Die Todesmaschine

Ich bin es inzwischen gewohnt. Nach jedem Vorfall in Haiti, ganz egal welcher Art, versucht man, mich zu erreichen. Früher verschwendete ich noch wahnsinnig viel Zeit darauf, den Journalisten zu erklären, dass ich weit weniger wisse als sie. Mit ruhiger, gesetzter Stimme formulieren sie ihre Anfrage noch einmal. Es ist ihre Art, mir mitzuteilen, dass sie mir nicht glauben.

Wie kann das sein? Seit wann hat ein haitianischer Intellektueller nichts mehr zu jedem erdenklichen haitianischen Thema zu sagen? Nun, ich bin ein ganz einfacher Schriftsteller, ein Schriftsteller ohne Identität. Und mit der Zeit, das muss ich zugeben, sind die Anfragen deutlich weniger geworden.

Ich war wohl auch so naiv zu glauben, dass man sich für meine Einschätzung der Lage im Land ernsthaft interessiert. Immerhin ist es das, was ich seit 35 Jahren ganz für mich allein und im Stillen tue. Dabei wollen sie doch nur meinen Namen neben eine nichtssagende Stellungnahme kleben, die irgendwer sonst genauso gut abgeben könnte. Am Morgen des 8. Juli etwa hatte ich das Gefühl, man erwartet von mir, die Meldung vom Tod des Präsidenten von meinem Bett aus zu bestätigen.

Warum sage ich trotzdem zu? Oder anders gefragt: Warum schreibe ich jetzt doch einen Text über die Situation in Haiti? Aus dem einfachen Grund, weil ich letzte Woche den Roman einer in Port-au-Prince lebenden Schriftstellerin gelesen habe. Er heißt Les Villages de Dieu („Gottes Dörfer“) und ist 2020 bei Mémoire d’encrier in Montreal erschienen.

Vermutlich habe ich gerade die Hälfte der Leserinnen und Leser dieses Beitrags verloren. Was für eine Schnapsidee, an einem derart blutigen Tag über einen Roman zu sprechen, noch dazu über einen, der bereits ein Jahr alt und somit veraltet ist. Doch wo wir gerade bei blutig sind: Ist es nicht erstaunlich, dass der tödliche Angriff auf das Präsidentenpaar in einem Land der Dritten Welt kein Blutbad nach sich zieht? Zugegeben, es ist noch nicht aller Tage Abend, und weder will ich meine Meinung zu einem solchen Thema äußern noch mich der Anschuldigung aussetzen, ich hätte zum Blutvergießen aufgerufen.

Die Gerüchteküche scheint in diesen Stunden so ausgehungert zu sein wie Port-au-Prince ruhig erscheint. Da lässt das ungeduldige Technikbiest mit seiner schrillen Stimme nicht lange auf sich warten: „Falls du was zu sagen hast, sag’s schnell oder schweig.“ Ich selbst habe nichts zu sagen. Ich will lediglich auf ein außergewöhnliches Buch hinweisen, das weitgehend unbemerkt blieb. Les Villages de Dieu ist, um es ohne jegliche Umschweife zu sagen, das beste haitianische Buch seit sehr langer Zeit – das wuchtigste, präziseste und vielleicht das am besten geschriebene der letzten Jahre. Doch warum sollte man es gerade jetzt lesen?   

Vielleicht wurde der Roman, mit Ausnahme einer Handvoll Journalisten, wegen seines Titels ignoriert. Vielleicht dachte man, es sei ein religiöses Buch, das die Geschichte der frommen Bewohner malerischer Dörfer erzählt, deren harmonisches Zusammenleben als gutes Vorbild herhalten muss. Das Gegenteil ist der Fall. Les Villages de Dieu, so nennt man die Elendsviertel, wo Armut, Frustration, tiefsitzender Hass und ein absoluter Mangel an Hoffnung regieren – ein Indikativ Präsens, so fragil, dass es jeden Morgen aufs Neue in Frage gestellt wird.

Wer in diesen Vierteln lebt, hofft, in die Hölle zu kommen, weil es dort nur besser werden kann. In Pedro Páramo schreibt Juan Rulfo, die Bewohner von Comala nähmen sich eine kleine Decke ins Jenseits mit, weil sie davon ausgehen, dass es dort kälter ist. Dem wäre nur noch hinzuzufügen, dass sich genau hier sämtliche Mörder des Landes eingenistet haben.

Wer das Schicksal Haitis verfolgt, weiß schon lange, dass es sich um rechtsfreie Räume handelt, zu denen die Polizei keinen Zugang hat, geschweige denn die Regierung. Und das, obwohl Politiker und andere angesehene Persönlichkeiten geheime Treffen mit Bandenchefs abhalten. Dort also hat Emmelie Prophète ihre Forschungszelte aufgeschlagen. Ob sie selbst vor Ort gewesen ist, weiß ich nicht, aber sie hat, wie Blaise Cendrars gesagt hätte, ohnehin etwas Besseres getan: Sie hat uns das Blickfeld freigeschafft auf das Leben, das dort wirklich gelebt wird.

Es ist ein Kurztrip in die Hölle. Wie sieht es da aus? Wie überall sonst in Haiti. Nirgends erscheint der Alltag alltäglicher als hier. In aller Ruhe lässt uns Prophète ihren Figuren beim Leben zuschauen, den Großmüttern, Müttern, Schwestern und jungen Brüdern, den Verstörten, Verrückten, Verkrüppelten. Und den Verlobten, die, während sie ihrem Alltagsgeschäft nachgehen, den versprochenen Ehemännern nachweinen, die es nicht über den letzten Zahltag hinausgeschafft haben.

Denn auch Mörder müssen zwischen zwei Entführungen mal schlafen. Sie müssen essen, sich umziehen und ihre Kinder zur Schule schicken. All das verlangt nach einer gewissen Organisation. Unterdessen beten die Mütter, dass ihre Söhne Ärzte werden oder Ingenieure oder für immer nach New York auswandern.

Von denen, die das Land verlassen, erwartet man nur eins: niemals zurückkommen. Im Roman gibt es eine Frau, die bessergestellt und besser ausgebildet ist als die meisten anderen Frauen, deren Existenzbedingungen sie verbessern will. Denn wie überall sonst ist auch in den „Dörfern“ die Lage der Frauen die am wenigsten beneidenswerte. Doch jeden Morgen (den Geruch von warmem Blut vergisst man nicht) stößt man in den engen, schlammigen Gassen und Korridoren auf neue, frische Tote. Die Nächte sind durchgetaktet von einem rhythmischen Wechsel aus Schreien und Schüssen. Und am nächsten Tag wird ein neuer Anführer verkündet, der seine Amtszeit mit den wohlbekannten Versprechungen beginnt.

Diese Viertel gilt es, in den kommenden Tagen besonders aufmerksam zu beobachten. Sie sind das Herz des Problems. Natürlich gibt es da auch noch die Lungen, das Hirn, die Arme und Beine, schließlich haben wir es mit einem Problem zu tun, das nicht auf der Stelle steht.

Die Kraft des Buches von Emmelie Prophète liegt in einem Licht, von dem man nie genau sagen kann, wo es herkommt: von der tropischen Sonne oder von den Wahnträumen der Menschen. Vielleicht strahlt es aber auch ganz einfach aus dem Talent einer herausragenden Romanschriftstellerin heraus, die uns von der ersten Seite an an der Gurgel packt, Kapitel für Kapitel fester zuschnürt, später den Griff etwas lockert, nur um am Ende so fest zuzudrücken, dass es uns den Atem verschlägt.

So viel Elend, Verbrechen und Frustration, erzählt ohne jegliches Pathos. Dieses eine Mal hatte ich das Gefühl, eine Wirklichkeit, die ich selbst nicht kenne, mit den eigenen Fingern berühren zu können. Emmelie Prophète hat mir mein Land erzählt. An sie müsst ihr euch von nun an wenden. An sie – oder besser gesagt: an ihren Roman.

Aus dem Französischen von Samir Sellami

 

Der Artikel ist in seiner französischen Originalfassung am 8.7. in Le Devoir erschienen.