Die Wissenschaft des Bestsellers. Eine kurze Geschichte von „Sapiens“

Es ist gerade einmal zehn Jahre her, dass sich ein junger Historiker der Hebrew University Jerusalem auf die Suche nach einem englischsprachigen Verlag machte. Es ging um ein Buchmanuskript, dessen Thema nicht umfassender hätte sein können: eine Geschichte der Menschheit von den allerersten Anfängen in den Steppen Afrikas bis in die Gegenwart. Das Buch trug den Titel From Animals into Gods. Es war das Produkt einer Einführungsveranstaltung zur »Geschichte der Welt«, die der Historiker seit dem Jahr 2002 regelmäßig anbot.

(Dieser Text ist im Novemberheft 2022, Merkur # 882, erschienen.)

Die hebräische Version von From Animals into Gods war bereits auf dem Markt und hatte sich gut verkauft. Die englische Übersetzung, die der Autor selbst erstellt hatte – er wurde an der Universität Oxford in mittelalterlicher Geschichte promoviert –, erwies sich jedoch als Flop. Kein Verlag wollte das Buch im Jahr 2012 ins Programm nehmen. Frustriert über die Flut an Absagen wandte sich der Historiker an CreateSpace.com, einen kalifornischen Selbstverlag aus der Amazon-Gruppe, der Bücher als Print on Demand publizierte. Für Nachfragen fanden die letztlich rund zweitausend Käufer der Ausgabe auf der Titelseite die E-Mail-Adresse des Historikers: yuvalnharari@gmail.com.

Nur ein Jahr nach der gescheiterten Verlagssuche, im Jahr 2013, veröffentlichte die Deutsche Verlags-Anstalt eine Übersetzung mit dem Titel Eine kurze Geschichte der Menschheit. Wiederum ein Jahr später erschien eine neue englische Übersetzung unter dem Titel Sapiens. Auf die Gründe, weshalb dem Buch diesmal ein überwältigender Erfolg beschieden war, wird noch zurückzukommen sein. Fakt ist, dass allein in den ersten fünf Jahren schätzungsweise rund 10 Millionen Exemplare verkauft wurden, das Buch ist mittlerweile in mehr als fünfzig Sprachen lieferbar. Bestseller waren auch der Nachfolger Homo Deus – Eine Geschichte von Morgen sowie die diversen Weiterverwertungen des Originals etwa als Graphic Novel. Sapiens ist zweifellos das erfolgreichste historische Buch der Gegenwart.

Trotz dieser außergewöhnlichen Resonanz haben sich weder die Geschichtswissenschaften noch die Kulturanthropologie bislang ernsthaft mit Yuval Harari auseinandergesetzt. [1. Eine (sehr lesenswerte) Ausnahme: Christian Geulen, Das große Ganze – und seine Didaktik. Über »Big History«. In: Zeithistorische Forschungen, Nr. 17/3, 2020.] Schon die Erwähnung seines Namens ruft bei einem Gespräch in der Konferenzpause oder Kaffeeküche bestenfalls Naserümpfen hervor. Schnell ist man sich einig, dass Sapiens nicht mehr sei als publizistisches Blendwerk: argumentativ flach und grob vereinfachend, im Stil sensationslüstern und effekthascherisch, vom Ergebnis her uninteressant.

Nach außen behandelt die professionelle Community Sapiens so, wie man gewöhnlich mit pseudowissenschaftlichen Werken und Theorien umgeht: mit Nichtbeachtung. Auf H-Soz-Kult, der wichtigsten digitalen Plattform für Historiker im deutschsprachigen Raum, wirft die Suchmaschine für den Namen Yuval Harari gerade einmal rund ein Dutzend Treffer aus (mehrere davon beziehen sich auf seine ins Deutsche übersetzte Dissertation Fürsten im Fadenkreuz). Sapiens, so die implizite Botschaft, ist das Produkt eines globalen Medienhypes, das wenig mit dem zu tun hat, was Historikerinnen und Historiker eigentlich tun.

Fragehorizonte

»Vielleicht ist die Buchkritik einfach das falsche Spielfeld für eine bestimmte Art von Buch.« Mit diesen Worten beendete Timo Luks seine Rezension zu David Graebers und David Wengrows Anfänge, einer kürzlich erschienen Gegenerzählung zur Menschheitsgeschichte à la Harari. [1. Timo Luks, Occupy Everything. David Graebers und David Wengrows Geschichte der Menschheit im Konjunktiv. In: Merkur, Nr. 879, August 2022.] Man kann Luks nur zustimmen. Denn es stellt sich die Frage, ob es wirklich produktiv ist, an Büchern wie Sapiens, Graebers und Wengrows Anfänge – die »Big History«-Bücher von David Christian gehören in dieselbe Kategorie – das endlose Demarkationsspiel durchzuexerzieren, mit dem die Grenze der Wissenschaftlichkeit immer wieder aufs Neue ausgelotet wird.

Sind solche Bücher noch seriöse Wissenschaft? Stimmt ihre Quellenbasis? Berufen sich die Autoren – es sind fast ausschließlich Männer – auf den neuesten Forschungsstand? Das sind allesamt berechtigte Fragen, und es ist wichtig, sie zu stellen. Jedoch zielen sie am Kern des Phänomens selbst vorbei. Denn Bücher wie Sapiens sind Grenzphänomene. Einerseits beziehen sie ihre Legitimation aus dem fachwissenschaftlichen Hintergrund ihrer Autoren; andererseits ignorieren sie bewusst fachwissenschaftliche Konventionen – im genialischen Gestus des wilden Denkens des Bestsellerautors. Anstatt sich also an den auf dem Buchmarkt befindlichen Menschheitsgeschichten im Modus der Buchkritik abzuarbeiten, könnte man auch fragen: Was ist das überhaupt für eine »bestimmte Art von Buch«?

Die Wissenschaftsgeschichte kennt Präzendenzfälle. So haben Alexander W. Daum oder James A. Secord auf die Ursprünge des Genres der populärwissenschaftlichen Menschheitsgeschichten im Dunstkreis von Wissenschaftsstars wie Alexander von Humboldt und Charles Darwin hingewiesen. [1. Alexander W. Daum, Wissenschaftspopularisierung im 19. Jahrhundert. Bürgerliche Kultur, naturwissenschaftliche Bildung und die deutsche Öffentlichkeit, 1848–1914. München: Oldenbourg 2002; James A. Secord, Victorian Sensation: the Extraordinary Publication, Reception, and Secret Authorship of »Vestiges of the Natural History of Creation«. University of Chicago Press 2001.] Diese Bücher leisteten schon im 19. Jahrhundert mehr, als Wissenschaft zu popularisieren und für eine breite Öffentlichkeit aufzuarbeiten. In einer sich rasant wandelnden Medienlandschaft fungierten die populären Bestseller vielmehr als Plattformen für die Interaktion von Universitäts- und Populärwissenschaft, mit deren Hilfe sich bis dahin ungekannte öffentliche Diskurs- und Echoräume für die Wissenschaften eröffneten.

Als aufschlussreich für die Einordnung von Sapiens erweisen sich außerdem Donna Haraways und Erika Milams Einsichten in die kulturanthropologischen Bestseller des 20. Jahrhunderts: Auch wenn diese Bücher von den Ursprüngen der Menschheit handelten, standen sie mit beiden Beinen in ihrer Gegenwart. Man muss sie deshalb als Reaktion auf politische, ökonomische und gesellschaftliche Strukturveränderungen und Machtverhältnisse lesen. [1. Donna Haraway, Primate Visions. Gender, Race, and Nature in the World of Modern Science. New York: Routledge 1989; Erika Lorraine Milam, Creatures of Cain. The Hunt for Human Nature in Cold War America. Princeton University Press 2019.] So sind etwa die Diskurse über »die Menschheit« und die »menschliche Natur«, wie sie in den Vereinigten Staaten während des Kalten Kriegs geführt wurden, ohne die Bedrohung durch den Atomkrieg, die Entstehung des civil rights movement oder die feministische Bewegung gar nicht zu erklären.

Vor diesem Hintergrund ist es erstaunlich, dass sowohl die Wissenschaftsgeschichte als auch die Wissenschaftssoziologie Sapiens bislang ebenfalls ignoriert haben. Denn bei Harari sind die Wissenschaften zentrale Antriebskräfte der Menschheitsgeschichte. Das selektive Bild von Wissenschaft, mit dem er dabei operiert – und das der Erfolg von Sapiens in breite Teile der Öffentlichkeit, Politik und Wirtschaft transportiert hat –, ist einen genaueren Blick wert. Das Buch liefert bei näherem Hinsehen eine historische Genealogie eines bestimmten Modus von Wissenschaft: unternehmerischer, marktkonformer Forschung. Diese Genealogie verzerrt nicht nur das Bild der Vergangenheit, sie hat Konsequenzen für die Wissensproduktion in der Gegenwart – und zwar nicht zuletzt bei Harari selbst. Denn zur unternehmerischen Wissenschaft gehört auch eine Privilegierung von angewandt-naturwissenschaftlicher gegenüber geisteswissenschaftlicher Forschung. Im Unterschied zu kulturhistorischen Büchern ist Sapiens über weite Strecken ein Produkt natur- und technikwissenschaftlicher Wissensproduktion.

Geschichte als Geschäftsmodell

Kurz nachdem Harari die erste englische Fassung seines Manuskripts (selbst)publiziert hatte, nahm sich die israelische Buchagentin Deborah Harris des Projekts an. Harris änderte den Titel, gab eine professionelle Übersetzung in Auftrag und schlug einige Änderungen vor. Sie brachte Sapiens bei den großen englischsprachigen Verlagshäusern Harvill Secker (aus der Gruppe Penguin Random House) und HarperCollins unter und fädelte die deutsche Übersetzung ein.

Das Buch wurde jedoch weiterhin nicht breit wahrgenommen, da es sich nicht in die eingespielten Mechanismen der Bestsellerindustrie einfügte. Die prestigeträchtigen Rezensionsorgane wie die New York Times oder die New York Review of Books ignorierten Sapiens genauso wie Hararis Kollegen aus den Geschichtswissenschaften und der Anthropologie. Dafür fand das Buch ein großes Echo im Tech-Sektor. 2015 präsentierte Harari eine siebzehnminütige Kurzversion des Buchs als TED-Talk mit dem Titel Why humans run the world. Das Video ging viral. Kurze Zeit später empfahl Bill Gates Sapiens als Sommerlektüre, Mark Zuckerberg und Barack Obama sprachen ebenfalls Empfehlungen aus. Seitdem finden sich Hararis Werke weltweit in den Bücherregalen von Studierenden aus den Ingenieurs- und Naturwissenschaften, wo sie einen fast bibelartigen Status einnehmen. [1. Was ich aus eigener Erfahrung bestätigen kann: Dieser Text entstand im Nachgang zu einem Seminar zu Sapiens, das ich im Winter 2021/22 an der ETH Zürich gehalten habe, das größtenteils von Studierenden der Natur- und Ingenieurswissenschaften besucht wurde.]

Der enorme Einfluss von Hararis TED-Talk auf die Verbreitung des Buchs gibt uns wichtige Hinweise auf die Mediendynamiken hinter dieser »bestimmten Art von Buch«. TED ist ein Produkt der Goldgräberstimmung im Tech-Sektor an der US-amerikanischen Westküste der 1980er Jahre. Gegründet im Jahr 1984, war es als Diskussions- und Werbeplattform für die Unternehmer des Silicon Valley konzipiert. Von Beginn an kreisten die Talks um neue Geschichte(n) und Narrative. Denn um mit Technologien die Zukunft zu verändern und mit den entsprechenden Geschäftsideen Geld zu machen, mussten neue Meta-Erzählungen her. In einem der ersten TED-Talks ging es beispielsweise um die Compact Disc (CD) als kulturverändernde Kraft. In einer kurzen Geschichte des TED-Talk bringt der Journalist Oscar Schwartz das »TED episteme«, wie er es nennt, auf die Formel: »Geschichten über die Zukunft machen die Zukunft.« [1. Oscar Schwartz, What Was the TED Talk?​ In: The Drift, Nr. 6 vom 31. Januar 2022 (www.thedriftmag.com/what-was-the-ted-talk/).] Die Verschränkung von Gesellschaftsvision und Marketing ist bis heute ein wiederkehrendes Merkmal der TED-Talks.

Folgen, die sich wie Hararis Why humans run the world mit dezidiert historischen Themen auseinandersetzen, zielen gewöhnlich auf das große Ganze. Nicht zufällig wurden sie dadurch zu einem Katalysator der »Big History«-Bewegung, deren Ursprünge in den 2000er Jahren liegen. Einer ihrer wichtigsten Protagonisten, der australische Historiker David Christian, präsentierte vier Jahre vor Harari, im März 2011, einen äußerst erfolgreichen TED-Talk mit dem Titel The history of our world in 18 minutes. Darin zeichnete er eine »komplette« Geschichte des Universums vom Urknall bis zum Internet nach. Seine Bücher finden sich heute regelmäßig auf den Ladentischen neben denen Hararis. Christian hat es wie kaum ein anderer verstanden, aus der (großen) Geschichte Geld zu machen. Dafür adaptiert er die Geschäftsmodelle digitaler Unternehmen. Neben seinen Büchern tourt er mit kostspieligen Präsentationen und Seminaren um die Welt und bietet Online-Kurse für ein globales Publikum an.

Geschichte in ein Geschäftsmodell zu verwandeln, ist auch eine der größten Leistungen Hararis. Mit Sapiens mutierte er von einem spezialisierten Fachhistoriker und respektierten Experten im Bereich der mittelalterlichen Militärgeschichte zu einem geisteswissenschaftlichen Unternehmer. Die Geschichte und Zukunft der Menschheit steht auch im Zentrum seines historischen Start-ups, der Yahav-Harari Group. Deren ausschließlicher Zweck besteht darin, seine Bücher zu vermarkten, Medienauftritte zu koordinieren, die Marke Harari zu pflegen und neue Absatzmärkte – etwa im Bereich von Kinder- und Schulbüchern – zu erschließen.

Diese privatwirtschaftliche Aktivität hat starken Einfluss darauf, wie Harari seine Rolle als Historiker interpretiert. Zwar bietet er weiterhin Kurse in Weltgeschichte an der Hebrew University an, ansonsten bringt er sich kaum in den akademischen Betrieb ein. Harari betreut keine Master- oder Doktorarbeiten, kümmert sich wenig um den Institutsalltag und hat schon seit Jahren an keiner Fachkonferenz mehr teilgenommen. Seine ganze intellektuelle und soziale Energie fließt in die Yahav-Harari Group.

Trotzdem wäre es zu kurz gegriffen, Harari und die »Big History«-Bewegung als reines Marktphänomen abzutun. 2014, parallel zur Veröffentlichung der englischen Ausgabe von Sapiens, publizierten die Historikerin Jo Guldi und der Historiker David Armitage ihr vielbeachtetes Buch History Manifesto. [1. Jo Guldi /David Armitage, The History Manifesto. Cambridge University Press 2014.] Die Herausforderungen des Anthropozän und die vielfältigen gesellschaftlichen Krisen der Gegenwart erforderten, so die Autoren, ein radikales Umdenken im Fach. Auch sie waren der Ansicht, dass die großen Linien der Geschichte mehr Aufmerksamkeit verdienten.

Das Echo im Fach war geteilt. Im angloamerikanischen Raum löste das Manifest zwar durchaus einige Debatten aus, das von Guldi und Arnitage erhoffte innerakademische Erdbeben jedoch blieb aus. Bis heute ist »Big History« vor allem ein populärwissenschaftliches Phänomen. Dennoch sind solche Parallelentwicklungen ein Indiz dafür, dass die Grenzen zwischen Wissenschaft und Buchmarkt auch hier durchlässiger sind, als es auf den ersten Blick wirken mag. Nicht zufällig erscheinen Hararis deutsche Übersetzungen mittlerweile im renommierten Verlag C.H. Beck.

Die wissenschaftliche Revolution

»[D]ie wissenschaftliche Revolution, die vor knapp 500 Jahren ihren Anfang nahm, könnte das Ende der Geschichte und der Beginn von etwas völlig Neuem sein.« Diesen Satz finden die Leser von Sapiens gleich auf der ersten Seite. Die wissenschaftliche Revolution des 16./17. Jahrhunderts war demnach die jüngste von drei menschheitsgeschichtlichen Revolutionen: Sie folgte auf die »kognitive Revolution« (die kognitive Menschwerdung des Homo sapiens vor etwa 70 000 Jahren) und die »landwirtschaftliche Revolution« im Neolithikum. Die wissenschaftliche Revolution – das ist bei Harari die klassische Erfolgsgeschichte westlich-abendländischer Wissenschaft, ausgelöst von großen Vordenkern wie Francis Bacon und Isaac Newton. Allerdings erzählt Harari diese Geschichte in einer düsteren Variante. Erst durch den europäischen Kolonialismus und Imperialismus, den Aufstieg des Kapitalismus und schließlich durch die Macht des »militärisch-industriellen Komplexes« im 20. Jahrhundert habe sich die wissenschaftliche Revolution global durchsetzen können und menschheitsprägende Kraft entfaltet.

Aus geschichtswissenschaftlicher Perspektive ist ein solches Masternarrativ mehr als überraschend. Wissenschaftshistoriker, deren Schriften Harari mit Sicherheit gut kennt, warnen seit langem davor, die Bedeutung der wissenschaftlichen Revolution zu überschätzen. Einige stellen sogar infrage, ob es diese wissenschaftliche Revolution überhaupt gegeben habe. So lautet die provokative erste Zeile des wegweisenden Buchs von Steven Shapin aus dem Jahr 1996: »There was no such thing as the Scientific Revolution, and this is a book about it.« [1. Steven Shapin, The Scientific Revolution. University of Chicago Press 1996.]

Shapin argumentiert, dass das Konzept der wissenschaftlichen Revolution überhaupt erst in den 1920er und 1930er Jahren von Philosophen und Historikern wie Alexandre Koyré entwickelt worden sei, um damalige Entwicklungen im Bereich der Wissenschaften in die Vergangenheit zu projizieren. Um 1660 jedoch, als die Royal Society in London gegründet wurde, habe eine Vielzahl unterschiedlicher Formen der Wissensproduktion gleichberechtigt nebeneinander existiert. Die meisten von ihnen, wie beispielsweise die Naturgeschichte oder die Naturphilosophie, fügten sich weder in das strenge Raster der »wissenschaftlichen Methode« noch waren sie sonderlich modern. [1. Vgl. auch neuerdings Henry M. Cowles, The Scientific Method. An Evolution of Thinking from Darwin to Dewey. Cambridge /Mass.: Harvard University Press 2020.] Tatsächlich gilt das bis heute für viele Bereiche der Naturwissenschaften.

Geschichten der wissenschaftlichen Revolution handeln also meist mehr von der Gegenwart als von der Vergangenheit. Dies wiederum wirft ein anderes Licht auf Sapiens. Was gilt für Harari überhaupt als Wissenschaft? Und welche aktuellen Trends in den Wissenschaften hat er im Blick? Harari gibt darauf mehrere, für seine Verhältnisse erstaunlich explizite Antworten und Hinweise (normalerweise scheut er klare Definitionen). Denn moderne Wissenschaft zeichnet sich bei ihm durch drei konstitutive Merkmale aus. Erstens gesteht sie sich ihre eigene Unwissenheit ein (die Popper’sche Falsifikationsformel: Eine Theorie kann jederzeit widerlegt werden). Zweitens werden in der modernen Wissenschaft empirische Beobachtungen gesammelt und mathematisch verarbeitet. Drittens sind Wissensproduktion und Technologieentwicklung eng aneinandergekoppelt. Darüber hinaus hat moderne Wissenschaft laut Harari einen besonderen Auftrag: die Überwindung des Todes. »Das wichtigste Projekt der wissenschaftlichen Revolution«, so schreibt er, »ist das ewige Leben für den Menschen.«

Spätestens an diesem Punkt wären wir wieder bei der Tech-Industrie angelangt. Denn es wäre mehr als gewagt zu behaupten, die Untersterblichkeitsforschung sei eines der »wichtigsten Projekte« der Wissenschaften in den vergangenen Jahrhunderten gewesen. Davon kann frühestens seit den 1990er Jahren die Rede sein. Forschungen zur Lebenserwartung, lebensverlängernden Maßnahmen und zur »Unsterblichkeit« boomen international und speziell an der US-amerikanischen Westküste.

2013, als Harari die englische Version seines Manuskripts überarbeitete, investierte beispielsweise Google rund eine Milliarde Dollar in Calico Life Sciences. Das ist in etwa der Betrag, den der Schweizer Staat pro Jahr der ETH Zürich überweist. Mittlerweile konkurrieren Hunderte von Biotech-Start-ups um Forschungsgelder und Patente im Bereich der Unsterblichkeitsforschung in Europa und Nordamerika. Selbst die Max-Planck-Gesellschaft und die Fraunhofer-Gesellschaft sind in den Wettbewerb eingestiegen – ein Phänomen, das inzwischen auch die Aufmerksamkeit von Wissenschaftssoziologen und Journalisten auf sich gezogen hat. Die Unsterblichkeitsforschung erfüllt genau den Kriterienkatalog, den Harari für moderne Wissenschaft postuliert: Sie lebt mit viel Unwissen, mit dem sich nebenbei auch jede Menge Geld verdienen lässt; sie ist empirisch, daten- und mathematikaffin; sie geht mit teuren Technologieentwicklungen einher.

Dass Harari mit seiner Definition von Wissenschaft eine bestimmte Ausprägung von Wissenschaft in der Gegenwart privilegiert, erklärt die große und begeisterte Resonanz auf seine Bücher in der Tech-Industrie und dem Biotech-Sektor. In Sapiens werden die Erfinder von iPhones, selbstfahrenden Autos, Anti-Aging-Pillen und Pflegerobotern zu menschheitsgeschichtlichen Akteuren. Wer liest so etwas nicht gerne über sich selbst? Aber es geht an dieser Stelle nicht nur um Eitelkeiten, sondern auch um den richtigen Zeitpunkt. Sapiens kam in einem Moment auf den Markt, als sich das einst so strahlende (Selbst)Bild der Tech-Branche und der New Economy schlagartig verdunkelte. Dies zeigt sich an keinem Ort besser als im Silicon Valley.

Bis in die frühen 2010er Jahre kreiste die massenmediale Darstellung des Valley meist um Figuren wie Steve Jobs, der das Erfolgsmodell der Tech-Industrie wie kein anderer zu verkörpern schien: vom Hippie zum erfolgreichen Unternehmer. Inzwischen dominieren struktureller Sexismus und Rassismus, der Kampf gegen Gewerkschaften und die Allianz mit dem Rechtspopulismus die Schlagzeilen. An die Stelle von Steve Jobs sind Peter Thiel oder der notorisch reaktionäre Elon Musk gerückt. Sapiens hingegen erzählt die alte Geschichte vom Valley noch einmal neu – als Menschheitsgeschichte.

Dahinter verbirgt sich ein breiteres Rezeptionsmuster. Hararis Bücher wurden genau in dem Jahrzehnt zu Bestsellern, als die Welt und speziell »der Westen« immer tiefer in einem dystopischen Alptraum versank: Finanzkrise, das Wiedererstarken nationalistischer und rechtspopulistischer Strömungen, »Flüchtlingskrise«, Klimakrise – und dann noch eine Pandemie. Sapiens vermittelte hingegen eine simple und hoffnungsvolle Botschaft: Der Westen hat es vermasselt, aber der Westen kann »uns« noch retten. Denn am Ende des Tunnels leuchtet genau jenes Licht, das die ganze Misere mitverursacht hat: die Wissenschaft, in Allianz mit der Industrie. Solche Botschaften treffen bei vielen Entscheidungsträgern aus Politik und Wirtschaft auf offene Ohren. Nicht umsonst ist Harari ein gerngesehener Gast und Redner auf dem World Economic Forum in Davos. Die englische Ausgabe wirbt auf dem Buchrücken mit Barack Obamas Leseempfehlung: »Interesting and provocative […] It gives you a sense of perspective on how briefly we’ve been on this Earth.«

Helden der neunziger Jahre

Zur wissenschaftlichen Buchkritik gehört traditionellerweise ein kritisches Studium der Fußnoten. Dass man damit bei Harari und vielen anderen menschheitsgeschichtlichen Bestsellern nicht weit kommt, klang bereits an. Dennoch ist bei einem Blick in den Anmerkungsapparat auffällig, wie wenig sich der gelernte Historiker in Sapiens auf geisteswissenschaftliche und speziell auf historische Forschung bezieht – immerhin behandeln große Teile des Buchs Themen der Kulturgeschichte. Neben Referenzen zu einigen Werken der »World History« finden sich dort vor allem Verweise auf naturwissenschaftliche Literatur.

Man kann es nicht anders sagen: Harari glaubt an die Naturwissenschaften und speziell an die Biologie. Einer seiner Helden ist Robin Dunbar, ein Evolutionspsychologe aus Oxford, der Mitte der neunziger Jahre mit einer Theorie des gossip als prägendem Faktor der Gesellschaftsbildung bekannt wurde. [1. Robin Dunbar, Grooming, Gossip, and the Evolution of Language. Cambridge /Mass.: Harvard University Press 1996.] Für Harari sind biologische (oder biologisch informierte) Theorien wie diese objektive Gewissheiten, die etwas über die »Natur« des Menschen aussagen. Demgegenüber positioniert er ganz traditionell die »Kultur«. Hararis Kulturbegriff ist, wie der Philosoph Gernot Böhme beobachtet hat, [1. Gernot Böhme, Yuval Noah Harari ist der Pop-Star unter den Historikern. In: NZZ vom 15. Januar 2022 (www.nzz.ch/feuilleton/yuval-noah-harari-ist-der-pop-star-unter-den-historikern-aber-im-grunde-versteht-er-sich-als-prophet-seine-vision-er-erkennt-warum-es-mit-dem-menschen-zu-ende-geht-ld.1663934).] erstaunlich platonistisch. Kultur ist das, was Menschen sich ausdenken: Imaginationen, Fantasien, Fiktionen.

Welche kulturtheoretischen oder -wissenschaftlichen Überlegungen ansonsten in Sapiens miteingeflossen sind und ob es solche Überlegungen überhaupt gab – darüber schweigt sich Harari größtenteils aus. An den wenigen Stellen, an denen er expliziter wird, kommen jedoch überraschende Theorieeinsätze ans Tageslicht. Eine davon ist die Memtheorie. Wenigen Geisteswissenschaftlern wird sie heute noch etwas sagen, aber sie hatte ihren kurzen Moment des Ruhms Mitte der 1990er Jahre. Ihre Ursprünge lagen rund zwanzig Jahre vorher an der Schnittstelle von Soziobiologie, Evolutionstheorie und populärem Buchmarkt.

Den Begriff »meme« (altgriechisch für »nachgeahmtes Ding«) prägte Richard Dawkins in seinem Beststeller Das egoistische Gen aus dem Jahr 1976. Dawkins verstand unter »meme« eine Einheit der kulturellen »Evolution«, die mit dem Gen vergleichbar ist. Sein Ziel war es, zu zeigen, dass sich bestimmte Prinzipien der natürlichen Evolution – wie die »egoistische« Replikation von Genen – auf kulturelle Entwicklungen übertragen ließen. In den 1980er Jahren gewann die Memtheorie an Fahrt, denn sie resonierte mit den damaligen Diskussionen um die »Wissensgesellschaft« und »Informationsgesellschaft«.

In den 1990er Jahren formierte sich sogar für einige Jahre ein interdisziplinäres Forschungsfeld mit der Bezeichnung »memetics«, das allerdings größtenteils im paraakademischen Bereich und in der Nähe des Tech-Sektors angesiedelt war. Richard Brodie, der Programmierer von Microsoft Word, veröffentlichte beispielsweise 1996 sein »memetisches« Buch Virus of the Mind. Drei Jahre später erschien der Band The Meme Machine der Psychologin Susan Blackmore, der für einiges Aufsehen sorgte. Rückblickend war die Memtheorie ein Versuch, eine neue Art von Kulturtheorie zu entwickeln – auf Basis naturwissenschaftlicher Forschungen.

Die Memtheorie ist bis heute im Tech-Sektor und unter Studierenden der Natur- und Ingenieurswissenschaft beliebt. Im Bereich der Geisteswissenschaft hat die Memtheorie allerdings kaum je Fuß fassen können. Ihr Hauptproblem besteht darin, dass sich mit der »Replikation« von »memes« grundsätzlich alles erklären lässt – und nichts. Kulturwissenschaftlich ist die Memtheorie de facto unbrauchbar. Sie gilt inzwischen innerhalb der Wissenschaftssoziologie als Beispiel für ein gescheitertes Forschungsfeld und als Produkt bestimmter intellektueller Hypes im Umfeld der Dotcom-Blase der 1990er Jahre. Sie war damals Teil eines breiteren Diskurses über »kulturelle Evolution«, der vor allem in den Feuilletons und auf dem populären Buchmarkt geführt wurde.

Im angloamerikanischen Raum war dieser Diskurs eng mit dem Literaturagenten John Brockman und seinem Buch Die dritte Kultur (1995) verbunden, im deutschsprachigen Raum mit Frank Schirrmacher und der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Der Diskurs über »kulturelle Evolution« hat bis heute im Format der TED-Talks überlebt – und eben in den menschheitsgeschichtlichen Bestsellern. Der starke Glaube an die Naturwissenschaften und der Wunsch, »Kultur« über die Naturwissenschaften zu erklären, ist dabei kein Alleinstellungsmerkmal Hararis, sondern ein genretypisches Phänomen. Die Versprechen der neunziger Jahre sind offenbar nicht so leicht totzukriegen.

Der Historiker als Unternehmer

Seit dem 19. Jahrhundert hat jede Zeit ihre menschheitsgeschichtlichen Bestseller. Von der populären Evolutionstheorie und der Neanderthal-Literatur des Kaiserreichs über Oswald Spenglers Untergang des Abendlandes (1918), Loren Eiseleys The Immense Journey (1957) oder Konrad Lorenz’ Das sogenannte Böse (1963) in den Nachkriegsjahrzehnten bis hin zu den jüngeren Bestsellern von Richard Dawkins oder Jared Diamond. Die Geschichte der menschlichen Natur ist selbst historisch, und Hararis Bild von Wissenschaft ist einer jener Momente, wo seine eigene Zeitgebundenheit besonders augenfällig wird.

Wissenschaft ist bei Harari nicht nur das, was sich in sein (recht spezielles) Raster der »wissenschaftlichen Revolution« fügt. Als wissenschaftlich gelten bei ihm vor allem jene Bereiche von Forschung, die er als zukunftsweisend betrachtet, und die findet er vornehmlich im Tech-Sektor. Durch diese Perspektivierung ist Wissenschaft bei Harari auch historisch nicht an den Universitäten oder im akademischen Betrieb zuhause, sondern wird maßgeblich von industrieller und »angewandter« Forschung vorangetrieben. Die »unternehmerische« Wissenschaft, deren Geschichte Harari in Sapiens nachzeichnet und deren Ergebnisse er selbst rezipiert, ist im Kern ein neoliberales Projekt: Sie funktioniert nach der Logik des Marktes, folgt dem Paradigma der Innovation und legitimiert sich durch ökonomischen und sozialen »impact« statt durch epistemische Tugenden wie Wahrheit, Evidenz oder Objektivität.

Damit schwimmt Harari im Mainstream der gegenwärtigen Wissenschafts- und Universitätspolitik. Überall auf der Welt – und insbesondere in Nordamerika und Europa – huldigen Entscheidungsträger aus Politik und Wissenschaft trotz der Erfahrungen mit der Dotcom-Blase und der Finanzkrise dem unternehmerischen Geist. Die boomende Industrieforschung zieht weiterhin öffentliche Forschungsgelder in die Privatwirtschaft. Biotechnologie, Robotik oder AI-Forschungen setzen damit das traditionelle Modell, nach dem im Zentrum wissenschaftlicher Aktivität die Universität oder das unabhängige Forschungsinstitut stehe, unter Druck.

Betrachtet man diese Entwicklung zusammen mit dem Erfolg von Sapiens, wird eine interessante Verschiebung deutlich: Harari beschreibt und affirmiert den Erfolg moderner, angewandter Naturwissenschaft aus einer spezifischen Warte, denn im Gegensatz zu den meisten anderen Autoren menschheitsgeschichtlicher Bestseller ist er weder Biologe noch Ethnologe oder Kulturanthropologe. Harari ist weiterhin professioneller Historiker. Mit seinem kometenhaften Aufstieg hat er es geschafft – in seiner Radikalität vielleicht sogar als Erster –, das unternehmerische Modell von Wissenschaft, das er historisch beschreibt, selbst zu performen und auf die Geisteswissenschaften anzuwenden.

Gerade weil sich Sapiens im Grenzbereich von Wissenschaft und (Buch)Markt bewegt, lassen sich bestimmte Facetten des Phänomens Harari längst auch im innerakademischen Bereich beobachten. Mit seiner Hinwendung zu den Naturwissenschaften liegt er beispielsweise im Trend gegenwärtiger Methodenentwicklungen in den Sozial- und Geisteswissenschaften. »Big History« ist hier nur eines von vielen Beispielen. Inzwischen gibt es eine Reihe von »interdisziplinären« Forschungsfeldern, die sich, ähnlich wie in den 1990er Jahren, die Überwindung der Grenze von Natur- und Geisteswissenschaften zum Ziel setzen.

Man erkennt sie gut daran, dass sie die Geisteswissenschaften im Namen tragen, jedoch als kleine Schwester eines Gegenstands aus den Natur- oder Ingenieurswissenschaften: »digital humanities«, »environmental humanities«, »medical humanities«. Jedes dieser Felder hat eine eigene Agenda und seine eigene Legitimation, aber was sie gemeinsam haben, ist die Sehnsucht nach den großen Fragen, ein hohes Vertrauen in naturwissenschaftliche Forschung und eine Präferenz für ethisch-philosophische Lösungsansätze (statt geschichtlichen Erklärungen).

Das prominenteste Beispiel für diese neue Form naturwissenschaftsnaher Geisteswissenschaften aus dem Bereich der Geschichte ist zweifellos der Diskurs um das Anthropozän. Nicht zufällig ist die Rolle von professionellen Historikern darin weitgehend unklar. Meist entscheiden sie sich dafür, das »big picture« zu liefern, also die großen historischen Linien aufzuzeigen. Vor zwei Jahren veröffentlichte etwa Jürgen Renn, Direktor des angesehenen Max-Planck-Instituts für Wissenschaftsgeschichte, sein Opus magnum über Wissenschaft im Anthropozän. [1. Jürgen Renn, The Evolution of Knowledge. Rethinking Science for the Anthropocene. Princeton University Press 2020 (Die Evolution des Wissens. Eine Neubestimmung der Wissenschaft für das Anthropozän. Berlin: Suhrkamp 2022).] Diese »Evolution des Wissens« begann laut Renn irgendwo in den tiefen Anfängen der Menschheitsgeschichte. Und genau hier zeigt sich eine auffällige Familienähnlichkeit mit den Diskursen um die »kulturelle Evolution« seit den 1990er Jahren, an die Harari anschloss. Wie wissenschaftspolitisch erfolgreich die Diskurse um kulturelle Evolution sind, verdeutlicht nicht nur der publizistische Erfolg von Sapiens, sondern auch der Umstand, dass Renn inzwischen Gründungsdirektor eines weiteren Max-Planck-Instituts ist, das derzeit in Jena entsteht: des Max-Planck-Instituts für Geoanthropologie.

Wenn uns die Geschichte des anthropologischen Bestsellers eines lehrt, dann ist es die Erkenntnis, dass »big histories« meist weitreichende politische Implikationen haben. Aus Hararis Menschheitsgeschichte spricht beispielweise eine Forderung, die von vielen Entscheidungsträgern aus Politik, Wirtschaft und Industrie seit den achtziger und neunziger Jahren propagiert wird: marktgesteuerte, industrienahe und zukunftsorientierte Formen der Wissensproduktion als Goldstandard zu etablieren. Ein Nebeneffekt dieser Entwicklung ist, dass die Geisteswissenschaften in fast allen Ländern Europas und in Nordamerika unter enormen Legitimations- und Finanzierungsdruck geraten sind. Was genau ist der »impact« einer historischen Untersuchung?

So betrachtet ist Sapiens in gewisser Hinsicht wirklich visionär, aber nicht weil es uns stichhaltige Indizien an die Hand gäbe, wie die Geschichte der Menschheit aussah. Es verkörpert vielmehr einen neuen Modus von Geisteswissenschaft zwischen Buchmarkt, TED-Talks, Social Media, Start-up-Kultur, Universität und Forschungsevaluation. Diesen Modus projiziert Harari in die Vergangenheit. Man kann Sapiens damit auch als Bauanleitung für eine mögliche Zukunft der historischen Geisteswissenschaften betrachten – für manche wohl eher eine dystopische Zeitreise: Der Historiker wird zum Unternehmer.