Friede, Freiheit – keine Politik?

Das Parlament ist ursprünglich eine aristokratische Institution. Hier vergewisserte sich der König, ob ihm seine freien Herren mit Rat und Hilfe zur Seite standen.[1] Demokratisch ging es dort erst zu, als die Abgeordneten gezwungen wurden, um die Stimmen eines Herren zu konkurrieren, der ganz anderer Natur ist, namentlich: um die unzuverlässige Gunst des wählenden Publikums. Erst seitdem das Volk mit seinem Mehrheitsvotum entscheidet, wer auf den Regierungssitzen Platz nimmt und wer sich mit den Oppositionsbänken begnügen muss, übt es Herrschaft aus. Wir, die wir dieses Publikum bilden, sollten deshalb aufhorchen, wenn immer im Parlamentssaal Stimmen lauter werden, die es für verzichtbar halten, in der Unterscheidung von Regierung und Opposition allzu streng zu bleiben. Die Abstimmung im Bundestag über die Einführung einer allgemeinen Corona-Impfpflicht droht jedoch ein solcher Fall zu werden. Wie kam es dazu? Anzufangen ist bei einer missglückten Impfkampagne. Zunächst gab es zu wenig Impfstoff, dann eine zu strenge Priorisierung – und schließlich, nach dem Sommer, offenbar keine beherzteren Versuche mehr, die Zahl der geimpften Personen zu vergrößern: Im Oktober und November kürzte die Bundesregierung kurzerhand ihre Werbeausgaben.[2] Seitdem beharrte die Impfquote auf dem Niveau von etwas über sechzig Prozent, was für den Winter nichts Gutes bedeuten würde, wie das Robert-Koch-Institut und namhafte Virologen gebetsmühlenartig wiederholten. Dabei standen die Chancen gar nicht schlecht. Mit einer starken Aufklärungskampagne, etwaigen Prämien und Impfteams, die in Innenstädten, Großstadtvierteln, Büros und Fabriken zum Einsatz kommen, hätte für eine krisenfestere Situation gesorgt werden können, wie es andere europäische Länder vorgemacht haben. Blickt man in die statistischen Erhebungen, so ist mindestens ein Drittel der Ungeimpften impfbereit, unentschlossen, nur mäßig skeptisch, oder schlicht und ergreifend von den Bemühungen der Kampagne nicht erreicht worden.[3] Die Formel, die Gruppe der Ungeimpften wäre mit der „Querdenker“-Bewegung identisch, war und ist sachlich verfehlt. Sie taugt nicht mal als politische Ausrede. Aber auch für Fehler gelten Pfadabhängigkeiten – vielleicht gerade für sie. Als die inzwischen schon vierte Welle die Krankenhäuser erreichte, konnte sich jeder Geimpfte schnell ausmalen, wem er es unmittelbar zu verdanken hat, dass Veranstaltungen abgesagt und persönliche Verabredungen – gerade zum Jahreswechsel – nur mit größerer Vorsicht stattfinden konnten. Von einer Pandemie, ja sogar einer „Tyrannei der Ungeimpften“ ist seitdem die Rede. Eine absurde Situation: Bürger missbilligen in der Öffentlichkeit Mitbürger, weil sie von jenem Recht auf persönliche Entscheidung Gebrauch machen, das ihnen von diesen bisher explizit zugestanden wird, während der Staat seine Überzeugungsarbeit auf ein Minimum beschränkt. Das ist die Vorgeschichte jenes Konflikts, der als „Spaltung“ seit einiger Zeit durch die Talkshows und Zeitungsblätter geistert. Anders als andere Konflikte, wie etwa wirtschaftliche, betrifft dieser allerdings das persönliche Leben in besonderer Weise. Nicht nur, dass es um eine medizinische, also körperliche Maßnahme geht: Die Lebenswelten der Ungeimpften wie der Geimpften sind nachhaltig gestört. Die den bisherigen Winter bestimmenden persönlichen Einschränkungen, Ängste und Auseinandersetzungen im beruflichen und familiären Umfeld greifen viel tiefer, als es mit einer Steuersenkung oder Tarifverhandlung möglich wäre. In einer politischen Auseinandersetzung kann der Mensch in die Rolle des Bürgers schlüpfen, mittelbar regieren und indirekt dafür haften. Verlagert sich die entstandene Zwietracht jedoch ins Private und Allerintimste, so fällt diese Distanzierungsmöglichkeit fort.[4] Keine Verfahren stehen mehr zur Eskalationsbewältigung bereit. Authentisches Empfinden trifft auf authentisches Empfinden. Untätigkeit ist folglich der einfachste Weg, auf dem die Politik ihre Befriedungschance verspielen kann. Aber muss das so bleiben? Ebenfalls seit die Folgen der Pandemie wieder härter durchschlagen, wird über die Einführung einer allgemeinen Impfpflicht gestritten. Sie gehört zu den härteren zur Verfügung stehenden Instrumenten. Dennoch hätte ihr Beschluss mehrere Vorteile: Eine Pflicht ist eindeutig kommunizierbar, verbindet auf dem Weg des Rechtszwangs alle gleichermaßen und ist außerdem von einer politischen Mehrheit gedeckt. Zwar nimmt man so allen, die sich bewusst nicht impfen lassen wollen, ihre Entscheidung ab – doch man befreit sie gleichzeitig von der Prangerwirkung moralischer Argumentation und der Intimerfahrung sozialen Drucks. Impfgegner müssten sich nicht mehr persönlich wehren, sondern als Bürger unter Bürgern um eine Gegenmajorität ringen. Auch alle anderen hätten es dann leichter, nicht nur in Fragen der Pandemiebewältigung. Die Bevölkerungsmehrheit, die eine Impfpflicht unterstützen würde, wäre in Form ihrer parlamentarischen Vertretung selbst politisch verantwortlich. Denn welche Schuldigen wären noch zu finden, sollte die Bekämpfung der Pandemie abermals misslingen – außer eben jene Regierung, deren Entscheidung man ja zuvor selbst bekräftigt hat? Die Einführung einer Impfpflicht böte den Weg der Repolitisierung einer Entscheidung, die unglücklicherweise ins Soziale und Private abgedriftet ist. Doch dafür müsse die Politik sie zuerst als eine politische Frage begreifen … – ist das der Fall? Hört man den Verlautbarungen der neuen Regierung zu, dann muss man diese Frage verneinen. Noch kurz vor offiziellem Amtsantritt sagte Olaf Scholz, er persönlich sei für eine Impfpflicht, möchte die Entscheidung aber dem „Gewissen“ jedes Abgeordneten überlassen.[5] Eine seltsame Formulierung, die der neue Justizminister Marco Buschmann knapp einen Monat später auf noch seltsamere Art und Weise konkretisierte: „Wir werden zu dem Thema keinen Regierungsentwurf erarbeiten. Stattdessen werden die Abgeordneten des Bundestages fraktionsübergreifend Gruppenanträge erstellen, über die sie dann jenseits der Fraktionsbindung beraten und entscheiden werden. Wir haben es hier mit einer Diskussion zu tun, die durchaus vergleichbar ist mit der Sterbehilfe oder dem Schwangerschaftsabbruch, also mit anderen schwierigen und tiefgreifenden medizinisch-ethischen Fragen. Hier kam dieses Verfahren auch zur Anwendung. Schließlich ist die Impfpflicht ein erheblicher Eingriff in die körperliche Integrität. Das vorgeschlagene Verfahren bietet die Gewähr, dass alle Erwägungen ausreichend Raum erhalten – und es vermittelt dadurch im Idealfall eine höhere Akzeptanz. Das Ziel der gesellschaftlichen Befriedung sollten wir bei einer so polarisierenden Frage nicht unterschätzen.“[6] Hier werden keine Argumente für eine politische Entscheidung versammelt, sondern Gründe, wieso es sich gar nicht um eine solche handeln darf. Weil ein „erheblicher Eingriff in die körperliche Integrität“, eine „medizinisch-ethische Frage“ darstellt, sollen traditionelle parlamentarische Gepflogenheiten außer Kraft gesetzt werden: Die Regierung wird keinen Gesetzentwurf einbringen, die Fraktionschefs keine Empfehlungen abgeben und infolgedessen auch Abweichler nicht sanktionieren. Die Koaltionsvereinbarung – „die Koalitionsfraktionen stimmen einheitlich ab“ – wird schlechterdings ignoriert. Alles bleibt dem „Gewissen“ der Volksvertreter überlassen, wie es in Artikel 38 des Grundgesetzes ja seit ehedem so schön heißt. Die Einstufung als „Gewissensfrage“ soll der Rationalität und der „gesellschaftlichen Befriedung“ dienen. Das Verfahren wird in der Bundesrepublik seit den 70er Jahren praktiziert, im britischen Unterhaus schon deutlich länger. Besonders sensible Entscheidungen, die ethische Grundfragen betreffen, sollen die Unterscheidung von Regierung und Opposition transzendieren. Sterbehilfe, Reproduktionsmedizin, die Öffnung Ehe für homosexuelle Paare fielen in den letzten Jahren in diese Kategorie. Und jetzt soll sich einreihen: zur Bewältigung der Pandemie eine Impfpflicht? Passt das? Eher nicht: Die Fragen, für die bisher die „Fraktionsdisziplin aufgehoben“ wurde, wie es zweideutig heißt, waren nicht derart mit dem Auftrag und dem Programm einer gewählten Regierung verknüpft wie diese. Ja, der politische Grund, wieso Fraktionen überhaupt je freiwillig die Zügel fallen gelassen haben, ist stets der gewesen, dass Einigkeit herzustellen in den Augen von Regierung und Wähler keine größere Rolle spielte. Aber wer könnte das über die Bekämpfung einer Pandemie sagen? Ob die Ampel-Koalition diese oder jene Position vertritt – davon hängen im Hier und Jetzt Auskommen, Leben, Zukünfte ab. Man darf daran erinnern: Es geht um die Lösung einer akuten Krise. Auch wenn die Regierung sich hinter der Medizinethik versteckt, scheint sie das insgeheim noch zu wissen. „Der Bundestag sollte schnell entscheiden, ob eine Impfpflicht eingeführt wird“, gab der Justizminister vor wenigen Tagen zu Protokoll.[7] Die Zeit drängt, jede Impfung trägt innerhalb weniger Wochen schon zur Lösung der Krise bei – eigentlich Grund genug für einen Minister, ein entsprechendes Gesetz in den Bundestag einzubringen. Aber was sich wie die Zurschaustellung von Handlungsfähigkeit liest, ist eigentlich ein Bekenntnis selbstverschuldeter Ohnmacht: Der Minister möchte weiterhin auf die freiwillige und spontane, ganz gewissenhafte Zusammenkunft der Abgeordneten warten. Man könnte auch sagen: er möchte gar nicht regieren. Vielleicht weil er Angst davor hat, dass er nicht in der Lage wäre, Fraktionsdisziplin in den eigenen Reihen herzustellen? Immerhin hat Wolfgang Kubicki bereits angekündigt, dass 31 Abgeordnete, beinahe ein Drittel der FDP-Fraktion, gegen die Einführung einer allgemeinen Impfpflicht stimmen werden.[8] Ist die Freigabe der Impfpflicht zur Gewissensentscheidung vielleicht nichts weiter als ein Manöver, um nicht zugeben zu müssen, dass die frisch gewählte Regierung sich schon jetzt ihrer Parlamentsmehrheit nicht mehr sicher sein kann? So oder so: Die Fraktionsdisziplin, das je in sich einheitliche Abstimmen von Regierungs- und Oppositionsabgeordneten, ist keine Daumenregel für nur mittelmäßige, administrative Beschlüsse, wobei sich in besonders umkämpften Zeiten, in Zeiten der Spaltung das Parlament in einen Debattierclub für Ethik-Fragen verwandeln müsste. Im Gegenteil. „Gesellschaftliche Befriedung“, das ist die Grundlehre des parlamentarischen Regierungssystems, wird gerade dadurch erreicht, dass sich eine jeweilige Mehrheit zur Herrschaft berufen fühlt und dafür politisch verantwortbar gemacht werden kann. Die Regierung hängt von ihrer Parlamentsmehrheit ab, und die Parlamentsmehrheit kann nur dann regieren, wenn sie einheitlich abstimmt. Die Opposition wiederum hält sich bereit, um, sollte das Vertrauen bröckeln, selber zur Majorität aufzusteigen und die Kabinettsposten zu besetzen.[9] Das „Gewissen“ des Abgeordneten, das Artikel 38 beschwört, kann gerade auch den Gewissensbiss meinen, den der einzelne Abgeordnete verspürt, wenn er seine persönliche Haltung über die Stabilität der Regierung oder die Schlagkraft der Opposition stellt.[10] Die strenge Unterscheidung von Regierung und Opposition dient also letztlich der Wirksamkeit der Demokratie. Der Wähler weiß auf diesem Weg, welche Abgeordneten die Regierungspolitik unterstützt haben – und welche als Alternative bereitstünden. Wenn er will, kann er die Regierungsfraktionen bei der nächsten Bundestagswahl bestärken. Sollte er unzufrieden sein, wird er seine Stimme einer Oppositionspartei geben. Das Gebaren der Ampel-Koalition verunklart diese Zuordnung: Wählt man zukünftig die FDP, weil man die Impfpflicht für eine gelungene Krisenmaßnahme – oder weil man sie für grundfalsch hält? Wer ist politisch verantwortbar, sollte die Impfpflicht eingeführt werden? Kann die Regierung schuld sein, wenn das Ganze schief geht? – Immerhin waren es spontane Abgeordnetengruppen, die eine Mehrheit zustande brachten. Die „Spaltung“ des Landes, auf die man ängstlich blickt, wird so gerade nicht aufgehoben. Sie wird bloß zugedeckt von der praktischen Pluralität der moralischen Anschauungen im Parlament, die als solche nicht abwählbar sind.[11] Die Mehrheit der Impfpflichtbefürworter kann sich hinter diesem Durcheinander verstecken, während die Impfgegner weiterhin eines politischen Gegners beraubt sind, den sie parlamentarisch bekämpfen könnten. Das gute Gewissen der Befürworter mag die Erklärung zur „Gewissensfrage“ beruhigen – der politischen Befriedung der Krise dient sie gewiss nicht.
[1] Vgl. Bold, Hans (2004): „Parlament, parlamentarische Regierung, Parlamentarismus“, in: Otto Brunner, Werner Conze, Reinhart Koselleck (Hrsg.), Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Bd. 4, Stuttgart: Klett-Cotta, S. 649-676. [2] Vgl. Mueller-Töwe, Jonas (2021): „Bund für Werbung für Corona-Impfkampagne drastisch zurück“, t-online, online verfügbar unter: https://www.t-online.de/nachrichten/deutschland/id_91332412/corona-bund-kuerzte-werbung-fuer-impfkampagne-drastisch-trotz-vierter-welle.html. [3] Vgl. Betsch, Cornelia et al. (2021): „Ergebnisse aus dem COVID-19 Snapshot Monitoring COSMO“, online verfügbar unter: https://projekte.uni-erfurt.de/cosmo2020/files/COSMO_W58.pdf; Bergmann, Michael et al. (2021): „Determinants of SARS-CoV-2 vaccinations in the 50+ population“, online verfügbar unter: https://www.mpisoc.mpg.de/fileadmin/user_upload/MEA_DP_07-2021.pdf; Forsa Ergebnisbericht vom 18. Oktober 2021, online verfügbar unter: https://www.bundesgesundheitsministerium.de/fileadmin/Dateien/3_Downloads/C/Coronavirus/Befragung_Nichtgeimpfte_-_Forsa-Umfrage_Okt_21.pdf. [4] Vgl. Seibt, Gustav (2021): „Nimm das, FDP“, in: Süddeutsche Zeitung Nr. 65 (19. März), S. 9. [5] Vgl. Bild TV (2021): „Scholz im Interview“, online verfügbar unter: https://www.bild.de/video/clip/bild-tv/nach-corona-gipfel-bald-kanzler-scholz-bei-bild-live-78401716.bild.html. [6] Vgl. Budras, Corinna (2021): „,Die Impfpflicht können wir nur stichprobenartig überwachen‘“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 302 (28. Dezember), S. 17. [7] Vgl. Redaktionsnetzwerk Deutschland (2022): „Buschmann: Bundestag soll schnell über allgemeine Impfpflicht entscheiden“, online verfügbar unter: https://www.rnd.de/politik/corona-buschmann-zur-impfpflicht-bundestag-soll-schnell-entscheiden-CILLYFLSYM7KKGL3QHITMUHFJ4.html. [8] Vgl. Marschall, Birgit (2021): „Schon ein Drittel der FDP-Abgeordneten gegen allgemeine Impfpflicht“, RP online, online verfügbar unter: https://rp-online.de/politik/deutschland/ein-drittel-der-fdp-abgeordneten-gegen-allgemeine-impfpflicht_aid-64682709. [9] Vgl. Meinel, Florian (2019): Vertrauensfrage. Zur Krise des heutigen Parlamentarismus, Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung, S. 16-22. [10] Vgl. Klein, Hans H./Schwarz, Kyrill A., in: Dürig/Herzog/Scholz, Grundgesetz, Loseblatt, 95. EL Juli 2021, München: C. H. Beck, Art. 38 Rn. 228 (Stand: Januar 2021). [11] Passend dazu schon 1972 in ähnlichem Kontext: Fromme, Karl Friedrich (1972): „Die Abgeordneten in der Bewährung“, Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 107 (9. Mai), S. 2.: „Beide Vorwürfe [an die Fraktionsdisziplin] zeigen (…), daß die, die sie erheben, das parlamentarische System noch immer nicht verstanden haben. Die Vorstellung von 496 Abgeordneten, die träumerisch den verschlungenen Pfaden ihrer ‚Gewissen‘ folgen, wäre nur eine Vision, und noch nicht einmal eine angenehme, sicherlich nicht eine praktikable.“