Wann hat es angefangen zu sein, wie es ist? Birk Meinhardts „Wie ich meine Zeitung verlor“

Wie groß ist die Distanz zur Wahrheit?

Ende der fünfziger Jahre in Ost-Berlin geboren, gehört der Publizist Birk Meinhardt zu einer Generation, die ihre jugendliche Sozialisation und Ausbildung in der DDR erfuhr. Nachdem er zunächst bei der Wochenpost Anstellung fand, wechselte er 1992 in das Sportressort der Süddeutschen Zeitung und war damit „einer der wenigen Ostdeutschen, die es in die überregionalen Leitmedien geschafft hatten“. [1. Vgl. Sabine Rennefanz: „Psychogramm des gekränkten älteren weißen Mannes“. Berliner Zeitung, 8.8.2020] Vier Jahre später begann er, für die Zeitung als Reporter zu arbeiten und gewann mit seinen Reportagen, die prominent auf Seite 3 erschienen, zwischen 1999 und 2001 gleich zwei Mal den renommierten Egon-Erwin-Kisch-Preis. Ab Beginn der Nuller Jahre publizierte Meinhardt parallel zu seiner journalistischen Arbeit auch fiktionale Literatur. Sein dritter Roman, „Brüder und Schwestern“, dessen Handlung im Untertitel auf die Zeit 1973-1989 datiert ist, stand auf der Longlist für den Preis der Leipziger Buchmesse. Später setzte er das Werk unter dem gleichen Titel für die Jahre 1989-2001 fort. 2012 kündigte Meinhardt seine Anstellung bei der Süddeutschen Zeitung auf und ist seitdem als freier Schriftsteller tätig. Die Hintergründe dieser Trennung beschreibt er in seinem 2020 erschienenen und als „Jahrebuch“ bezeichneten persönlichen Bericht „Wie ich meine Zeitung verlor“. [1. Birk Meinhardt, Wie ich meine Zeitung verlor. Berlin, 2020] Meinhardt zeichnet darin chronologisch seine mehr als zwei Jahrzehnte umfassende Karriere vom in der DDR ausgebildeten Journalisten zum gefeierten Seite-Drei-Autor der Süddeutschen Zeitung wie auch seine Desillusionierung mit dem Blatt und dem Gewerbe an sich nach, welche schließlich in seinem freiwilligen Abschied endet.

Drei Punkte ziehen sich durch Meinhardts in stilistischer Hinsicht an Tagebuch-Notate gemahnenden Text. Erstens der zentrale Vorwurf, (den er anhand eigener, von der Redaktion abgelehnter bzw. überarbeiteter Texte zu belegen versucht), dass in den großen Medien von heute die unvoreingenommene, möglichst präzise Erfassung der Welt mittlerweile systematisch gegenüber den Zielen der Meinungsmache zurückgestellt werde: „Das ist ja alles nur noch in eine Richtung gebürstet! Das ist ja ein Dauerzustand geworden: einer Haltung Ausdruck zu verleihen und nicht mehr der Wirklichkeit. Die Wirklichkeit um die Teile zu reduzieren, die nicht zur Haltung passen, und dafür die Teile überzubetonen, die sich mit der Haltung decken; ich bin nicht verblüfft über diese Entwicklung.“ Damit verbunden ist für Birk Meinhardt ein Lagerdenken und die Verweigerung einer differenzierten Herangehensweise an Ereignisse. „Differenzierung“, so Meinhardt im Gespräch mit Knud Cordsen im Bayerischen Rundfunk, werde „als Verharmlosung abqualifiziert.“ [1. Vgl. Knud Cordsen, „Was falsch läuft im Journalismus“, BR Kulturbühne, 20.6.2020.] Ein solcher – in dem beschriebenen Fall der Süddeutschen Zeitung: linksliberaler – „Haltungsjournalismus“ übe zweitens aber nicht nur Verrat an der eigentlichen Aufgabe der Medien, sondern trage unbeabsichtigt sogar zur Radikalisierung der Gesellschaft bei und sei somit für Vorfälle wie die gewalttätigen Übergriffe in Chemnitz mitverantwortlich: „Wieso kommen all die Weglasser und Hervorheber nicht auf die Idee, dass sie, sie selber einen gehörigen Beitrag leisten zur Radikalisierung, die sich vor ihren Augen vollzieht? Wieso begreifen sie nicht, dass sie ohne Unterlass mit erzeugen, was sie so dröhnend verdammen?“ Beim dritten Punkt verknüpft Meinhardt seine Medienkritik mit der eigenen Biografie. Als in der DDR sozialisierter Journalist sei er mit seiner spezifischen Erfahrung auf besondere Weise sensibel gegenüber derartiger Einflussnahme: „Ich spüre wieder solches Eingeenge und Luftabgeschnüre.“

Vor einer Erörterung der Kritikpunkte zunächst einige grundsätzliche Anmerkungen zu dem Buch: Es entsteht ein rezeptionsästhetisches Problem, wenn Meinhardts sehr biographischer Text vom Publikum, wie häufig geschehen, als eine Reportage im engeren Sinn gelesen wird. Mag auch der Untertitel („ein Jahrebuch“) den persönlichen Charakter des Berichts hervorheben, werden die darin enthaltenen Urteile vom Autor doch bewusst und so kategorisch formuliert, als hätten sie einerseits einen allgemeingültigen Anspruch und seien sie andererseits natürliches Ergebnis intensiver journalistischer Recherchearbeit. Das sind sie jedoch nicht. Birk Meinhardt hat keine anderen SZ-Kollegen oder Ehemalige nach ähnlichen Erfahrungen befragt – seine eine und einzige Quelle ist er selbst. Er nennt in seinem Buch auch keinerlei Namen, bezeichnet selbst die Süddeutsche Zeitung konsequent nur als „Zeitung“ oder wahlweise „Blatt“, und zitiert, wenn er es denn tut, immer ohne Anführungszeichen [1. Vgl. beispielsweise Meinhardt, 138: „Ich bin noch nicht fertig. Ich bin im Juni mittlerweile, da ist noch ein Jubiläum, das der Landung der Alliierten in der Normandie, und was schreibt die Zeitung? Der Tag der Invasion markiert den Anfang vom Ende der Nazityrannei, von Terror, Vernichtungskrieg und Holocaust. Das war jetzt wörtlich zitiert. Ich will wörtlich wiedergeben, wie diese Zeitung, und sie steht ja für alle anderen großen Blätter unseres als vielfältig geltenden Landes, die Geschichte verfälscht.“ (Hervorhebungen des Verfassers)] – und erweckt so den Eindruck, dass sich da jemand gegenüber möglichen juristischen Auseinandersetzungen absichern will. Auch hat Meinhardt augenscheinlich nicht gute journalistische Praxis befolgt und im Vorfeld die andere Seite mit seinen Vorwürfen konfrontiert – sonst wäre er kaum in die Situation geraten, auf die Stellungnahme der Süddeutschen Zeitung zum oben zitierten Beitrag im Bayerischen Rundfunk seinerseits mit einer Erwiderung reagieren zu müssen. Und schließlich enthält, obschon Meinhardt ständig über die Medien insgesamt befindet, sein Text keinerlei gründliche Recherche zu anderen Zeitungen – mit Ausnahme der Erwähnung einer fehlerhaften Besprechung seines Romans „Brüder und Schwestern“ in einem „Wochenblatt“, die dem Autor dann unverzüglich Anlass für ein allgemeines Räsonnement gibt: „Der Wochenblattautor mit seiner Nichtdenkweise und seiner Anschlussfreude interessiert mich wirklich, nicht als Person, sondern als Anwender einer Mechanik; wozu mein Buch doch nütze ist, Leitmedien, den Begriff hatte ich nie hinterfragt, und jetzt denke ich mir, der Folgsame ist doch Teil der Leitmedien, und sein Kollege ist es auch, einer leitet den anderen, und zusammen leiten sie die Leser und nehmen sie mit in ihre verdrehte Welt, ist das der Inhalt des Begriffs?“ Dieses letzte Zitat illustriert treffend den Widerspruch zwischen persönlichem  Anlass und pauschaler Schlussfolgerung, zwischen subjektiver Wahrnehmung und allgemeinem Postulat, der den Text insgesamt charakterisiert. Und es ist dem Leser bis zum Schluss nicht klar: spricht da der idealistische Journalist oder der gekränkte Autor?

Vor einer Antwort auf diese Frage ist es hilfreich, zunächst noch einmal die Hauptkritikpunkte zu untersuchen, die Birk Meinhardt in seinem Buch erhebt. Was den angeblichen „Haltungsjournalismus“ betrifft, ging der Journalist Stefan Niggemeier bereits im Juli 2020 auf dem medienkritischen und unabhängigen Portal Übermedien den Vorwürfen Meinhardts nach und setzte sich mit dessen wesentlichen Argumenten auseinander. [1. Stefan Niggemeier: „Haltung statt Wirklichkeit? Ein ehemaliger Redakteur bricht mit der SZ“. https://uebermedien.de/51341/haltung-statt-wirklichkeit-ein-ehemaliger-redakteur-bricht-mit-der-sz/ Die Unabhängigkeit von Übermedien wird durch die mittlerweile ca. 5.000 Abonnenten gesichert, die den Betrieb des Portals finanzieren.] Das Ergebnis seiner detaillierten Analyse ist ernüchternd: In allen von ihm als Beweis für die Voreingenommenheit der Zeitung angeführten Fällen lässt Meinhardt wichtige Aspekte und Tatsachen unausgesprochen, welche die Perspektive des Lesers entscheidend zu seinen Ungunsten geändert hätten. Ein besonders bezeichnendes Beispiel aus Niggemeiers ausführlichem Text, das bei Birk Meinhardt eine zentrale Rolle spielt, soll an dieser Stelle genügen.

So hatte Meinhardt eine Reportage über drei Skinheads aus Brandenburg verfasst, die gemeinsam für einen 2004 verübten Brandanschlag auf einen Döner-Imbiss verurteilt wurden. Tatsächlich stellte sich nach langen Recherchen eines Journalisten der Märkischen Zeitung die Unschuld eines der drei Neonazis heraus, der in dem neu aufgerollten Prozess dann zweitinstanzlich freigesprochen wurde. Der Irrtum im ersten Prozess beruhte wesentlich auf der falschen Erinnerung einer Zeugin und war, so Meinhardt in seiner Reportage, durch das Bemühen des mit dem Fall befassten Richters motiviert, sich mit einem möglichst entschlossenen Auftreten gegenüber rechtsextremen Auswüchsen für eine Tätigkeit am Bundesgerichtshof zu empfehlen. Meinhardt zitiert als Beleg für seine starke Unterstellung den Anwalt des zu Unrecht Verurteilten: „Wenn nun eine Akte mit rechtem Hintergrund kam, hat [der Richter] die gleiche Meinung gehabt, da muss reingehauen werden. Den Grundsatz in dubio pro reo hat er für sich gestrichen.“ Was Meinhardt in seinem Artikel indes nicht erwähnt, ist die Tatsache, dass alle drei Beschuldigten – also auch der zu Unrecht Verurteilte – in dem ersten Prozess ihre Aussage verweigert hatten. Der Neonazi tat dies zum damaligen Zeitpunkt offenbar, um seine zwei Kameraden zu schützen. (Im Gefängnis wird er sich von seinen Überzeugungen lösen). Bei der Wiederaufnahme des Verfahrens stellte, wie Stefan Niggemeier schreibt, der neue Richter dementsprechend fest: „Sie haben ihre Verurteilung durch ihr Schweigen mitverursacht.“ Dies aber lässt den alten Urteilsspruch in einem deutlich anderen Licht erscheinen als von Meinhardt in seinem Text suggeriert. Es ist fürwahr merkwürdig, dass Meinhardt einerseits die These des Verteidigers präsentiert, andererseits dem Leser jene konkrete Feststellung des Richters aus dem neuen Prozess vorenthält. Niggemeier kommentiert knapp: „Das verkompliziert natürlich die scheinbar einfache Geschichte vom Neonazi, der zu Unrecht verurteilt wird, weil ein Richter im Zweifel gegen Neonazis entscheidet. Nun könnte man sagen, dass auch eine lange Seite-Drei-Geschichte nicht alles erzählen kann. Aber wäre dieses Detail nicht wichtig? Und: diese Komplizierung fehlt ausgerechnet in einem Stück, das sich als Plädoyer für Komplizierung gibt.“

Meinhardt spricht, wie es in Niggemeiers Zitat bereits anklingt, in seinem Buch der Süddeutschen Zeitung und den Medien in Deutschland generell den Willen zur Differenzierung ab. Seine Herangehensweise bei eben jenen Themen, an denen er dies zu zeigen versucht – Migration sowie Haltung zu Amerika bzw. Russland – ruft allerdings erhebliche Zweifel an der eigenen Differenzierungsfähigkeit des Autors hervor. So lässt Meinhardt für große Teile der Migration nach Deutschland nicht einmal den Terminus „Flüchtling“ gelten, sondern bezeichnet sie nach länglicher Ausführung lediglich als „Einwanderer“; aus seiner Sicht sind viele offenbar gekommen, um das deutsche Sozialsystem auszunutzen: „Ich möchte nicht immer nur von den Steinen lesen, die schwerfällige oder widerwillige Behörden den Betroffenen bei der Integration in den Weg legen, ich möchte einmal aufgeblättert bekommen, mit wie viel Geld von welcher Behörde Menschen dorthin in Urlaub fliegen, von wo sie doch vor kurzem geflüchtet sind (…).“ Folgende Länder dominieren seit 2015 bis heute die Statistiken für Asylsuche in Deutschland: Afghanistan, Eritrea, Irak, Iran, Nigeria, Somalia, Syrien und die Türkei. [1. Vgl. Bundeszentrale für politische Bildung: https://www.bpb.de/gesellschaft/migration/flucht/zahlen-zu-asyl/265710/demografie] Alle diese fallen laut der jährlich von dem Unternehmen sos international erstellten travel risk map für 2020/21 ganz oder in Teilen in die Höchststufe „extrem hohes Sicherheitsrisiko“ oder die zweithöchste Kategorie „hohes Sicherheitsrisiko“. [1. Vgl. https://www.travelbook.de/news/travel-risk-map-gesundheit-verkehr-gefahren-unsichere-laender-reiseziele] Unter dieser Perspektive kann man es nicht anders als zynisch bezeichnen, wenn Meinhardt von „Einwanderern“ spricht, die, kaum nach Deutschland entkommen, sich mit Hilfe staatlicher Unterstützung wieder „auf Urlaub“ in ihr Heimatland begeben, „wo ihre Angehörigen leben, bei denen sie ja vermutlich wohnen“. Und überhaupt, von welchen Behördengeldern ist hier eigentlich die Rede? Wen und was also hat Meinhardt mit seiner Polemik im Sinn? Ist das jene Differenzierung, die er so nachdrücklich einklagt?

Meinhardts Buch endet mit einem längeren Exkurs über die aus seiner Sicht einseitige Auslandsberichterstattung der „Zeitung“: „Mein altes Blatt kommt, was Russland betrifft, seit Jahren ohne Differenzierung aus.“ Einiges, was er in diesem Zusammenhang als Beweis anführt, ist absurd, so beispielsweise, wenn er die Machtfülle des russischen Präsidenten ganz ernsthaft mit der Richtlinienkompetenz der Kanzlerin vergleicht und verteidigt  oder viel Verständnis für dessen obsessiven Körperkult aufbringt. [1. So heißt es: „Der russische Präsident, wie er als Alleinherrscher tituliert wird und als Zar, wie es immer heißt, sein Reich, als gäb’s in der deutschen Politik keine Richtlinienkompetenz, als wär’s nicht die Kanzlerin gewesen, die 2015 wie eine Zarin gehandelt hat.“ Und: „„Jeder Nachfolger (Jelzins) hätte sich grundlegend und dauerhaft von dem unterscheiden, hätte sich auf die eine oder andere Art auch körperlich stark zeigen müssen.“ Wenn Meinhardt der Meinung ist, der Hinweis auf Putins Vorgänger sei an dieser Stelle einschlägig, so ist nicht klar, weshalb er nicht auch den Stalinschen Personenkult anführt.“ Beides S. 137] Zurecht hingegen kritisiert der Autor einen SZ-Kommentar zur neunhundert Tage dauernden Blockade Leningrads durch die Wehrmacht. [1. Silke Bigalke, „Moskau missbraucht das Gedenken an Leningrad“. Süddeutsche Zeitung, 24.1.2019.] Darin thematisierte die Journalistin neben dem Schrecken der von russischen wie deutschen Historikern mittlerweile einhellig als Völkermord [1. Vgl. bspw. die Historikerin Susanne Schattenberg im Deutschlandfunk: https://www.deutschlandfunk.de/75-jahre-ende-der-belagerung-leningrads-russland-sieht-sich.694.de.html?dram:article_id=439425] eingestuften Einkesselung auch die bis heute fortdauernde Instrumentalisierung der historischen Ereignisse durch die verschiedenen (sowjetischen und russischen) Machthaber. Nun ist dieser Hinweis der Korrespondentin zwar durchaus korrekt, doch waren Tonalität und Titel des Kommentars dem Anlass des fünfundsiebzigsten Jahrestags des Blockadeendes nicht angemessen, zumal das Bewusstsein für dieses genozidale Verbrechen in (West)deutschland beschämend schwach ausgeprägt ist. Allerdings handelte es sich bei dem Artikel eben um einen Kommentar und damit – Birk Meinhardt sollte den Unterschied kennen – um eine Textsorte, die die persönliche Meinung eines Journalisten in den Vordergrund stellt. Bigalkes (unempathischen) Text als weiteren unwiderlegbaren Beweis für „Haltungsjournalismus“ anzuführen, wie Meinhardt es tut, ist daher mindestens irreführend, wenn nicht unlauter – der Leser erwartet von einem Kommentar ja gerade nicht neutrale Information, sondern Einordnung, Pointierung, also auf den Punkt gebrachte Haltung. Dass in der Süddeutschen Zeitung knapp zwei Wochen zuvor bereits über das historische Geschehen in einer verdientermaßen hymnischen wie betroffenen Besprechung von Ales Adamowitschs und Daniil Granins ungekürzter Fassung ihres „Blockadebuchs“ in Kenntnis gesetzt worden war, ist Meinhardt übrigens keine Erwähnung wert – dies liefe schließlich seiner These vom permanenten politischen Mainstreaming der Zeitung zuwider. [1. Vgl. Robert Jobst, „Von diesem Buch geht eine seltsame Ermutigung aus“. Süddeutsche Zeitung, 6.1.2019.]

Meinhardt bringt auch zwei selbst erlebte Geschichten über Russland, offenbar mit dem Ziel, dem Leser ein anderes Bild als jenes zu vermitteln, das er in der „Zeitung“ findet. Welches Bild ist dies? Eines der beiden Erlebnisse handelt von einem sich bereichernden Flughafenbeamten und dem einfachen „Volk, das auf blankem Stein verharrte“, das andere von einem Treffen des Autors mit dem „als diktatorisch und abweisend geltenden Eishockey-Nationaltrainer“, der ihn zunächst auf die Probe stellt, ihm dann aber später jede Frage beantwortet und sich respektvoll verabschiedet. Meinhardts Fazit: „So ist Russland. Nicht auf einen Nenner zu bringen.“ Auch wenn die Darstellung Russlands in den deutschen Medien durchaus defizitär ist (ein seit langem bekannter Umstand, der insbesondere mit der sinkenden Anzahl an Vor-Ort-Korrespondenten zu tun hat [1. Vgl. beispielsweise Gemma Pörzgen, „Das Russlandbild in den deutschen Medien“. Bundeszentrale für politische Bildung, 9.5.2018, https://www.bpb.de/internationales/europa/russland/47998/russlandbild-deutscher-medien]) – ist das nun die große Alternativerzählung? Oder sind das alles nicht doch eher altbekannte, sehr klassische Topoi, wie man sie in der russischen Literatur bereits seit dem neunzehnten Jahrhundert zuhauf findet? Selbst das oben angeführte Resümee des Autors ist lediglich eine Paraphrase des längst zum Klischee geronnenen und vermutlich meistzitierten russischen Vierzeilers überhaupt, er stammt von dem Dichter Fjodor Tjutschew (1803-73) und beginnt mit den Worten „Russland ist nicht mit dem Verstand zu begreifen“, und endet, wohlgemerkt, mit einer Feststellung („An Russland muss man einfach glauben“), die es in Deutschland sogar als Buchtitel auf Bestsellerlisten geschafft hat. [1. Vgl. das gleichnamige Buch der früheren ARD-Korrespondentin in Moskau, Gabriele Krone-Schmalz.]

Es entsteht mithin der Eindruck, dass Meinhardts Vorstellung von Differenzierung sehr viel weniger genau und unvoreingenommen ist, als er behauptet, und sehr viel mehr mit dem eigenen Gefühl des Rechthabens zu tun hat. So kritisiert er eine angeblich willfährige Haltung der Zeitung gegenüber Amerika: „Ich rieche jede neue Propaganda, von wo sie mich auch anweht, und springe beiseite; sollen sie nur schreiben, die USA sind unser verlässlicher Freund und Partner und werden es bleiben, sollen sie’s ruhig weiter tun, ich lächle über solche inbrünstig und tiefgläubig oder auch nur beschwörend ausgestoßenen Sätze, denn ich weiß es besser.“ Um welche Sätze es sich konkret handelt, wird Meinhardt, wie so häufig, nicht sagen – direkte Zitate kommen in dem Text nun einmal nicht vor. Was hier allerdings auffällt, ist nicht allein der Erfahrungsvorsprung, den der Autor für sich reklamiert („jeder weiß es theoretisch, aber ich habe es praktisch erfahren“), sondern auch das bizarre Postulat einer eigenen, vollständig unabhängigen Beobachterposition: „Ich bin jetzt wirklich in der größtmöglichen Freiheit, in der, erstmals von außen in den Raum blicken zu können, in dem ich lebe.“ Der hierin zum Ausdruck kommende Narzissmus erinnert von fern an die Klage des Dresdener Autors Uwe Tellkamp, dass seine Meinung zwar geduldet, aber nicht erwünscht sei. [1. Zit nach https://de.wikipedia.org/wiki/Uwe_Tellkamp]

Der Autor beendet sein „Jahrebuch“ mit der Erwähnung von drei Beiträgen aus der Zeitung, darunter einem Interview über Ostdeutschland mit zwei Gesprächspartnern, „einer Autorin und einem Sozialwissenschaftler“. Meinhardt nimmt Anstoß an der Zusammensetzung der Gruppe und deren angeblicher Einigkeit. Er schreibt: „[Man] bestätigt einander. Lädt vorsichtshalber niemanden ein, der den Ball mal schärfer oder gar in die andere Richtung feuern würde. Und das ist fast immer so. Es ist mittlerweile eine ungeschriebene Regel. Kurz denke ich während des Lesens des Ostdeutschland-Interviews, wie es eigentlich wäre, wenn jemand wie die Buchhändlerin aus Dresden in der Runde säße, die es nicht akzeptabel fand, dass auf der Messe vor anderthalb Jahren Stände rechter Verlage ausgeraubt und zerstört wurden, und deren dringliches Thema auch die Demokratie und Ostdeutschland ist, was hätte sie jetzt zu sagen, innerhalb eines solchen Gesprächs? Soll sie ihre Gedanken vortragen, dann könnte ich mir, als Leser eines wahren Widerstreits von Argumenten, eine Meinung bilden, aber es ist illusorisch.“ Da Meinhardt den konkreten Inhalt des Interviews und die Namen der Interviewpartner vorenthält, muss seine Frage danach, was Susanne Dagen in diesem Kontext zu sagen gehabt hätte, naturgemäß eine rhetorische bleiben. Vielleicht hätte ihre Teilnahme die Diskussion tatsächlich weitergebracht. Gleichwohl stimmt es bedenklich und ist allemal undifferenziert, wenn der Autor die Initiatorin einer Gesprächsreihe („Mit Rechten lesen“), deren ausweisliches Ziel die „Normalisierung“ des öffentlichen Blicks auf Rechtextreme ist, als jene radikale Kämpferin für Demokratie beschreibt, als die sie sich freilich selbst sieht. [1. So beispielsweise in Dagens Aussage: „Ich möchte, dass die Meinungsfreiheit bis an die äußersten Ränder geschützt ist.“ Vgl. Bert Rebhandl, „Debatte um Tellkamp: die böse Meinung mit den Anführungszeichen“. Der Standard, 18.3.2018.] Und was hat der unter falschem Namen präsentierte rechtsextreme Gast der Sendung, Martin Sellner, auf welchen Dagen dem Zuschauer einen anderen Blick ermöglichen will, zu Meinhardts Bericht zu sagen? „Ich finde es ein sehr, sehr interessantes Buch vor allem für Leute, die jetzt nicht wissen, wie diese Lügenpresse funktioniert, warum die alle so schreiben.“ [1. Vgl. „Aufgeblättert. Zugeschlagen. Mit Rechten reden“, 21.7.2020: https://www.youtube.com/watch?v=8DZmX6kfKG0] Dass dies nicht allein zufälliger Beifall von der falschen Seite ist, sondern eben eine Folge der problematischen Argumentation und Präsentation in Meinhardts Buch, sollte inzwischen deutlich geworden sein.

Es gehört zum Gesamtbild dazu, den Verlag zu erwähnen, in welchem das Buch Meinhardts herausgebracht wurde. In der erwähnten Diskussion mutmaßt Susanne Dagen, dass Birk Meinhardt, dessen belletristische Werke zuletzt bei Hanser erschienen, für seine non-fiction-Publikation ganz bewusst „Das neue Berlin“ ansprach. 1946 entstanden, war dieser Verlag einer der auflagenstärksten Verlage der DDR, der nach seiner Insolvenz 1993 neu gegründet wurde. 2014 wurde die dahinterstehende Verlagsgruppe Eulenspiegel nach einer weiteren Insolvenz von einer unbekannten neuen Gesellschaft aufgekauft. Das Programm des Verlags umfasst Kriminalliteratur, Sachbücher und Biographien und bedient dabei insbesondere „klassische“ ostdeutsche Themen: unter den Autoren findet man den Staatsratsvorsitzenden Erich Honecker („Letzte Aufzeichnungen“) und dessen Personenschützer Lothar Herzog („Honecker privat“), den langjährigen FDJ-Chef und Nachfolger Honeckers im Amt, Egon Krenz, den Leiter des Auslandsnachrichtendienstes der DDR, Markus Wolf wie auch die ostdeutsche Radsportlegende Täve Schur („Was mir wichtig ist“). Dies gibt einen Hinweis darauf, dass in Meinhardts Buch zwei separate Themen verhandelt werden, die nicht zwangsläufig in Zusammenhang stehen: jenes einer angeblichen Bedrohung der Meinungsvielfalt in den Medien, und parallel das einer ostdeutschen Erfahrung im Nach-Wende-Deutschland. [1. Die Journalistin Sabine Rennefanz weist noch auf ein weiteres, unabhängig von ostdeutschen Befindlichkeiten existierendes Thema hin, nämlich das einer sich wandelnden Branche: „Was Meinhardt beschreibt, ist die Geschichte des Verlusts der eigenen Bedeutung in der Zeitung, ein Psychogramm einer Kränkung. Und das hat mehr damit zu tun, wie sich die Medienbranche gewandelt hat, als mit Meinungsdiktatur. Nachdem er zweimal den Kisch-Preis gewonnen hatte, der damals der Super-Oscar für Journalisten war, durfte er sehr privilegiert arbeiten: wochenlang über ein Thema nachdenken, drei Monate recherchieren. Niemand machte ihm Druck. Online gab es nicht oder kaum. Wer arbeitet denn heute noch so?“ Vgl. Rennefanz: „Psychogramm des gekränkten älteren weißen Mannes“. Mit der Hautfarbe hat das alles freilich nichts zu tun.] Hierfür spricht auch der Klappentext des Buches, der, im Widerspruch zur sonstigen Werbung für den Text und seiner allgemeinen Rezeption als Verdikt über „Haltungsjournalismus“ in den Medien, ausschließlich auf das erste – ostdeutsche – Thema einzahlt: „Es ist so ein Bruch, sage ich zu meinem Freund, dem Anwalt. (…) Und weißt du, was mich am traurigsten macht? Dass der es so abgetan hat, als ich ihm von früher erzählt habe. Immer heißt es, wir müssen uns unsere Geschichten erzählen, von Ost nach West und zurück, aber wenn man’s tut, dann wird abgewunken und gesagt, lass doch dein Moralisieren. Nur weil du anwendest, was du erfahren hast, das stört…“

Kommen wir also zurück zu der Frage, wer in diesem Buch spricht – der idealistische Journalist oder der gekränkte Autor? Stefan Niggemeier resümiert: „Man kann größere Teile von Meinhardts Buch als langen, enttäuschten Bericht eines Journalisten lesen, der eigentlich immer schon lieber und besser Schriftsteller geworden wäre. Aber durch diese Lesart verliert das Buch natürlich viel von seiner Brisanz. Es würde dann nicht ganz so viele Leute interessieren und beeindrucken und in ihren Zweifeln an der Realitätstreue der Medien zweifeln lassen.“ Ob die Engführung der beiden Themen  ostdeutsche Befindlichkeit und Meinungsfreiheit von Anfang an geplant war, lässt sich nicht genau sagen. Jedenfalls wird die Marketingabteilung des Verlags an einem bestimmten Punkt wahrgenommen haben, dass mit dieser Verknüpfung eine deutlich größere Gruppe von Lesern erreicht werden kann. Die Doppelsignale – der „ostdeutsch“ betonte Klappentext und der medienkritische Hashtag “Pressefreiheit“, mit dem für das Buch geworben wird – stellen daher eine gute Strategie für einen gesteigerten Absatz dar. „Wie ich meine Zeitung verlor“ ist mittlerweile in vierter Auflage erschienen [1. Stand Dezember 2020.] und schaffte es, wie die Eulenspiegel-Verlagsgruppe unter dem besagten Hashtag verkündet, im August 2020 sogar auf die Spiegel-Bestsellerliste.

Wie sich gezeigt hat, sind Birk Meinhardts Vorwürfe in der im Buch geäußerten Form nicht haltbar. Sie sind in dem sehr persönlichen Text zu wenig recherchiert, zu ungenau argumentiert und, ja, deutlich zu manipulativ vorgetragen. Was aber mag konkret das Motiv für Meinhardts Buch gewesen sein?

Zu Beginn seines Berichts schildert er einige Anekdoten aus seiner mehrjährigen Tätigkeit als Journalist bei einer Zeitung in der DDR. Zweimal wurde ihm der Posten des stellvertretenden Chefredakteurs angeboten, den er jeweils ablehnte – er hätte für seinen Geschmack zu viele politische Anweisungen entgegennehmen bzw. zu viele Kompromisse machen müssen.[1]Er verwehrt sich allerdings explizit gegen eine Glorifizierung seines damaligen Verhaltens, denn „darum ist man noch lang kein Widerständler; kein Ostler, der bis zum Ende bis zur Wende Journalist war, sollte auch nur den Anschein erwecken, er sei Widerständler gewesen“.

Dann kam es in der DDR zur Revolution, etwas später zur beschleunigten Wiedervereinigung. Thomas Oberender erinnert in seinem Buch „Empowerment Ost“ zurecht daran, dass bei den ersten freien Wahlen in der DDR im März 1990 zwar die konservative „Allianz für Deutschland“ mit siebenundvierzig Prozent der Stimmen die Mehrheit errang, die andere Seite (SPD, PDS und Bürgerlisten), welche Reformen statt eines überstürzten Anschlusses favorisierte, mit dreiundvierzig Prozent jedoch immerhin noch fast die Hälfte der Stimmen ausmachte. [1. Vgl. Thomas Oberender, Empowerment Ost. Wie wir zusammen wachsen. Tropen, 2020, 34] Die Überlegungen dieser starken Minderheit spiegelten sich jedoch im Vollzug der Vereinigung nicht wider, welche in quasi allen Parametern der westdeutschen Logik folgte und sich im Grunde als eine „Übernahme“ (Ilko-Sascha Kowalczuk) gestaltete. [1. Vgl. Ilko-Sascha Kowalczuk, Die Übernahme. Wie Ostdeutschland Teil der Bundesrepublik wurde. C. H. Beck, 2019.] Ein in diesem Zusammenhang besonders betrübliches Beispiel ist das der Verfassung des neu entstandenen deutschen Staates. Statt, wie es geschah, das bundesrepublikanische Grundgesetz unverändert zu übernehmen, hätte man die Erarbeitung einer gesamtdeutschen Verfassung (zu der in Ostdeutschland von Vertretern verschiedener Bewegungen und Foren bereits ein Entwurf entwickelt worden war [1. Die Schriftstellerin Christa Wolf hatte hierzu eine Präambel geliefert.]) zu einem elektrisierenden gesamtgesellschaftlichen Impuls machen können. Kowalczuk konstatiert: „Für die Ostdeutschen wäre es vor allem mental und kulturell das Zeichen für einen gemeinsamen Neubeginn gewesen. Und die Westdeutschen hätte erfahren, dass auch die alte Bundesrepublik, das Nachkriegsprovisorium, in eine neue Zeit überführt werden musste“. Auch hätte damit die ostdeutsche Leistung der Selbstbefreiung, die inzwischen hinter Formulierungen wie der vom „Fall der Mauer“ fast gänzlich verschwunden ist, zumindest symbolisch gewürdigt werden können. [1. Vgl. Annette Simon, „Wut schlägt Scham. Das „Wir sind das Volk“ der AfD als nachgeholter Widerstand“. Blätter für internationale Politik, Oktober 2019: „Die Leistung ihrer Selbstbefreiung fand keine symbolische Würdigung. Es kam nicht zu einer neuen gemeinsamen Verfassung, es gab keine neue Fahne und auch nicht eine neue gemeinsame Nationalhymne. Und warum wurde nicht der 9. Oktober zum Feiertag der deutschen Einheit gemacht, der Tag des Friedensgebest in der Nikolaikirche, an dem 1989 in Leipzig die Menschen mit großem Mut in Masen demonstrierten und damit das Ende der DDR mit einläuteten? Der 3. Oktober als Tag der Einheit sagt dagegen nur etwas über den Verwaltungsakt des Beitritts aus, nichts aber, was sich irgenwie auch mit ostdeutscher Identität verbinden ließe.“] Oberender konstatiert: „Ich habe mich 1989 befreit gefühlt, aber durch unser eigenes Handeln. Die Mauer ist nicht gefallen wie ein Blatt im Herbst.“ Mit Recht insistiert er auf dem aktiven Moment der Transformation: „Wir waren Subjekte der Geschichte“. Allerdings sollte man ergänzen, dass dies natürlich nicht nur für die Zeit des Umbruchs gilt (der sonst auch schlechterdings nicht erklärbar wäre). Ebenso während des vierzigjährigen Bestehens der DDR gab es individuelle Handlungsspielräume, und vor allen Dingen: das System – wie jedes System – war menschengemacht. Es hat daher einen faden Beigeschmack, wenn in Oberenders Darstellung, sobald es die historische Epoche der Deutschen Demokratischen Republik betrifft, eben nicht mehr von Subjekten in der ersten Person Plural sondern ausschließlich von systemischen Kräften, die Rede ist, so z.B.: „Die DDR war ein System der permanenten Gehirnwäsche, sie beutete Vertragsarbeiter aus und exportierte ihr Militär profitabel unter dem Vorzeichen des Internationalismus.“ Es ist keineswegs Pedanterie darauf hinzuweisen, dass Vertreter des Staates, also Menschen, und nicht die DDR selbst die erwähnte Gehirnwäsche und Ausbeutung betrieb und das Militär exportierte. Dies alles verweist auf einen weiteren negativen Aspekt der vorschnellen Vereinigung und der zugleich ausgebliebenen Anerkennung der ostdeutschen Selbstbefreiung, welcher in den Augen der Psychologin Annette Simon darin besteht, dass eine notwendige Auseinandersetzung über das totalitäre System, über die eigene Rolle darin und die sich daraus ergebenden Konflikte von vielen Menschen nicht hinreichend ausgetragen wurde. „Der narzisstischen Kränkung von außen auch noch eine eigene Verunsicherung von innen hinzuzufügen, stellt eine hohe Anforderung an Stabilität und Reflexionsvermögen dar, die nicht jeder aufbringen kann.“ Es kommt in der Folge zu diversen Verdrängungen und Projektionen. Simon schreibt: „Fest steht: Das heute lautstark geäußerte Misstrauen in die Eliten überhaupt wäre gegenüber den DDR-Machthabern mehr als berechtigt gewesen. (…) Auch hier wirkt es auf mich manchmal wie ein nachträgliches Abreagieren unter dem Motto: „Noch einmal lassen wir uns das nicht gefallen!“

Zurück zu Meinhardts Text. Gegen dessen Ende hat der Autor eine Art Offenbarungserlebnis Offenbarungserlebnis, das auf eine bestimmte Weise den eigentlichen Kern des Buches darstellt. Im Jahre 2018, mehr als fünfundzwanzig Jahre nach dem Umsturz, sieht der Autor bei einem Treffen der ehemaligen Seminargruppe der Journalistenschule seine Kommilitonen wieder. Man plaudert, teilt vergangene Geschichten. Zunächst versuchen alle, die eigene Vergangenheit zu beschönigen und als nachgerade dissidentisch darzustellen. [1. Vgl. Meinhardt, 117: „Wir tranken und redeten, schon der erste Abend währte lang, Geschichten von früher wurden erzählt, lustige erst, banale, und langsam, fast unmerklich wurden es Geschichten, in denen die Erzähler aufblitzen ließen, was für Dissidenten sie vor und während der Wende gewesen waren.“] Meinhardt, der dies lange verblüfft beobachtet, fragt schließlich, wer von ihnen denn je bei einer Demonstration gewesen sei. Eine einzige Anwesende meldet sich. Auf die eingetretene Stille hin fährt er fort: „Ich sagte, das sind doch alles Märchen, die wir uns hier erzählen, wir schildern unsere Geschichte nicht so, wie sie abgelaufen ist, sondern wie wir wünschen, dass sie abgelaufen wäre.“ Es entsteht also eine Situation, in der, um mit den Worten der Psychologin Annette Simon zu sprechen, eine „alte, unbewusste und oft verdrängte Scham aus der DDR-Zeit, in der man sich Zwängen mehr als notwendig gebeugt hatte, ans Licht gezerrt wird.“ [1. Annette Simon, „Wenn Familie zu sehr wärmt“. In: Zeit 28/2019, 4. Juli 2019. ] Das eigentlich Interessante aber ist die darauf folgende Reaktion des Autors. Es lohnt, sie in einzelnen Schritten zu analysieren.

Die Verblüffung Meinhardts währt nicht lange: „Bist du jetzt hier also unversehens zum Partycrasher geworden, dachte ich mir. Aber wenn schon denn schon. Außerdem, sagte ich, sollte es jetzt vielleicht auch gar nicht mehr so um früher gehen. Oder nur insofern um früher, als wir uns mal fragen könnten, wie es denn heute ist, damals haben wir bis zum Ende mitgemacht, und heute?“ Nachdem der Autor eben noch die Erzählungen seiner Kommilitonen als Lebenslügen entlarvt hat, stellt er fünf Sätze später also bereits die Bedeutung des Blicks in die Vergangenheit in Frage, es sei denn, er erfolgt im bewussten Abgleich mit der Gegenwart. Dieser umgehende Abgleich aber fördert eine deutliche Homologie zutage: „Machen wir nicht wieder mit? Ich weiß nicht, wie ihr es empfindet, ich kann nur sagen, ich spüre wieder solches Eingeenge und Luftabgeschnüre. Im einzelnen läuft es hier jetzt anders natürlich, nicht so rabiat, aber das Ergebnis ist ein ähnliches, für mich jedenfalls.“ Die Schuldentlastung ist mithin eine zweifache (und teils widersprüchliche): zum einen stehe eine intensive Beschäftigung mit der eigenen Vergangenheit im Grunde nicht an, zum anderen jedoch seien, wenn man sich denn damit auseinandersetze, die Unterschiede zwischen der damaligen und der heutigen Situation im Ergebnis gering.

Im dritten Schritt, und zwar im direkten Anschluss, weitet Meinhardt den Betrachtungszeitraum erneut aus: „Wartet mal, wartet mal kurz! Ich sprang auf. Mir war was eingefallen, was Reclamgelbes, ich hatte es doch erst vorhin im Zug gelesen! Ich holte es aus der Tasche. Ich schlug mir damit auf die flache Hand und hielt es kurz hoch. Tocqueville. War keine 30, als er das hier geschrieben hat. Erstveröffentlichung 1835, Über die Demokratie in Amerika, die ist auch noch ganz jung gewesen. Und er ist gleich rüber und hat sie studiert und mit verblüffendem Scharfsinn beschrieben, in dem Ding steht schon genau drin, was heute abläuft, 1835, und alles schon enthalten, hier zum Beispiel, die Allmacht der Mehrheit. Tocqueville schreibt sogar von der Tyrannei. Die tyrannische Mehrheit, die einen drohenden Kreis ums Denken der Minderheit errichtet. Der Minderheit, dem Einzelnen wird, anders als im Absolutismus, aus dem Tocqueville ja kam, und anders als in der Diktatur, aus der wir kommen, nicht nach dem Leben getrachtet, aber er ist, wie ist das formuliert? Er ist täglichen Nachstellungen ausgesetzt. Wer ihn ablehnt, bringt das öffentlich zum Ausdruck, wer denkt wie er, formuliert es nicht öffentlich, sondern schweigt und entfernt sich. Und das tut am Ende auch jener Einzelne, jener konträr Denkende und Sprechende selbst.“ Die spezifische Darstellung Tocquevilles erlaubt dem Autor eine Identifikation mit diesem, ja, er schlüpft quasi in die Rolle des scharfsinnigen französischen Demokratieanalytikers. Noch weitaus entscheidender ist jedoch: Die Erweiterung der historischen Perspektive bis zurück in die erste Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts lässt den Autor Grundmuster menschlichen Verhaltens erkennen. Was er angesichts der Erzählungen seiner Kommilitonen eine Seite zuvor noch als Verleugnung der eigenen Verantwortung kritisiert hat, wird auf diese Weise nun zum folgerichtigen Ausdruck einer gleichsam anthropologischen Konstante.

Doch auch hiermit ist das Ende der Entwicklung nicht erreicht. „Als ich aufhörte mit dem Zitieren, dachte ich, wo hat’s dich denn jetzt hingetrieben, das hat doch keiner aus der Runde verstanden, was du gerade hast ausdrücken wollen, aber etwas Famoses geschah. Alle zeigten sich genauso entflammt. Alle warfen ihre Panzerungen ab und begannen zu diskutieren, ehrlich und schonungslos, einer rief sogar, man müsste kündigen, man dürfte keinen Tag länger dabeibleiben (…). Und an den zwei Tagen danach war es ein Zusammensein, wie wir es noch nie gehabt hatten, eines, bei dem wir gut schweigen konnten und jeder neben jedem Platz nahm, eines, bei dem das Wabernde und Unangenehme in Worte gefasst und damit vorerst gebannt war, innig ist vielleicht ein zu großes Wort, aber warum nicht, wir waren innig und so beschwingt, dass wir am Ende selber staunten.“Man könnte es bei flüchtiger Lektüre fast überlesen: das „Abwerfen der Panzerung“, die „ehrliche und schonungslose“ Auseinandersetzung, das „in Worte Fassen und Bannen des Wabernden und Unangenehmen“ – all dies bezieht sich mitnichten auf die DDR, sondern auf die heutige Zeit. Erst mit diesem letzten Schritt aber ist die Umformatierung des anfangs zur Sprache gekommenen individuellen Schuldkomplexes zugunsten einer kollektiven Gegenwartskritik abschließend vollzogen. Es kommt zu einer intensiven Erfahrung von Geborgenheit und Zusammengehörigkeit in der Gruppe. Ein letztes Mal soll in diesem Kontext die (in der DDR aufgewachsene) Psychologin Annette Simon zitiert werden: „Sich dem Schmerz des eigenen Versagens, der alten eigenen Scham zu stellen, und der damit verbundenen Trauer über verlorene oder verbogene Lebenszeit, ist dagegen die große Herausforderung – und wirklich schwer. Denn dies wäre auch ein sehr individueller Prozess, der die Brüche im ostdeutschen Kollektiv deutlich machen würde und für den man nicht so leicht einen Westler oder den Westen in Gänze verantwortlich machen könnte.“

Die Frage nach dem Motiv des Autors bleibt naturgemäß spekulativ. Eine genaue Textanalyse von „Wie ich meine Zeitung verlor“ lässt jedoch zumindest die Richtung erahnen, in der eine Antwort darauf liegen könnte. Mögen im Falle Birk Meinhardts also andere psychologische Prozesse dominieren und die einzelne Beweisführung mangelhaft sein, bleibt eine der Fragen, die sein Text aufwirft, dennoch wichtig: werden die Medien als eine die Exekutive kritisch begleitende, die Vielfalt der gesellschaftlichen Meinungen reflektierende vierte Kraft im Staat hierzulande ihrer Funktion gerecht?