie in Frage zu stellen. Möglicherweise habe die Dichtung – und namentlich die Hans Carossas, für die er schwärmte – dieses Interesse nicht hinreichend befriedigt. „Vielleicht ist das der Grund, dass Blumenberg bei aller Begeisterung für die Dichtung mit ihr auch unzufrieden bleibt, dass er nun doch vom Bild zum Begriff vorstoßen will und deshalb beginnt, Theologie zu studieren – natürlich dort, wo sie am strengsten dem Begriff verpflichtet ist, bei den Jesuiten.“ (S. 83) Aber Blumenberg beginnt das Theologiestudium nicht bei den Jesuiten, sondern in Paderborn; zu den Jesuiten kommt er erst später, und das nicht aus eigenem Antrieb, sondern weil sein Bischof ihn dahin beordert.

Mit der Regulierung und dem Ablauf eines katholischen Priesteramtsstudiums hat sich Zill offensichtlich nicht vertraut gemacht. Er verweist auf spätere Lebensläufe, in denen Blumenberg angibt, nach dem Abitur Philosophie studiert zu haben, „was dem offiziellen theologischen Studium, für das er sich eingeschrieben hat, eine eher intellektuelle Note gibt und weniger für eine tiefe emotional grundierte Frömmigkeit spricht.“ (S. 85) Was immer Blumenberg zu solchen Angaben bewogen haben mag – z.B. der Nachweis für ausreichende Semester Philosophie im Hinblick auf die Anforderungen der Promotionsordnung des Faches Philosophie – ein Indiz für mangelnde Frömmigkeit sind sie nicht. Der hohe Anteil Philosophie resultiert aus der theologischen Studienordnung, die nach vier Semestern eine Prüfung in Philosophie, das „Philosophicum“, vorsieht, womit das philosophische Pensum im Theologiestudium erfüllt ist. In Unkenntnis der theologischen Studienordnung geht Zill davon aus, Blumenberg sei bei der Auswahl der Veranstaltungen völlig frei gewesen. Nur unter dieser Voraussetzung kann er interessant finden, „was Blumenberg nicht ausgewählt hat: Darunter sind – abgesehen von den Sprachen, die er ohnehin schon beherrschte – vor allem die psychologisch-seelsorgerischen und die rechtlichen Themen.“ (S. 87) Will heißen: für die seelsorgerische Praxis interessierte Blumenberg sich nicht, ergo wollte er nicht Priester werden. Aber wie die Philosophie am Anfang, so steht die Pastoraltheologie im theologischen Curriculum am Ende, das Blumenberg bekanntlich nicht erreichte. So besagen weder das Übergewicht der Philosophie noch das Fehlen der Pastoraltheologie in Blumenbergs Theologiestudium, was sie nach Zills suggestiver Interpretation besagen sollen.

Warum konnte Blumenberg 1939 überhaupt das Theologiestudium aufnehmen, warum musste er nicht Soldat werden? Auch hier ist Zills Argumentation in ihrer Unschlüssigkeit und sachlichen Fehlerhaftigkeit entlarvend. Er zitiert das Schreiben, mit dem der Osnabrücker Bischof Berning Blumenberg die Zulassung zum Theologiestudium erteilt. Darin heißt es: „Gleichzeitig wollen Sie dem zuständigen Wehrkommando eine Gesuch um Zurückstellung vom aktiven Wehrdienst einreichen.“ Grundlage dieser Aufforderung ist zum einen die allgemeine Wehrpflicht, wie sie seit 1935 galt, und zum anderen das Reichskonkordat von 1933, das in einem geheimen Anhang folgernde Bestimmung enthielt: „Die in kirchlichen Anstalten befindlichen Studenten der Philosophie und Theologie, welche sich auf das Priestertum vorbereiten, sind vom Militärdienst und den darauf vorbereitenden Übungen befreit, ausgenommen im Fall der allgemeinen Mobilisierung.“

Entweder kennt Zill diese Bestimmung des Reichskonkordats nicht, oder er verschweigt sie, um ein weiteres Indiz auf die Priesteramtskandidatur Blumenbergs zu unterdrücken. Er suggeriert dem Leser, Blumenberg habe aufgrund seiner Herkunft die Freistellung vom Wehrdienst erhalten, ohne das allerdings zu belegen. Wegen seiner Herkunft – er war „Halbjude“ im Nazijargon – sei ihm der „Dienst an der Waffe ohnehin verwehrt“ gewesen; dennoch aber habe er sich „pro forma“ freistellen lassen müssen. „Auch das gelingt ihm, am 18. 10. erhält er einen Urlaubsschein“ – hier stockt der aufmerksame Leser und fragt sich: war er denn schon im Dienst, wo ihm der doch verwehrt gewesen sein soll? – „und am 25. 10. meldet der ‚Führer der Arbeitsdienstabteilung 4/71 `Johannes Kinau´, Hamburg-Kirchwänder 1, Neuengamme, ein gewisser Unterfeldmeister Hürsi, die Entlassung des ‚A. Blumenberg, Hans, der Vorzeitigdienender des Jahrgangs  1920 mit Studiumsabsicht ist.’“ Was die Freistellung vom Wehrdienst sein soll, ist in Wahrheit die Entlassung aus dem Reichsarbeitsdienst. Für die Wehrdienstbefreiung war das Wehrkommando zuständig, wie aus dem Schreiben des Bischofs hervorgeht. Sollte es anders gewesen sein, hätte Zill das dem Leser  erläutern müssen.

Dass Blumenberg 1939 zum Reichsarbeitsdienst herangezogen wurde, sagt vielleicht etwas darüber aus, ob er schon zu dieser Zeit – und nicht erst 1940 – als „wehrunwürdig“ galt. Den Dienst hatten alle Deutschen im Alter zwischen 18 und 25 Jahren zu leisten; er war Voraussetzung für die Zulassung zum Studium. Nach dem Gesetz von 1935 galt er als „Ehrendienst am deutschen Volke“. „Das Gesetz sprach stets von ‚allen‘ Jugendlichen, doch es enthielt bezeichnende Ausnahmen: Nach § 7 sollte ausgeschlossen werden, ‚wer nichtarischer Abstammung ist oder mit einer Person nichtarischer Abstammung verheiratet ist‘. Sollte es Einzelfälle mit ‚wehrwürdigen Nichtariern‘ geben, dürften diese jedoch keinesfalls als Vorgesetzte eingesetzt werden …’“ (Wikipedia, Art. „Reichsarbeitsdienst).  Auch vom Wehrdienst waren „Halbjuden“ 1939 noch nicht per se ausgeschlossen; entsprechende Regelungen wurden erst 1940 verschärft, so dass  Blumenbergs Antrag auf Aufnahme in die Wehrmacht, den er nach dem erzwungenen Abbruch seines Theologiestudiums stellte, zurückgewiesen wurde.

Aufschluss über die geistigen Interessen eines Intellektuellen gibt seine Bibliothek. Sie ist so etwas wie der Abdruck einer intellektuellen Physiognomie. Blumenberg verfügte als Student der Theologie über eine imposante Bibliothek von anderthalb tausend Bänden; sie wurde im Krieg durch Bomben vernichtet. Erhalten geblieben ist allerdings eine Liste mit sämtlichen Titeln, die den Großteil der Bücher als theologische ausweist. Es ist verblüffend, wie Zill eine Beschäftigung mit dieser Liste abtut: In den Büchern schlage sich „nur der materielle Besitz nieder, nicht die intellektuelle Aneignung.“ (S. 67) Dem wird jeder, dem seine Bibliothek etwas bedeutet, widersprechen; sie ist mehr als nur materieller Besitz. Nicht nur, welche Bücher jemand sich durch Lektüre angeeignet hat, sagt etwas über ihn aus, sondern auch, welche er für lesenswert hält oder noch lesen möchte. Wohl kaum jemand, der eine größere  Bibliothek besitzt, hat alle Bücher darin gelesen. Ob er sich, um es später einmal zu studieren, das „Kapital“ von Marx ins Regal stellt oder Nietzsches „Zarathustra“ – oder vielleicht beide – verrät etwas über ihn.

Den behaupteten Aussagewert hat freilich nur eine solche Bibliothek, die jemand persönlich aufgebaut und zusammengestellt hat, nicht die, zu der er zufällig, wie die Jungfrau zum Kind, gekommen ist. Und hier scheint nun ein anderes Argument von Zill zu greifen: Die Bibliothek sei gar nicht Blumenbergs höchst eigene gewesen, sondern die der Familie. „Dafür dass die Liste den gemeinsamen Familienbesitz betrifft, spricht nicht zuletzt gerade die große Zahl an kunsthistorischen Bänden, die hier mit verzeichnet ist.“ (S. 598, Anm. 77). Es leuchtet ein, dass in die Bibliotheksliste der Buchbestand des elterlichen Hauses eingegangen ist, die Kunstbände zumal, die zum Geschäft des Vaters gehörten, der einen blühenden Handel mit Drucken religiöser Kunst betrieb, aber auch die Klassikerausgaben, die man in einem wohlhabenden bürgerlichen Haushalt erwarten kann. Daher hat Zill recht, wenn er die Behauptung zurückweist, die Bibliothek sei eine rein theologische gewesen. Aber rechnet man den Anteil des vermutlichen Familienbesitzes heraus, dann wird das theologische Übergewicht noch größer. Um aus dem Bücherverzeichnis Blumenbergs Gewinn für seine intellektuelle Biographie zu ziehen und Aufschluss über die Ernsthaftigkeit seines Theologiestudiums zu erhalten, müsste man versuchen herauszufinden, welche Bücher Blumenberg vermutlich selbst angeschafft hat. Dafür kommt vor allem die seinerzeit neuere theologische Fachliteratur in Frage, aber auch solche, die sich mit dem Priestertum beschäftigt und offensichtlich dem Zweck dient, sich über die Berufung zum Priesteramt klar zu werden. Dazu enthält die Liste eine Reihe von Büchern aus den 30er Jahren des letzten Jahrhunderts  (z. B. Stockums, Der Beruf zum Priestertum, 1934; Sellmair, Der Priester in der Welt, 1939, in der Liste fälschlich: Der Priester und die Welt; Simon, Das Priestertum als Stand und der Laie, 1938; Stonner, Briefe an Priester, 1933), Literatur, die noch in den 50er Jahren in den Priesterseminaren anzutreffen war. Wer in der Familie Blumenberg hatte Interesse an solchen Büchern außer dem angehenden und späteren Theologiestudenten Hans? Und warum interessierte sich der für solche Bücher? Wenn Zill den theologischen Bestand in der Bibliothek des jungen Blumenberg als einen kommentiert, „der vor allem auch unter philosophischer Perspektive interessant ist“ (S. 598, Anm. 77), so ist das nicht falsch. Tendenziös aber wird es, wenn die Bücher, die für das Priesteramtsstudium sprechen, unterschlagen werden, damit einmal mehr der Eindruck entsteht, Blumenbergs Interesse an der Theologie sei ein rein philosophisch-theoretisches gewesen. Tendenziös wie Zills ganze Befassung mit Blumenbergs Theologiestudium.